# taz.de -- Parteiprogramme für die Bundestagswahl: Koalition mit Weitblick | |
> Es braucht eine Regierung, die Visionen für die nächsten Jahrzehnte | |
> mitbringt. Drängende Fragen wie Klima und Migration müssen angepackt | |
> werden. | |
Bild: Welche Koaltion hat eine Antwort auf die drängenden Fragen? | |
Drei Anwärter aufs Kanzleramt krebsen um die 20-Prozent-Marke, keine drängt | |
sich als überzeugende Nachfolgerin Angela Merkels auf. [1][Baerbock] | |
schreibt ab, [2][Laschet] boxt, [3][Scholz] isst Currywurst – mit solchen | |
Petitessen verkauft man Wähler für dumm. Wer ohne Spitzenkandidaten nicht | |
auszukommen meinte, weiß jetzt, was man sich damit einbrockt. Vergessen wir | |
das glücklose Trio und wenden uns dem Wesentlichen zu: einer | |
„Deutschlandkoalition“, die diesen Namen verdiente. | |
Gemeint ist nicht Schwarz-Rot-Gelb, wie gerade das „[4][Land der | |
Frühaufsteher]“ vorexerziert: Ein Kanzler Armin Laschet mit Olaf Scholz als | |
Vize und Christian Lindner als Vizevize wäre der schlimmstmögliche Rückfall | |
in die Bonner Republik, ein lustloses Besitzstandswahrer-Trio, dessen | |
Parteien in den letzten Dekaden alles verbaselt haben, was anstand: eine | |
zupackende Umweltpolitik, die Sicherung des Generationenvertrags, | |
transparente und sichere Kommunikationsinfrastrukturen, eine humane | |
Migrationspolitik. | |
Und die Europa praktisch im Stich gelassen haben. Eine solche | |
Deutschlandkoalition fiele in den Geisteszustand zurück, den Jürgen | |
Habermas einmal [5][DM-Nationalismus] genannt hat. Wer am 26. September | |
auch immer die Nase vorn haben wird: Eine bessere Deutschlandkoalition | |
blickt über den Tellerrand der deutschen Provinz hinaus und findet mit | |
einer immer noch starken Bürgergesellschaft heraus, wie dieses Land und die | |
Welt 2030, 2040, 2050 … aussehen sollte. | |
Kerngrößen sind der [6][Klimawandel] und das [7][Artensterben]. Dabei zählt | |
allein, wer die besten Konzepte für einen grünen New Deal vorweisen kann. | |
Große Teile der Gesellschaft und Wirtschaft sind willens, Technologien und | |
Investitionsfonds stehen bereit, ebenso schlüssige Roadmaps der | |
Denkfabriken – es fehlt eine parlamentarische Mehrheit, die das | |
Jahrhundertvorhaben der Dekarbonisierung mutig und mutmachend vorantreibt. | |
## Erderwärmung ist endlich zentrales Thema | |
Alle reden vom Klima, endlich. Aber zu reden wäre nun auch darüber, wie | |
eine Generation, die schon als verlorene gehandelt wird und sich zum Teil | |
selbst keine Zukunft gibt, zurück ins Spiel kommen kann. Ein umfassender | |
Generationenvertrag sichert nicht nur die Renten von morgen, er schafft | |
heute auch die Spielräume für demokratische Beteiligung, für das | |
bürgerschaftliche Engagement in den Gemeinden und im globalen Kontext. | |
Er sichert den Jüngeren interessante und sinnvolle Arbeit, aufregende | |
Ausbildungsgänge und nachhaltige Start-ups, die auch Familie und Beruf | |
besser vereinbar machen. Der laufende Wahlkampf ist verzerrt durch | |
Desinformationskampagnen und Sensationsgeilheit, im Fernsehen wie in den | |
sozialen Medien. | |
Zur Wahl steht also auch, wer die besten Ideen für alternative Plattformen | |
hat, die das Netz nicht wenigen Monopolisten überlassen, sondern eine | |
öffentlich-rechtliche Medienlandschaft 2.0 schaffen, die statt Fake News | |
Wahrheitssuche und statt Verschwörungen Sinn für die Wirklichkeit verbürgt. | |
Schwarz-Rot-Gelb will das Internet nur schneller machen, dabei muss es vor | |
allem transparenter, diskursiver und gemeinnütziger werden. | |
Last not least: Migration. Die Europäische Union muss angesichts der | |
[8][menschlichen Katastrophen im Mittelmeer], im Mittleren Osten und in | |
Afrika zu einer gemeinsamen und humanitären Asyl- und Einwanderungspolitik | |
finden, ohne nur allgemein von „offenen Grenzen“ zu postulieren. Das | |
europäische Haus braucht Migrantinnen und endlich Türen, die sich | |
nachvollziehbar öffnen oder schließen. Das Mantra „[9][2015 vermeiden“] | |
zeigt, woran Schwarz-Rot-Gelb anknüpfen würde. | |
## Abschieben, als die Taliban vor Kabuls Toren standen | |
Als die Taliban schon vor der Tür standen, wollte das Innenministerium noch | |
geflüchtete Afghanen nach Hause fliegen, mit Flugzeugen, die das | |
Außenministerium seinen loyalen Ortskräften vorenthielt! Wir wissen, dass | |
Personen in der Politik mehr als Programme zählen. Doch die | |
pseudomonarchische Zuspitzung ist völlig aus der Zeit gefallen. Alle sind | |
angetan von Netzwerken, Plattformen und Schwarmintelligenz – und fallen | |
dann auf eine Personalisierung zurück, die sie gleich wieder dementieren. | |
Denn Schwarze und Grüne haben eben nicht ihre besten und zugkräftigsten | |
Spitzenleute ausgesucht, und die Notlösung Scholz fährt im Schatten von | |
Angela Merkels Anti-Charisma. Wer wie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel | |
Macron erst mit einer Bewegungspartei frischen Wind bringt und dann den | |
einsamen Monarchen gibt, bekommt es mit einer Bande antipolitischer | |
Nihilisten (zu Deutsch: „Querdenker“) zu tun, die am Ende rechtsradikalen | |
Volkstribunen hinterherläuft. | |
Das demokratische Gegenstück zur Autokratie beginnt schon mit der | |
politischen Form, die auch im Wahlkampf kollaborative Teams in Szene setzt | |
und inhaltliche Koalitionen schmiedet. Was der reaktionären | |
Deutschlandkoalition inhaltlich fehlt, sieht man vor allem an ihrem | |
geopolitischen Provinzialismus: Sie hat keine Idee von der Rolle | |
Deutschlands in Europa und der Welt. | |
Die Koinzidenz von Pandemie und Extremwetter, der Niederlage in Afghanistan | |
und der Implosion der Europäischen Union ist kein Zufall, sie verlangt nach | |
einer gründlichen Reflexion der normativen und institutionellen Grundlagen | |
der westlichen Bündnisse. Das Pendant zum DM-Nationalismus war Kohls | |
bornierte „Scheckbuchdiplomatie“ mit dem bequemen Verweis auf die deutsche | |
Vergangenheit. | |
Kürzlich hat ein vom Bundestag beauftragter Bürgerrat Vorschläge | |
unterbreitet, wie die Europäische Union wieder Einfluss gewinnen kann und | |
die Gemeinsamkeit der Demokratien gegen die völkisch-autoritäre Versuchung | |
wachsen kann, die in Polen und Ungarn Regierungsgewalt bekommen hat und | |
überall ihr Störpotenzial entfaltet. Und die Diktatoren wie Putin, Erdoğan | |
und Jinping etwas entgegenzusetzen hat. Nur wer dazu Substanzielles | |
beizutragen hat, ist wählbar – ganz unabhängig von den „Spitzenleuten“. | |
26 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
Daniel Cohn-Bendit | |
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