# taz.de -- Evakuierungen aus Afghanistan: Brückenschlag nach Berlin | |
> Im Senat beschließt man ein Aufnahmeprogramm für Geflüchtete. | |
> Innenminister Seehofer kann dazu kaum Nein sagen. | |
Bild: Demonstration am Dienstagabend in Berlin: Karikaturen unterstreichen die … | |
BERLIN taz | Beim emotionalsten Moment auf dieser spontanen Demonstration | |
am Dienstagabend tritt eine Frau auf die Bühne vor dem Bundestag und | |
erzählt, dass ihr Vater und ihre Schwester noch in Kabul seien. Sie kämen | |
nicht zum Flughafen. Immer wieder stockt sie; sie weint und schluchzt. „Wie | |
können meine Schwester, mein Bruder, mein Vater rausgehen aus Afghanistan?“ | |
Über 2.000 Menschen hatten sich auf der Reichstagswiese [1][versammelt], um | |
Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Sie hatten eine Luftbrücke | |
gefordert, um gefährdete Menschen schnell und unbürokratisch aus | |
Afghanistan zu evakuieren. | |
Damit meinten sie explizit nicht nur Ortskräfte der Bundeswehr, sondern | |
auch alle anderen Menschen, die von der Herrschaft der Taliban bedroht | |
sind: etwa Frauenrechtler*innen, queere Menschen, | |
Demokratieaktivist*innen, Journalist*innen. | |
## „Gibt es einen Weg, dass ich aus Afghanistan rauskomme?“ | |
Für Mortaza [2][Rahimi] sind Letztere zugleich oft Freund*innen und | |
Bekannte. Der Journalist floh vor zehn Jahren aus Afghanistan nach | |
Deutschland. Seit Tagen bekommt er Anfragen von Kommilitonen aus seiner | |
Studienzeit, sie alle fragen: „Gibt es einen Weg, dass ich aus Afghanistan | |
rauskomme?“ | |
Alle in der afghanischen Community bekämen solche Nachrichten, so Rahimi. | |
Spreche er mit anderen Afghan*innen in Berlin, hieße es immer umgekehrt: | |
„Gibt es eine Möglichkeit, die Familie rauszuholen?* | |
Auch seine Eltern sind noch in Kabul. „Meine Eltern leben in Angst, aber | |
noch sind sie in Sicherheit.“ Für sie gebe es eigentlich keine Möglichkeit | |
mehr, nach Deutschland zu kommen, weil sie – anders als die viel | |
thematisierten Ortskräfte – nicht für Deutschland gearbeitet haben. Ein | |
Antrag auf Familienzusammenführung, den Rahimi vor vier Jahren stellte, | |
wurde abgelehnt. | |
Genau diese Familiengeschichten kennt Diana Henniges von der Initiative | |
[3][„Moabit hilft“]. „Die letzten Jahre hat die Bundesregierung die | |
Familienzusammenführung massiv blockiert“, kritisiert sie. Einige | |
afghanische Geflüchtete sind deswegen zurückgekehrt. Andere machten sich | |
jetzt Vorwürfe: „Sie fragen sich: Warum bin ich nicht zurückgegangen?“ | |
Die Initiative versuche, Menschen auf die Listen der Bundesregierung zu | |
bekommen, aber das geht nur für Ortskräfte. Und selbst da kämen E-Mails | |
aktuell nicht mehr durch. | |
## Senat will helfen | |
Bislang sind 120 Ortskräfte in Berlin angekommen. Sie müssen nicht den | |
üblichen Weg ankommender Asylbewerber*innen über das Ankunftszentrum | |
gehen, ihre Aufnahme erfolgt unter gesonderter Verantwortung des Bundesamts | |
für Migration und Flüchtlinge. Der Verbleib 30 weiterer am Dienstag | |
erwarteter Ortskräfte ist unterdessen ungeklärt. Sie hatten auf eigene | |
Kosten Linienflüge gebucht. | |
Aber: „Die Flüge sind offensichtlich nicht angekommen“, so eine Sprecherin | |
des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). In Brandenburg | |
rechnet man unterdessen mit der Ankunft weiterer Ortskräfte am Donnerstag. | |
Wie viele es sein werden, ist noch nicht klar. Platz sei für 200 Menschen. | |
Der Berliner Senat hatte sich auf seiner Sitzung am Dienstag auf ein | |
eigenständiges [4][Landesaufnahmeprogramm] für Afghan*innen verständigt. | |
Dabei geht es nicht um die Ortskräfte, die, sofern sie Deutschland | |
erreichen, sowieso zu einem Teil Berlin zugewiesen werden. Einen | |
Zufluchtsort bieten will Berlin besonders bedrohten Gruppen, die womöglich | |
schon in Nachbarländer Afghanistans wie Usbekistan oder Pakistan geflohen | |
sind. | |
Die genauen Kriterien, welche Zielgruppen aufgenommen werden sollen und in | |
welcher Größenordnung, werden nun von der Innenverwaltung unter Senator | |
Andreas Geisel (SPD) im Rahmen einer Landesaufnahmeanordnung erarbeitet. | |
## Programm braucht Okay vom Innenministerium | |
Der angedachte Zeitraum für die Aufnahme dieser Menschen betrifft laut | |
Senatssprecher Julian Mieth die nächsten Monate. Zuvor allerdings braucht | |
es ein Okay des Bundesinnenministeriums. In der Vergangenheit war das | |
oftmals schwierig. Ein Landesprogramm für Geflüchtete von den griechischen | |
Inseln etwa hat Innenminister Horst Seehofer (CSU) stets blockiert; eines | |
für Jesidinnen aus dem Libanon war nach langer Wartezeit Ende Juli doch | |
genehmigt worden. | |
Angesichts der aktuellen Notlage in Afghanistan zeigte sich Mieth | |
„optimistisch“, dass sich das Innenministerium nicht querstellen wird. | |
Womöglich förderlich könnte sein, dass der Bund im Fall Afghanistan, anders | |
als bei den Geflüchteten in Griechenland, selbst noch keine Regelung | |
getroffen hat, wie viele Menschen er bereit ist aufzunehmen. | |
Unabhängig vom Ausgang der Gespräche mit dem Bund wurden im Senat alle | |
Ressorts aufgefordert, Vorkehrungen zu treffen, um afghanische Geflüchtete | |
aufnehmen zu können. Von der Erstaufnahme über die Verteilung bis hin zu | |
Sprachkursen und Bildung sowie besondere Hilfe für alleinreisende Frauen | |
und unbegleitete Minderjährige will man aufgestellt sein – besser als in | |
den Jahren 2015/16 bei der letzten großen Flüchtlingsbewegung nach Berlin. | |
Laut Senatsverwaltung für Soziales könne Berlin Stand Mittwoch 1.337 | |
Geflüchtete sofort unterbringen. „Wenn Bedarf besteht, werden wir weitere | |
Plätze reaktivieren“, so eine Sprecherin. | |
## Giffey irritiert | |
Berlin ist nach Schleswig-Holstein das zweite Land, das sich zur Aufnahme | |
bereit erklärt. Anders als in Berlin will man im Norden aber vor allem | |
Frauen und Kinder aufnehmen. Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat | |
sagt: „Gerettet werden müssen alle, die gefährdet sind, Frauen, Kinder, | |
Kranke und weitere besonders Schutzbedürftige sowie alle, die sich für ein | |
freies, demokratischen Land, für Menschen- und Frauenrechte organisiert und | |
engagiert haben.“ | |
Dies sei das „Mindeste, was Berlin und Deutschland jetzt tun können“. Dass | |
sich dem Ansinnen der Länder, die Menschen aufnehmen wollen, nicht | |
entgegengestellt wird, hält auch Classen für wahrscheinlich. | |
Für Irritationen sorgte die Spitzenkandidatin der Berliner SPD Franziska | |
[5][Giffey]. Während der Senat am Dienstag mit dem Beschluss des | |
Aufnahmeprogramms bereits über die bloße Rettung von Bundeswehrhilfskräften | |
hinausgegangen war und dies auch einem Beschluss des SPD-Landesvorstands | |
entsprach, twitterte Giffey lediglich davon, „schnelle Wege für Ortskräfte | |
aus Afghanistan und deren Familien nach Deutschland zu schaffen“. | |
## Seehofer unter Druck | |
Die Bürgermeisterkandidatin der Grünen, Bettina [6][Jarasch], sagte der taz | |
am Mittwoch: „Man muss aufpassen, dass man nicht zynisch wird, wenn man | |
hört, dass die Bundesregierung jetzt noch ernsthaft bürokratische Vorgaben | |
macht, wer kommen darf. Der Punkt ist doch: Es kommen ohnehin kaum noch | |
Menschen mehr raus aus Afghanistan. Die Bundesregierung hat viel zu spät | |
angefangen, die Menschen auszufliegen. Das ist bitter.“ | |
Darüber hinaus forderte sie, dass Bundesländer eigenständig über die | |
Aufnahme entscheiden können und dafür das Aufnahmegesetz geändert wird. | |
Gleichwohl stünden die Chancen im aktuellen Fall gut: „Bei Afghanistan wird | |
Seehofer vermutlich Ja sagen, weil er unter Druck steht.“ | |
18 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Cristina Plett | |
Erik Peter | |
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