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# taz.de -- Afghanische Community in Berlin: Afghanistan, mon amour
> Unser Autor ist als Kind aus Afghanistan geflüchtet. Neben der Sorge um
> Angehörige treibt die afghanischstämmige Community die Sorge um das Land
> um.
Bild: Protest für eine Luftbrücke nach Afghanistan in Berlin
Berlin taz | „Ich kann meine Gefühle gar nicht in Worte fassen. Sie ändern
sich im Sekundentakt. Wenn ich die Videos der Anarchisten sehe, die
letztlich doch nur Chaos im Namen des Islam stiften, das macht mich wütend.
Wir fühlen uns alle so verlassen und ohnmächtig“, sagt Tahera Hashemi. Die
aus Herat stammende Schauspielerin kam vor neun Jahren nach Deutschland und
wohnt seitdem in Berlin und Weimar. Eigentlich hat sie keine Zeit, weil sie
ständig Anrufe und Nachrichten aus der alten Heimat bekommt. Verzweifelte
Anrufe von Menschen, die Hilfe suchen und selbst heute noch auf die
Bundesregierung setzen.
40 Jahre Krieg, zwei Generationen lang, das ist Afghanistan. Vier
Jahrzehnte Mekka der internationalen Waffenindustrie, Schlachtfeld großer
und kleiner Mächte rund um den Globus. Aber es waren auch 40 Jahre Verrat
am eigenen Volk. Gutes gab es zwar auch, Krieg und Konflikt dominierten
aber durchgehen.
Wann hört das endlich auf? Wie immer leidet die Bevölkerung als
Schlachtvieh der Mächtigen und Irren. Es ist ein monströses Trauerspiel,
der reine Wahnsinn.
Tahera zerreißt das Wissen um die tatsächlich politische Situation in
Deutschland, die schockierende Inkompetenz und auf der anderen Seite die
Hoffnung der Menschen in Afghanistan, vielleicht ihre letzte Hoffnung. Sie
spricht von unterwegs mit mir, im Hintergrund höre ich immer wieder ihr
kleines Kind, das mit mir um Mamas Aufmerksamkeit buhlt. Ich biete ihr
mehrmals an abzubrechen, aber sie möchte unbedingt sprechen. „Wir müssen
jede erdenkliche Möglichkeit nutzen, um auf die Menschen, ihre Ängste, auf
diese unfassbare Tragödie hinzuweisen. Auf dieses kolossale [1][Scheitern
des Westens].“
## Der Schock in der Stimme
So wie ihr geht es allen afghanischen Berliner:innen, die ich erreichen
kann. Gut ein Dutzend. Die afghanische Community umfasst inzwischen rund
20.000 Berliner:innen. Es sind Zugezogene aus anderen Bundesländern, sie
sind hier aufgewachsen oder erst seit Kurzem da. Sie bangen und hoffen,
weinen und schweigen, ihre Nächte sind bestimmt von wenig Schlaf. Ich spüre
den Schock in ihren Stimmen, das ständige Seufzen, Ächzen und Luftholen,
während wir miteinander sprechen. Ein Gefühl der Scham. Was sei schon ihr
Leid gegen das der Menschen vor Ort?
Malala Abiwand lebt seit bald vierzig Jahren in Berlin. Die Arzthelferin
kann sich kaum an heftigere Bilder aus ihrem Geburtsland erinnern. Dabei
hätte doch jedes der vergangenen vier Jahrzehnte seine eigenen
schrecklichen Bilder gehabt. „In den sozialen Medien ist der Unglaube über
dieses wahnsinnige Tempo der Machtübernahme durch die Taliban das große
Thema. Die Leute sind fassungslos. Sie sind nicht davon überrascht, dass
die Taliban nun da sind, aber das Tempo schockiert. Und alles, was das nun
bedeutet, vor allem für die Ortskräfte, die Frauen und Minderheiten.“
Kava Spartak, Gründer von Yaar e. V., eines Berliner Kulturvereins, der
Geflüchteten eine wichtige Anlaufstelle ist, erzählt davon, dass er gerade
Tag und Nacht arbeite, das lenke ihn ab. „Wenn es dann doch plötzlich mal
still wird, muss ich weinen. Ohne Unterlass kommen Weinanfälle. Es
überkommt mich einfach. Die Bilder sind schrecklich, gerade die vom
Flughafen.“
So ergeht es auch Faruk Hosseini. Den Berliner Fotografen erinnern die
Bilder vom Flughafen an die eigene Flucht vor 40 Jahren, als er sechs Jahre
alt war. „Natürlich ist das Leid, die Art und Weise heute tausendfach
schlimmer. Ich merke nur, wie Bilder und Erinnerungen hochkommen, die weit
weg waren.“
Neben der Verzweiflung über die Verzweiflung vor Ort ist große Wut zu
spüren. „Ich kann sehr viel sagen, aber ich mache es sehr kurz: Das Gefühl,
im Stich gelassen zu werden, ist leider nichts Neues“, seufzt die
58-jährige Sozialpädagogin und Kita-Erzieherin Hassina Burgan. Burgan ist
seit mehreren Jahrzehnten in Berlin ansässig und arbeitet in einer größeren
Kita. Jeder denke an sich, an die eigenen Geschäfte und Interessen. „Die
machen alle Politik auf Kosten der Bevölkerung. Es ist so eine Schande und
wir können nur bedingt helfen. Das Gefühl der Ohnmacht ist sehr groß.“
Die 39-jährige Sahar Chopan ist Oberschullehrerin, Tänzerin und DJ, alles
in einer Person. Geboren ist sie in Ostfriesland in einem Asylheim. Sie
wirft den Nato-Staaten vor, kein Interesse gehabt zu haben an langfristig
stabilen Strukturen, an einer tatsächlichen Entwarlordisierung des Landes,
so wie man Deutschland entnazifizieren wollte. „Mit entsprechendem Druck
auf Pakistan, Iran und andere regionale Mächte wäre da mehr möglich
gewesen“, formuliert Chopan ihren Vorwurf an „den Westen“. Sie wirft
Deutschland, aber auch anderen westlichen Kräften in Afghanistan, eine
koloniale Haltung vor.
Wie könne man in ein Land gehen ohne Kenntnisse der Geschichte und der
Kultur sowie der Multiethnizität? „Es ist eine softe Version der alten
Kolonialpolitik, diese Arroganz, wie man mit den Ländern umgeht, ihnen
vorschreiben will, was sie zu tun haben. Ohne jede Rücksicht auf die
Gegebenheiten vor Ort.“
## Nicht allein sein
Hossein Jawadi, den ich zufällig vor einem afghanischen Supermarkt treffe,
könnte noch viel mehr dazu sagen, will sich aber nicht noch weiter in Rage
reden. Der 27-Jährige gehört zur Gruppe der Hasara, die seit Jahrhunderten
unterdrückt werden, weil sie Schiiten sind und zur mongolischstämmigen
Minderheit gehören. Vor drei Jahren kam er über den Iran und die Türkei
nach Berlin. „Ich bin in Sicherheit, aber was passiert mit den Menschen
dort? Ich kann gerade nicht allein sein. Ich sitze ständig mit Freunden in
irgendwelche Parks herum, und wir versuchen uns gegenseitig aufzumuntern.“
Wie können die Menschen in Berlin helfen? Jede*r, mit der* ich gesprochen
habe, würde die Berliner:innen zu Spenden aufrufen, zum Beispiel über
Yaar e. V. Außerdem bitten sie um Unterstützung der Petition bei
[2][kabulluftbrücke.de], um Druck auf Bundestagsabgeordnete, auf die
Regierungen, auch auf Landesebene auszuüben.
An Demos würden sie grundsätzlich teilnehmen wollen, aber sie spüren auch
große Müdigkeit. „Man denkt, irgendwann muss das alles doch ein Ende haben.
Irgendwann muss man unsere Stimmen doch endlich mal hören. Aber was nützt
das, wenn sich die Entscheider hinter verschlossenen Türen treffen und über
das Schicksal der Menschen bestimmen?“ Trotzdem, sagt die Kita-Erzieherin
Hassina Burgan, möchte sie an der [3][großen Demonstration am kommenden
Sonntag] im Berliner Regierungsviertel teilnehmen.
Was die Taliban angeht, sind viele meiner Gesprächspartner:innen
abwartend. Ihnen sei zwar nicht über den Weg zu trauen, und aus der Ferne
lasse sich das leicht sagen, aber wie sie gerade auftreten und dass sie
nicht gleich alles verbieten, Medien weiter berichten dürfen, sei ein
Unterschied zu damals. Was denn Ihre Erwartungen an die deutsche Politik
wären, will ich noch wissen. Ausnahmslos fordern alle eindringlich, dass
sich die Bundesregierung möglichst unbürokratisch und umgehend um die
[4][Ausreise der Ortskräfte und anderer akut gefährdeter Personen] kümmern
müsse. Alles andere wäre eine Schande für die deutsche Politik. Eine
weitere.
19 Aug 2021
## LINKS
[1] /Nach-Abzug-aus-Afghanistan/!5789817
[2] https://www.kabulluftbruecke.de/
[3] https://seebruecke.org/aktionen/afghanistan-verantwortung-uebernehmen-aufna…
[4] /Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5794618
## AUTOREN
Bobby Rafiq
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