# taz.de -- Bobsens Späti: Sonnengruß in der U2 | |
> Wie wäre es mit Wahlkampf im Untergrund? In der U-Bahn zeigt sich Berlins | |
> soziale Schere in aller Klarheit – auch als Folge der Berliner Politik. | |
Bild: Keep smiling: Fahrgäste der Berliner U-Bahn | |
Als der Typ Schönleinstraße einsteigt, fällt er mir gleich auf. Obwohl er | |
ein wenig benebelt wirkt, scheint sein Blick unter dem Cappy plötzlich | |
hellwach. Er schaut sich unauffällig um – okay, „unauffällig“ – und l… | |
durch die U-Bahn: Zack, mindestens zweimal findet er einen Käufer, | |
Heinrich-Heine-Straße ist er wieder weg. Donald Trump wäre stolz auf den | |
jungen Mann, der innerhalb dreier Stationen gleich zwei Deals abschließt, | |
„Good Boy. So good!“ U8 halt. | |
Auf den Dealer folgt ein Wohnungsloser. Er schlurft verzweifelt von | |
Fahrgast zu Fahrgast und wiederholt alle paar Meter die Sätze, die seine | |
Notlage erklären sollen. Weiter hinten wetteifern mehrere Jungs um die | |
höchste Brudi- und Wallah-Dichte in ihren Äußerungen. Erstaunlich, wie oft | |
sie beides unterbringen können. Die Siegerehrung bekomme ich nicht mehr | |
mit, sie steigen Jannowitzbrücke aus. Aber ich glaube, Diggi hat gewonnen. | |
Jetzt erst fällt mir auf, was sich die ganze Zeit schon in mein Ohr fräst. | |
Ein schrill kreischendes Kleinkind bettelt um Mamas Aufmerksamkeit, die | |
noch zu sehr mit Brüder- und Kläfferchen busy ist. Den aufgeregten Hund | |
passiert eine betagte Musikerin mit Ukulele. Hinter ihr erschließt sich | |
einem die Vielfalt der Maskenträger:innen: Nase draußen, Nase verdeckt, | |
Kinnmaske, Halsmaske. Skeptische Blicke kreuzen sich. Ich lese | |
Gedankenblasen: „Alda, Maske hoch!“ „Fresse!“ „Am liebsten würde ich… | |
aufs Maul hauen, aber du haust bestimmt zurück.“ | |
Alexanderplatz. Die Türen öffnen sich. Vom Gewusel her herrscht hier immer | |
ein Hauch vom ÖPNV in Tokio. Ich kämpfe mich durchs hektisch belebte | |
Labyrinth des Bahnhofs, Stufen runter, Stufen hoch, Snackbar hier, Bäcker | |
dort, noch mehr Stufen. Musik. „Ey, isch schwöre“– und andere Bekenntnis… | |
## Kleider machen U-Bahn-Linien | |
Dann endlich angekommen auf dem Bahnsteig Richtung Pankow. Die Bahn fährt | |
ein, ich rein in die U2. Der Zug ist rappelvoll. Erst nach einigen Minuten | |
fällt mir auf, was hier nicht stimmt. Diese unfassbare Stille. Es ist | |
mucksmäuschenstill. Wirklich. Es hat fast schon etwas Überwältigendes, der | |
radikale Wechsel von akustischen Wimmelbildern in der U8 zur sagenhaften | |
Om-Stille in der U2. Mein Körper will den Sonnengruß – sofort. Kaum jemand | |
spricht. Die meisten lesen oder tragen In-Ears. Bis zur Eberswalder Straße | |
herrscht hier das distinguierte Bildungs- und Yogabürgertum. Kleider machen | |
U-Bahn-Linien. | |
Im Berliner Untergrund jagt ein Klischee das nächste. Mir kommt das Musical | |
„Linie 1 „in den Sinn. In diesem Jahr hat das Stück des Grips-Theaters sein | |
35-jähriges Bühnenjubiläum. Vor dem Mauerfall fuhr die Linie 1 aus dem | |
beschaulichen Ruhleben durch das gediegene Charlottenburger Westend der | |
Hausbesitzer über Christiane F.s Bahnhof Zoo bis zum Schlesischen Tor der | |
Hausbesetzer. | |
Was sich auf der Straße aus dem Weg geht, wird in der U-Bahn zur | |
Schicksalsgemeinschaft. Damals wie heute. In pandemischen Zeiten sowieso. | |
Gemeinsam erträgt man Aerosole, Uringestank, laute Geschäftsmänner am | |
Handy, Nagel- und Wimpern-Extensions, Kontrolleure auf Anabolika oder | |
einfach nur diese Stille. Im Untergrund lässt sich Berlins (a)soziale | |
Schere auf engstem Raum erleben. Wilmersdorfer Witwen treffen auf | |
Obdachlose, Straßenmusiker auf Anwälte, Manspreader auf woke People. Man | |
muss sich gegenseitig ertragen. Kein Ausweichen. | |
Am Wochenende gleich mehrerer Wahlen frage ich mich, wie es wohl wäre, | |
würden Parteien an solchen Orten um Stimmen buhlen. Wo bitte erlebt man die | |
gesellschaftlichen Gegensätze, gute wie schlechte, so hautnah? Im Berliner | |
Untergrund begegnen einem die menschgewordenen Folgen der eigenen | |
Wohnungs- und Drogenpolitik, persönliche Schicksale alleinerziehender | |
Mütter und Geflüchteter, Menschen aus dem Niedriglohnsektor, Rassismus und | |
Sexismus. | |
Und wohl auch die Folgen der eigenen Sparpolitik: Wie viele Leute mehr | |
würden sich diesem Panoptikum der Großstadt hingeben, gäbe es wieder ein | |
anderes Sicherheitsgefühl durch BVG-Personal in den Hütten auf den | |
Bahnsteigen, statt zeitlich begrenzter Bahnsteigbelagerungen durch Polizei | |
und dubiose Securities? Verkehrswende, bitte übernehmen Sie! | |
26 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Bobby Rafiq | |
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