# taz.de -- Der Wald als Beruhigungspille: Eskapismus, Baby! | |
> Klar denkt man beim deutschen Wald nicht gleich an Berlin. Aber so falsch | |
> wär's auch nicht, denn die Hauptstadt ist eine der grünsten in ganz | |
> Europa. | |
Bild: Wo unser Kolumnist seinen inneren Frieden findet: der Grunewald | |
Was für ein Luxus, sich in diesen Zeiten ob der politischen Lage einfach | |
mal davonschleichen zu können. Manche Krisen sind längst bei uns | |
angekommen, andere rücken immer näher; dem Eskapismus können wir aber | |
weiterhin frönen, wie wir wollen. In Berlin ist da so einiges drin: sich | |
feucht-fröhlich die Kante geben, endlos frustdönern mit scharf, schwofend | |
drei Tage wach in einem der vielen Clubs verbringen – bevor [1][die A100 | |
sie plattasphaltiert]. Hier gibt es grenzenlos viele Möglichkeiten, den | |
Kopf in den Sand zu stecken. | |
Für mich allerdings ist es der Waldboden. Ganz ohne Kater und Cold Turkey, | |
ohne saures Aufstoßen und Flatulenz, außerdem garantiert kostenfrei. | |
Krisengeplagt und angetrieben von Großstadtneurosen, von zu vielen Reizen | |
inmitten von Massen überreizter Menschen, heißt es für mich daher immer | |
öfter: Wochenend und Sonnenschein und dann mit mir im Wald allein. | |
Gefrustet vom Rechtsruck in Almanya, von eindimensionaler Staatsräson, von | |
Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, auf der Flucht vor Scholz und | |
Lindner und der räudigen Leitkulturdebatte der CDU, zieht es mich | |
ausgerechnet in des Deutschen liebstes Refugium: historisch kontaminiert, | |
mythologisch ein Pfund. Zugegeben, Berlin liegt nicht im Schwarzwald, nicht | |
im Bayerischen oder Thüringer Wald. Aber hey, auch wir können Wald! | |
Immerhin ist Berlin eine der grünsten Hauptstädte Europas. | |
## Man muss nicht in die Berge | |
Beim [2][deutschen Mythos Wald] können der Grunewald, der Spandauer und | |
Tegeler Forst oder die Köpenicker Wälder nur bedingt mithalten. Die alten | |
germanischen Stämme haben sich wahrscheinlich von anderen Wäldern | |
beeindrucken lassen. Auch die Gebrüder Grimm und weitere Märchenonkel und | |
-tanten werden ihre Inspiration hauptsächlich aus anderen Regionen bezogen | |
haben. | |
Trotzdem: Es bleibt ein kleines Wunder, wie schnell man in Berlin mit Bus | |
und Bahn dem urbanen Wimmelbild entfliehen und sich in weitflächigen | |
Wäldern verlieren kann. Vom Umland mal abgesehen. [3][Fast 30.000 Hektar | |
Wald gehören dem Land Berlin], ein knappes Fünftel des Stadtgebietes ist | |
bewaldet. Kiekste, wa?! Dem Staunen gewidmet ist dann tatsächlich so | |
einiges, steht man erst mal mittendrin und sieht vor lauter Bäumen den Wald | |
nicht mehr. Das Kuriose ist ja, dass der Wald kein reizarmer Ort ist und | |
dennoch beruhigend wirkt. Waldbaden nennen das einige neumodisch. | |
Für mich als Großstädter ist es dieser Tage ein echtes Ereignis, wenn in | |
der Natur geflirtet und buchstäblich gevögelt wird, dass die Äste | |
quietschen. Besonders angetan haben es mir die Spechte. Ich jedenfalls | |
finde es faszinierend, wie einem ein einziger Vogel mit seinem schnöden | |
Holzgeklopfe ein Gefühl für die Räumlichkeit des Waldes gibt. Wenn das | |
Klopfen eines kleinen Buntspechts klingt wie der krähengroße Schwarzspecht: | |
der wuchtigste in unseren Breitengraden, tatsächlich ganz in Schwarz und | |
auf dem Haupt ein roter Iro wie der frühe Sascha Lobo. | |
Und das ist wirklich nur eines von unzähligen Beispielen für das, was | |
adrenalingeladene Großstädter im Wald entschärfen kann. Gib den Viechern | |
noch zwei, drei Monate und du hörst das Summen und Brummen, Surren und | |
Schwirren von wahrscheinlich Milliarden von Insekten. Ein konstanter Sound, | |
dem scheinbar nie der Klang ausgeht. Wer das alles nicht glaubt, dem seien | |
die meditativen Waldgeräusche auf den einschlägigen digitalen Plattformen | |
empfohlen. Der Wald wirkt und ist ein Gesamtkunstwerk, ganz ohne | |
Warteschlange vor der Tür. | |
24 Mar 2024 | |
## LINKS | |
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[2] /Das-Musical-The-Black-Rider-in-Celle/!5812427 | |
[3] https://www.berlin.de/forsten/walderlebnis/treffpunkt-wald/ | |
## AUTOREN | |
Bobby Rafiq | |
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