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# taz.de -- Bobsens Späti: Schaut auf eure Spätis!
> Einst kämpfte Harvey Keitel im Kino für den Erhalt seines Tabak-Ladens in
> Brooklyn. Hat die aktuelle Krise für Berlins Spätis ebenso ein Happy End?
Bild: Steht jetzt sogar im Duden: der Späti
In den späten Neunzigern sah ich zum ersten Mal die beiden Filme „Smoke“
und „Blue In The Face“, von Wayne Wang und Paul Auster. Im Zentrum der
Handlung steht der beschauliche Tabakladen von Auggie Wren alias Harvey
Keitel. Er verkauft nicht nur Variationen von Nikotin und Kondensat, sein
Laden ist eine Mischung aus psychologischer Sprechstunde, Kieztreff und
Backstage der Straße.
Inmitten des hektischen Treibens von Manhattan wirkt der Tabakshop in
Brooklyn wie ein Kleinod. Eine Oase der Ruhe, kontaminierte Sauna im
großstädtischen Moloch: Kettenraucher*innen ersetzen mit ihrer
Daueremission den ätherischen Aufguss. In dem verqualmten Laden lässt die
Kundschaft ihre Seele baumeln. Abgehalfterte Wannabe-Showstars üben für
Castings, die nur in ihrer Fantasie stattfinden. Jede Form von Herzschmerz
wird hier zu Kleinkunst.
Auggie weiß, wenn die Leute nicht bei ihm im Laden die Seele baumeln
lassen, dann baumelt der ein oder die andere ganz bald zu Hause – von der
Decke. So übt er sich zuhörend in Geduld, während die Kund*innen Kippen,
Salziges oder Süßes konsumieren.
In diesen Tagen muss ich oft an seinen Laden denken, wenn in Berlin um 11
Uhr abends zähneknirschend die Spätis geschlossen werden. Die Stadt ist
voller Auggies. Sie arbeiten in den vielen Läden, die es inzwischen in ganz
Berlin gibt. Offizielle Zahlen fehlen. Schätzungen gehen von ca. 2.000 und
mehr Spätis aus. Das wären mehr Spätkäufe pro 100.000 Einwohner*innen
als der geduldete Grenzwert von Corona-Infizierten. Wie viele es noch sein
werden, wenn Pandemie und Sperrstunde vorüber sind, mag niemand
einschätzen.
Die Auggies Berlins heißen Ahmad, Fatima, Viktor oder Minh-Kai. Fast immer
haben sie eine Migrationsgeschichte. Ein bisschen sind sie das migrantische
Pendant zu Kalle und Helga in den wenigen verbliebenen Altberliner
Eckkneipen.
## Rollator trifft Kopftuch
Die meisten haben bis nachts geöffnet, manche 24/7. Sie sind Headquarter
für Kiezgeflüster, Treffpunkt für alle Altersgruppen und Brutstätte der
Integration. Hier trifft auch mal der versoffene Opa mit seinem Rollator
auf die rüstige Rentnerin mit religiös motiviertem Kopftuch, die ihm
lächelnd die Leviten liest.
Allein in meiner Straße gibt es auf wenigen hundert Metern acht Läden. Ihre
USPs sind Internet- und Gamerplätze, Klopapier (!), Postannahmestellen oder
der höhere Grad an Sauber- und Übersichtlichkeit. Und, ganz vorne: die
Verkäufer*innen.
Sie alle verbindet eine Engelsgeduld, mit der sie ihrer Kundschaft
begegnen. Je nach Uhrzeit schauen auch mal ignorant verdrogte Yuppies,
Aggro-Teenies mit Tilidin auf Tasche oder verzweifelte Kiezalkis vorbei.
Respekt!
Wenn ich wissen will, wie mein Straßenzug sozial zusammengesetzt ist, gehe
ich in den Späti. Das führt so gut wie immer zu gegenseitigem Verständnis
für den Gemütszustand voneinander, für die Neurosen von ihm und den
Drogenkonsum von ihr, für Arbeitslosigkeit oder Workaholismus – weil in
neutralem und dennoch vertrautem Raum erzählt, zugehört und moderiert wird.
Ich bekomme mit, zu welchen unhaltbaren Uhrzeiten Nachbar*innen
Feierabend machen oder zu arbeiten beginnen. Ich lerne, dass Spätis in der
DDR erfunden wurden, wo sie vor allem der Versorgung von
Schichtarbeiter*innen dienten und eigentlich Spätverkaufsstellen
hießen. Und natürlich ist irgendwie auch immer die Weltpolitik zu Gast,
zwischen Feuerzeugen und OCBs, zwischen Kau- und anderen Gummis.
## Das meiste kommt in die Familienkasse
Oft besteht der Job aus purer Selbstausbeutung. Zum Teil sind es
Familienbetriebe, wo bis zu drei Generationen für einen lachhaften Lohn
malochen. Es gibt keinen ernst zu nehmenden individuellen Stundenlohn, das
meiste kommt in die Familienkasse. Als Unterstützung der eigenen oder der
Großeltern, damit nicht die Arbeitslosigkeit droht, weil jene ursprünglich
als ungelernte Arbeitskräfte nach Deutschland kamen oder einfach andersrum
für die Zukunft der Kinder.
Wo nicht nur Verwandtschaft mitarbeitet, werden Ausgebeutete auch gern mal
zu Ausbeuter*innen. Deshalb gibt es Hilfe für Betroffene – zum Beispiel bei
der „FAU Berlin“. Betreiber*innen organisieren sich u. a. im Verein
„Berliner Späti e. V.“. Da geht es vor allem um den wichtigen
Sonntagsverkauf, der den meisten die Existenz sichert.
Im Film droht Auggies Shop die Schließung, weil der Tabakhandel einem
Naturfeinkostladen weichen soll. Spoileralarm: Der Kiez wehrt sich
erfolgreich. „Blue in the Face“ hat also ein Happy End. Und unser Film?
1 Nov 2020
## AUTOREN
Bobby Rafiq
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Sperrstunde
Kolumne Bobsens Späti
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