# taz.de -- Bobsens Späti: Was ist los in (der) Mitte? | |
> Warum fließt der Mainstream in Teilen plötzlich so weit am rechten Rand? | |
> Bitte, was? Plötzlich? | |
Bild: Rechte Demonstrant*innen vor dem Bundestag am 29. August 2020 | |
Vierzehn Tage ist die Demo nun her, bei der versucht wurde, den Bundestag | |
zu stürmen. Es waren Rechtsradikale und solche, die glauben, keine zu sein. | |
Und seit 14 Tagen beobachte ich in meinem persönlichen Umfeld, mit welcher | |
Ignoranz dieser Mischung aus gefühltem Karneval der Kulturen und | |
Rudolf-Heß-Gedenkmarsch immer noch begegnet wird. | |
Die seien doch harmlos, weil ungebildet, nicht organisiert, und sie hätten | |
halt mal ihren digitalen Parolen aus den sozialen Netzwerken frische Luft | |
gegönnt. Na und? Und außerdem war da doch auch irgendwo eine Türkeifahne zu | |
sehen. | |
Äh, und was heißt das jetzt? Dass Leute mit ausländischen Wurzeln keine | |
Dazlaks sein können? | |
Auch jetzt noch stellen sich Fragen: Was verbindet Hare-Krishna-Jünger und | |
rechte Hools – außer der rasierten Rübe? Hat die Regenbogenfahne nun auch | |
einen braunen Streifen? Und warum eine Kundgebung auf der Straße des 17. | |
Juni, statt an historisch stimmigeren Orten wie dem Kaiserdamm oder der | |
Bismarckstraße? Oder wie wäre es mit, äähm, dem Hindenburgdamm? | |
Eine Frage begegnete mir aber am häufigsten: Warum laufen da so viele mit, | |
die nach Jack-Wolfskin-Jacke und Bausparvertrag aussehen? Warum fließt der | |
Mainstream in Teilen plötzlich so weit am rechten Rand? | |
Bitte, was? Plötzlich? | |
Als Berliner Kanake gewährte mir das Leben früh Einblicke in die dunklen | |
Kellerräume der braven Mitte. Beispiel 1: 1998 besuchte ich kurz vor der | |
Bundestagswahl, deren Ergebnis Rot-Grün als „Neue Mitte“ an die Macht | |
bringen sollte, ein grünes Straßenfest tief im Berliner Westen. Damals ging | |
es noch um Alternative in und nicht um eine für Deutschland. Während der | |
unruhigen neunziger Jahre fühlte ich mich als offensichtlicher Migrant in | |
grünen Kontexten am wohlsten und vor allem eines: sicher. | |
Das sollte sich nun ändern. An einigen der Stände hörte ich plötzlich | |
rassistische Sprüche. Vielleicht lag es an der vergeigten Fußball-WM oder | |
an der Asyldebatte Jahre zuvor, keine Ahnung. Auf jeden Fall war es ein | |
großer Schock. Es war so, als wenn mich am Kotti Neonazis attackiert | |
hätten. | |
Beispiel 2: Vor ziemlich genau zehn Jahren erschien Thilo Sarrazins | |
kleingeistiges Buch „Deutschland schafft sich ab“. Ich besuchte seine | |
Lesung mit anschließender Diskussion in der Urania. Das Haus war | |
ausverkauft – anwesend augenscheinlich nichts als die pure Mitte. Ihr | |
Stoßgebet damals: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Bei jeder | |
kritischen Äußerung eines der ausschließlich männlichen Mitdiskutanten | |
gegenüber Sarrazin gab es jedoch unter den rund 800 Gästen einen | |
aggressiven Furor teutonicus, als wenn Donald Trump gerade den Parteitag | |
der Linken gekapert hätte. Zur Erinnerung: Sarrazins „Werk“ war das | |
meistverkaufte politische Sachbuch eines deutschsprachigen Autors im | |
damaligen Jahrzehnt. | |
Beispiel 3: die Union. Nicht eisern, sondern christdemokratisch. Seit | |
Jahrzehnten will sie als Volkspartei auch Teile reaktionärer Strömungen | |
einbinden, wirkt aber viel zu oft mit ihrer „Das Boot ist voll“-Rhetorik | |
als Inkubator und Wahlhelferin für den rechten Rand. | |
Die Verwunderung „meiner Leute“ über den Rechtsruck der Mitte bleibt also | |
befremdlich. Und ich frage mich, wie #wirsindmehr und der Kampf gegen Hass | |
und Demokratiefeindlichkeit Erfolg haben sollen, wenn Ereignisse wie das | |
von vor zwei Wochen als infantiles Sackhüpfen vor staatlicher Kulisse | |
verniedlicht werden. | |
Und von wegen „harmlose Spinner“ und „ungebildet“: In dem Haufen, der | |
krakeelend die Stufen zum Bundestag hochrannte, befand sich auch Nikolai | |
N., ein ehemaliger Berliner Grundschullehrer, der wegen rechtsextremer | |
Äußerungen entlassen wurde und im Netz als selbsternannter Volkslehrer | |
Promistatus genießt. Der steht da berauscht grinsend auf den Stufen zum | |
Parlament, weil er einen Moment lang den Reichstag für den Reichstag halten | |
darf und zeichnet mit seiner Kamera den Tagessieg der ach so | |
unorganisierten Meute auf. Na, dann: Es lebe die Demokratie! | |
12 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Bobby Rafiq | |
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