| # taz.de -- Bobsens Späti: Mann im besten Schläfer-Alter | |
| > Als ich vor einiger Zeit mal Taxi fuhr, fragte mich der Fahrer, woher ich | |
| > ursprünglich komme. Ich sagte Kabul, Afghanistan. Er: Basra, Irak. | |
| Bild: Beim nächsten Mann wird alles anders..? Joe Biden im Gebet | |
| Wenn Trump am 20. Januar Galle spuckend geht, passiert das auf den Tag | |
| genau zwanzig Jahre nach dem Amtsantritt von George W. Bush. Zwei | |
| Jahrzehnte nach 9/11. Bis zuletzt war Trumps Präsidentschaft ein solcher | |
| Albtraum, dass George Double-U bei vielen bisweilen ein nostalgisches | |
| Seufzen auslöste, auch bei mir. Der Typ, der Bush während einer | |
| Pressekonferenz mit seinen Schuhen bewarf, würde ihm selbige heute | |
| wahrscheinlich zum Anprobieren ans Rednerpult stellen. | |
| 2001 lebte ich in meiner Charlottenburger Single-Bude, war 25 und studierte | |
| Politik. Ein junger Mann also, in Kabul geboren, Student, ledig. Bestes | |
| Dschihadi-Alter. Dazu noch Schläfer. Langschläfer. Gerne mal bis mittags. | |
| Ich verabscheute Bush genauso, wie ich Bin Laden widerlich fand. Beide | |
| symbolisieren bis heute obszöne Formen von Politik und Religion. | |
| Die Anschläge vom 11. September und die Reaktionen der US-Regierung hatten | |
| für meinesgleichen konkrete Auswirkungen auch in Berlin. Noch lange nach | |
| 9/11 zog ich mir draußen mein helles Basecap tief ins Gesicht. So fiel ich | |
| mit meiner vermeintlichen Krumdolch-Visage weniger auf, wenn ich mit den | |
| Öffis fuhr. In der Bahn starrten einen nämlich wiederholt Ablehnung und | |
| Angst an. „Weil wir Dich hassen“, hätte damals der BVG-Slogan lauten | |
| können. Bitterer Funfact: Man wurde nicht nur verdächtigt, sondern | |
| verdächtigte selbst auch andere. Es kam zu absurden Szenen, weil sich Leute | |
| ständig voreinander wegsetzten. Kafka meets Malkovich meets Loriot! | |
| ## Rasta gegen Raster! | |
| Mitstudierende und mich, die wir im AStA aktiv waren, beschäftigten | |
| Behördenbriefe an Kommilitonen. Die Jungs waren im Fahndungsraster des BKA | |
| hängen geblieben. Wegen ihrer Herkunft, mutmaßlicher | |
| Religionszugehörigkeit, Alter und Studienfach. Otto Schilys Rasterfahndung | |
| lief auf Hochtouren. Natürlich ließen wir das nicht auf uns sitzen und | |
| veranstalteten – total naheliegend, was sonst?! – eine Reggae-Party im | |
| SO36. Motto: Reclaim the Data – Rasta gegen Raster. Für uns war das ein | |
| hochgradig politischer Akt gegen staatliche Diskriminierung. Aus heutiger | |
| Sicht jedoch so konstruktiv wie der Einsatz der US-Armee in Afghanistan. | |
| Als die US-Luftwaffe knapp vier Wochen nach den Anschlägen erste Bomben auf | |
| Tora Bora abwarf, den damals berüchtigten Höhlenkomplex in den afghanischen | |
| Bergen, war ich im far out am Ku’damm, einer von Osho-Anhängern betriebenen | |
| Disco. Freunde hatten mich überredet, damit nicht Trübsal meinen Abend | |
| bestimmte. Das US-Ultimatum gegen die Taliban war gerade abgelaufen, die | |
| ersten Angriffe sollten sekündlich starten. Nach zwei Tracks und zu viel | |
| Ohm-bedingter Gutlaunigkeit um mich herum, schloss ich mich auf der | |
| Toilette ein und musste erst mal tief Luft holen. Was für ein Bullshit, | |
| nach Sowjets, Mujaheddin und Taliban jetzt die Amis. Das arme Volk. Uff… | |
| Trumps Regierungsjahre standen für mich nicht in erster Linie für den | |
| weißen Backlash nach Obama. Er und sein Gruselkabinett waren eigentlich der | |
| konsequente Spin-off der Bush-Jahre: 2003 fielen die USA mit Fake News in | |
| den Irak ein. Bush teilte die Welt unmissverständlich in Gut und Böse auf | |
| („Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für den Terrorismus“). Dreist | |
| wie nie zuvor war sein Regierungsteam durchsetzt von Leuten, die sich wegen | |
| ihres ökonomischen Engagements besonders in der Ölindustrie eigentlich | |
| nonstop in einem Interessenkonflikt hätten befinden müssen, aber | |
| zuallererst Nutznießer der eigenen Politik waren. | |
| Als ich vor einiger Zeit mal Taxi fuhr, fragte mich der Fahrer, woher ich | |
| ursprünglich komme. Ich sagte Kabul, Afghanistan und fragte zurück. Er | |
| antwortete Basra, Irak. Es ging hin und her. Politik, Kultur, Religion. | |
| Sicherheit und Freiheit. Taliban und IS. Rassismus und Hass. Ich stimmte | |
| ihm zu: Ausländische Mächte haben in „unseren“ Ländern viel Unheil | |
| angerichtet. Er stimmte mir zu: Inländische Mächte haben in „unseren“ | |
| Ländern viel Unheil angerichtet. | |
| An der roten Ampel drehte er sich um, schaute mir in die Augen und fragte | |
| mit zitternder Stimme und voller Verzweiflung: Warum nur ist unser Blut so | |
| billig? Wir fuhren noch ein Stück und schimpften über die Auswüchse unseres | |
| Wirtschaftssystems. Über Arme, die kaum noch ärmer sein könnten. Über | |
| Reiche, die eigentlich reicher nicht sein dürften. In meiner Straße | |
| angekommen, gab er mir mein Wechselgeld, reichte mir die Hand und sagte, | |
| nachdem wir uns die ganze Zeit gesiezt hatten: „Weißt Du Bruder, uns geht | |
| es gut hier. Die Menschen dort sind Sklaven und hungern. Die Leute hier | |
| sind Sklaven und satt.“ | |
| 10 Jan 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Bobby Rafiq | |
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