# taz.de -- Nahkontakt mit Schwurbler:innen: Hilft Querfühlen gegen Querdenker? | |
> Unser Kolumnist war mal wieder zu neugierig. Darum hat er es nicht besser | |
> verdient, als die mütterliche Hand der Schwurblerin an der Wange zu | |
> spüren. | |
Bild: Szene bei einer Demonstration von Querdenkern in Berlin im Juli | |
Neulich hielt ich mich wegen eines Termins in der Nähe des Bahnhofs | |
Berlin-Friedrichstraße auf, mitten im Regierungsviertel, dem Hotspot für | |
Proteste gegen „die da oben“ also. Nach meiner Verabredung geriet ich in | |
eine Demo, die sich behäbig durch die schmale Straße in Richtung | |
Friedrichstadtpalast bewegte. „Da musst du jetzt durch“, dachte ich mir. | |
[1][„Schluss mit der Meinungsdiktatur!“], „Weg mit den Corona-Maßnahmen!… | |
und „Russlandsanktionen beenden – sofort!!“ sprang es mir zornig von drei | |
Pappschildern direkt ins Gesicht. Während ich beim Vorbeidrängeln die | |
vielen Ausrufezeichen zu zählen versuchte, fielen mir deren Träger:innen | |
auf: zwei ältere Damen mit bunten Brillengestellen und zu groß geratenen | |
farbigen Holzperlenketten, zwischen den beiden Frauen ein Herr, Typ „Unser | |
Lehrer Doktor Specht“, nur mit zu hohem Cortisolspiegel. Halt eine dieser | |
Demos, die aussehen wie Claudia Roth und Jean Pütz, aber klingen wie Weidel | |
und Wagenknecht. | |
Schließlich kamen die drei Beschilderten und ich an der Kreuzung an, wo der | |
Zug stoppte. Ich blieb neugierig am Wegesrand stehen: Werden gleich | |
Mistgabeln oder wenigstens Reden geschwungen? Eine Weile lang geschah | |
nichts, ich wollte gerade losgehen, da sprach mich eine der beiden Frauen | |
an. | |
## Auf Tuchfühlung | |
„Wir sind so viele, ist das nicht toll?“, fragte sich mich erwartungsvoll. | |
„Mich müssen Sie leider wieder abziehen, wir hatten eben nur den gleichen | |
Weg.“ „Aber warum stehen Sie dann hier?“ „Reine Neugier.“ „Machen S… | |
mit, wir müssen noch mehr werden, damit sich was ändert!“ Was sich denn | |
ändern müsse, fragte ich. | |
Sie schwadronierte über verlorene Freiheiten, schimpfte mit sanfter Stimme, | |
aber deutlichen Ansagen über die Regierung und tadelte die bösen | |
Amerikaner, die ja so viel Mist gebaut hätten auf der Welt. Man solle sich | |
nicht wundern, wenn [2][Russland dann so reagiere], die hätten sich halt | |
bedroht gefühlt. Und nun gehe unsere Wirtschaft ja auch noch den Bach | |
runter. | |
„Wissen Sie“, sagte ich bedeutungsschwanger, „ich bin in Kabul zur Welt | |
gekommen, es gibt kein klares Gut oder Böse. Afghanistan ist das beste | |
Beispiel dafür.“ Weder die USA noch die Sowjets haben dem Land gutgetan. | |
Beide hätten Hunderttausende auf dem Gewissen. Alles sei halt komplexer, | |
als auch ich es mir wünschte. Und: Nichts könne den Angriff Putins auf die | |
Ukraine rechtfertigen. | |
Eine Weile ging es hin und her, zu meinem Erstaunen blieb sie – trotz ihres | |
Furors in der Sache – persönlich sehr zugewandt. Irgendwann legte sie mir | |
mütterlich die Hand an die Wange, schaute mich lächelnd an und sagte: „Ich | |
weiß, viele Argumente mögen vielleicht auf Ihrer Seite liegen, [3][aber mir | |
gibt mein Gefühl recht.]“ | |
Tagelang dachte ich noch über ihre Worte nach. Ohne ihre Hand an meiner | |
Wange hätte ich die Begegnung vermutlich schnell verdrängt. Sollte ich beim | |
nächsten Mal so jemanden zwischendurch vielleicht einfach mal umarmen, | |
während ich weiter argumentiere? Wenn die Begegnung dafür nachwirkt?! Ist | |
halt alles komplizierter, als man es sich wünscht. | |
16 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Wissenschaft-ueber-Pop-und-Populismus/!5829030 | |
[2] /Protest-gegen-Energie--und-Sozialpolitik/!5876115 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Alternative_Fakten | |
## AUTOREN | |
Bobby Rafiq | |
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