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# taz.de -- Eine Ode an den Bioladen: Schnuckelig und natürlich bio
> Natürlich kann man den Besuch eines Bioladens auch als Distinktionsgewinn
> sehen. Aber man kann sich da, weiß unser Kolumnist, auch einfach
> wohlfühlen.
Bild: Auch Obst, besser halt doch bio
Ich habe mich verliebt. In einen Bioladen. Nee, nicht in einem Bioladen.
Das Objekt meiner Begierde ist der Laden selbst. Wer hätte das gedacht!
Zwanzig Jahre schon [1][lebe ich in meinem Kiez], erst seit wenigen Monaten
jedoch bin ich so etwas wie ein Stammkunde im benachbarten Biokleinod, mit
Bäckerei, Mittagstisch und einer schlichten, aber einladenden Sitzecke aus
Holz. Jobbedingt treibe ich mich nun öfter auf dieser Seite Kreuzbergs
herum, und auf dem Weg dorthin liegt der Laden. So kam eins zum anderen.
In dieser schnuckeligen Ecke sitze ich nun ständig und beobachte die Leute.
Zu oft wandert mein Blick dann über meinen Rechner, die Zeitung oder das
Buch hinweg in Richtung des Verkaufsbereichs vor mir. Bioprokrastination.
Ich kann nicht anders, zu groß ist das Kino: Rechts von der Theke befindet
sich der Eingang, mit dem ersten Schritt über die Türschwelle treten die
Kund:innen direkt an die Vitrine heran und begutachten, leicht gebeugt
mit ausgefahrenem Hals, aufmerksam die Backwaren. Wie Jurymitglieder eines
Wettbewerbs mit einem, sagen wir mal, nicht gerade unterkomplexen
Auswahlverfahren.
Was mir jedes Mal auffällt und manchmal ein wenig gruselig-entrückt
anmutet: Beim Hineinkommen liegt den meisten ein Lächeln auf den Lippen.
Ob sie das bereits tun, bevor sie den Laden betreten oder das Lächeln erst
mit dem ersten Schritt in dieses gute Stück [2][Dinkel]deutschland
aufkommt? Ich weiß es nicht. Bislang ließ sich nicht herausfinden, ob es
echt oder aufgesetzt ist. Aber warum sollte man einen Bioladen mit einem
aufgesetzten Lächeln betreten?
Für viele ist es die pure Freude auf (einigermaßen) gesundes Essen. Bei
vielleicht gar nicht mal so wenigen aber wird es womöglich das Lächeln des
Distinktionsmerkmals sein. Bio als habitueller Booster für das eigene
Selbstwertgefühl: Ich lebe bewusst. Ich ernähre mich gesund. Ich kann es
mir leisten, andere nicht. Hihihi. Und sobald man hineinkommt, wähnt man
sich unter Gleichgesinnten.
Zu Schulzeiten hatte ich einen Kumpel, dessen Eltern einen Bioladen
besaßen. Das war, als Bioprodukte noch mit Goldbarren bezahlt wurden und
reguläre Supermärkte sie nicht als Massenware feilboten. Konventionelle
Backwaren wurden nicht so massiv wie heute mit chemischen Triebmitteln,
Enzymen und sonst was vollgepumpt. Der Teig bekam noch Zeit, [3][Gluten war
für die meisten ein Fremdwort und Laktoseintoleranz ein Zungenbrecher].
Wir belächelten unseren Kumpel gern mal. Zu zwanghaft wirkte sein Drang, um
jeden Preis ein gesundes Leben führen zu wollen. Manchmal so sehr, dass man
sich fragte, ob das überhaupt noch gesund sein kann. Solche Personen
begegnen einem heute an jeder Ecke. Trotzdem: Für mich dominieren
inzwischen weder die (unbewussten) Verfechter eines Bioklassismus noch die
Leute vom obsessiven Schlage meines alten Freundes.
In meinem recht heterogenen Umfeld steigt Jahr für Jahr die Anzahl der
Biokonsumenten. Aus einem einfachen Grund: Weil ihnen bestimmte
konventionell produzierte Lebensmittel nicht mehr bekommen, chronische
Leiden entstehen und sie nach Linderung lechzen.
Seit meinen frühen Teenagertagen plagt mich eine launische, inzwischen
medizinisch erwiesene Laktoseintoleranz, mal stärker ausgeprägt, mal
weniger drastisch. Seit einigen Jahren wird sie durch eine ähnlich
launische Fruktoseintoleranz flankiert. Ich konnte oder wollte mir nicht
immer Bio leisten. Ich weiß aber, dass ich es mir nun öfter leisten muss,
so weit möglich, weil der Körper sonst weiter streikt.
Wahrscheinlich betrete auch ich meinen Bäcker längst mit einem entrückten
Lächeln – allerdings ohne jede Distinktion. So hoffe ich.
28 May 2024
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## AUTOREN
Bobby Rafiq
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