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# taz.de -- Zum Mord an Maryam H.: Ehrenmord, My Ass!
> Wie kann eine Familie, die sich für ehrenhaft hält, morden? Unser
> Kolumnist denkt über den „Ehrenmord“-Begriff, den Duden und andere Fragen
> nach.
Bild: Ein Kranz an der Gedenkstelle für Hatun Sürücü in Berlin-Neukölln er…
Schon 2009 hat der Duden den Begriff „Ehrenmord“ aufgenommen. DER Duden!
Neben Gartenzwergen, Beherbergungsverboten und Blitzkrieg ist dieses
Nachschlagewerk wohl mit das Deutscheste, was es gibt. Integration also
gelungen, oder etwa nicht?
Klingt unangebracht und pietätlos? Yep! Genauso wie weite Teile jener
Debatte, die nach einem „Ehrenmord“ ausbricht wie ein Vulkan mit
Affektstau. [1][Der Mord an der Afghanin und Neu-Berlinerin Maryam H.] ist
abscheulich, den Tätern gebührt meine volle Abneigung und Missachtung. Es
gibt kein gutes Mordmotiv, außer es handelt sich um Bin Laden oder Hitler.
Der Duden definiert „Ehrenmord“ als „Mord an einem (weiblichen)
Familienmitglied, für den als Motiv die Wiederherstellung der Familienehre
angegeben wird“. Wie soll etwas wiederhergestellt werden, was vorher gar
nicht existierte? Denn: Wie kann eine Familie, die sich für ehrenhaft hält,
morden?
Tja, es ist ein Leichtes, als vermeintlich aufgeklärter Mensch die Lage
bewerten zu wollen und mit scheinbar klugen Sätzen zu punkten. Zielführend
sind sie nicht und mit dem eigentlichen Problem haben sie so viel zu tun
wie Donald Trump mit Nina Simone.
## Das ist kein Whataboutism
Können wir endlich aufhören, solche Diskussionen zum Beispiel entlang der
Frage nach gelungener oder gescheiterter Integration zu führen? Was
bezwecken Politiker:innen damit – wie gerade mal wieder
CDU-Spitzenmensch Kai Wegner, wenn sie nun eine „offene Debatte über
gescheiterte Integration“ fordern?
Es ist müßig, selbst im Jahr 2021 darauf hinzuweisen, dass Integration in
die „Aufnahmegesellschaft“ leider weder ein Garant für ein gewaltfreies
Leben noch für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung ist. Bräuchte es sonst
Initiativen wie #MeToo, Frauenquoten oder das Rücktrittsangebot von
Kardinal Marx als Reaktion auf Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen? Fast
jeden dritten Tag wird irgendwo in Deutschland eine Frau von einem – ihrem
– Mann ermordet, täglich gibt es einen Mordversuch.
Nee, das ist kein Whataboutism. Ich bin weiterhin beim hirnlosen Prinzip
des „Ehrenmordes“. Hirnlos trifft es wahrscheinlich ganz gut, denn es
dominieren diffuse Gefühlslagen und kollektive Zwänge. Das Emotionale und
Zwanghafte dahinter zu erkennen und anzugehen, könnte die Zahl der Opfer
tatsächlich reduzieren, als stattdessen beim Buhlen um
Wähler:innenstimmen sinnentleerte Worthülsen über Integration zu
fauchen.
Seit Jahrzehnten stehen nach „Ehrenmorden“ Scheindebatten im Zentrum der
öffentlichen Aufmerksamkeit. Wiederholt ist von „dem Islam“ und „den
Muslimen“ die Rede, vorwurfsvoll wird dann im Koran geblättert.
In Deutschland leben mehr als 5 Millionen Menschen, die dem Islam
zugerechnet werden. Müssten wir dann nicht jeden Tag mit mehreren Dutzend
Ehrenmorden konfrontiert sein, Dunkelziffer inklusive? Wieso sind wir das,
Allah sei Dank, aber nicht? Könnte es vielleicht, man glaubt es kaum, an
den Muslim:innen liegen? Weil die meisten von ihnen „Ehrenmorde“ genauso
verabscheuen, wie die edle „Aufnahmegesellschaft“ es tut?
## Selbstbewusste und autonome Personen
Ich bin in Kabul geboren, im Schoße einer afghanischen Großfamilie in
Berlin aufgewachsen. Hier sind wir rund 40 Personen, deutschlandweit
dreistellig. Mir ist keine einzige Zwangsheirat bekannt, wohl aber einige
arrangierte Ehen, vor allem in der ersten von inzwischen vier Generationen.
Die Frauen in unserer Familie sind selbstbewusste und autonome Personen.
Was wir uns so fragen? Was geht in den Köpfen der Täter vor, das Brüder
ihre eigene Schwester töten lässt? Ist es wirklich nur ein Problem
toxischer Männlichkeit? Welche Intensität kollektiven Schamgefühls spielt
dabei eine Rolle? Wie können wir als Gesellschaft einen Fuß in vulgäre
Familiengefüge bekommen, um Tatmotive irgendwann vollständig aufzulösen?
Diese Fragen sind bereits Teil des öffentlichen Diskurses, stehen aber
nicht im Zentrum wie die lustvollen Pauschalurteile in Richtung „der
Muslime“. Wenn sich weite Teile von „Mehrheit“ und „Minderheit“ diese…
Fragen stellen, wäre dann nicht eine gemeinsame Suche nach Lösungen
angebracht, statt niederträchtig geführte Integrationsdebatten und
Gegenüberstellungen wie Westliche Werte vs. Scharia? Es geht um Freiheit
vs. Unfreiheit, individuelle Emanzipation vs. kollektiven Zwang. Entlang
dieser Linien sollten wir sprechen.
Und Afghanen haben nach dem Scheiß-Egal-Abzug aus Afghanistan erstmal echt
keinen Bock auf „westliche Werte“, hinter denen am Ende doch wieder nur die
Taliban stehen. Und die schreiben Ehrenmord in Versalien.
15 Aug 2021
## LINKS
[1] /Femizid-an-34-jaehriger-Afghanin/!5788157
## AUTOREN
Bobby Rafiq
## TAGS
Kolumne Bobsens Späti
Frauenmord
Ehrenmord
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Femizide
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Milieu
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Rassismus
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