| # taz.de -- Ein Loblied auf den Berliner Hinterhof: Da, wo die Ringeltaube gurrt | |
| > Es heißt, dass keine andere europäische Stadt so viele Hinterhöfe besitze | |
| > wie Berlin. Und es gibt gute Gründe, die zu lieben. Auch wenn… | |
| Bild: Eine Ringeltaube, gurrt gern in Berlins Hinterhöfen | |
| Gleich morgens zeigen sich im Sommer Licht und Schatten des Berliner | |
| Hinterhofs, jedenfalls meines. Es ist irgendetwas zwischen sieben und | |
| sieben Uhr dreißig. Mein Wecker hat schon zwei- bis dreimal geklingelt, der | |
| Sinn des Lebens am frühen Morgen: snoozen! Ich fröne also dieser wohl | |
| listigsten technischen Innovation seit Erfindung der Glühbirne, Gezwitscher | |
| dringt durchs offene Fenster und gibt mir das Gefühl, mein Hinterhof sei | |
| eine einzige Voliere, bewohnt von unzähligen Singvogelarten, die es | |
| allesamt echt gut mit mir meinen. | |
| Wäre da nicht die Kita, die den Hinterhof als Spielplatz nutzt. Ohne jede | |
| Vorwarnung brüllt ein halbes Dutzend Kinder drauflos, sobald es den | |
| Spielplatz betritt. Sie schreien alle gleichzeitig, wirklich alle, und in | |
| einer Tonlage, dass Oskar Matzerath aus Schlöndorffs | |
| „Blechtrommel“-Verfilmung vor Neid erblasst wäre. Reminder: morgens um | |
| sieben! | |
| Hinterhöfe sind Schallverstärker mit besonderem Sound. Mein Hinterhof | |
| besteht aus mehreren Flächen verschiedener Häuser, die einen großen | |
| Innenschallraum bilden. Und der ist Kino für die Ohren. | |
| Tatsächlich gibt es mehr zu hören, als zu sehen. Hitchcocks „Das Fenster | |
| zum Hof“ hätte hier nicht entstehen können. Dafür ist der Abstand zwischen | |
| den Häusern zu groß, Einblicke in fremde Wohnungen gäbe es nur, wenn man | |
| sich weit aus dem Fenster lehnen und seltsam verrenken würde. Die Kulisse | |
| böte sich aber hervorragend für einen Podcast oder atmosphärische | |
| Radiofeatures an. | |
| Abends klappert Besteck, Jens Riewa spricht Nachrichten, Heidi Klum gibt | |
| Mädchenverachtendes von sich, Fußballer treffen das Tor nicht, später dann | |
| FSK 16: sinnliches Stöhnen vom Liebespaar aus dem Nachbarhaus. Oder ist es | |
| ein Tinder-Match unten auf dem Hof, irgendwo zwischen den Wildrosen und dem | |
| Kirschbaum? | |
| In den vergangenen Jahrzehnten haben Hausgemeinschaften viele der einst | |
| öden Brachen zwischen Mülltonnen, Brandmauern und Fahrradständern begrünt. | |
| Berliner Hinterhöfe bekamen so eine eigene Flora und Fauna. Noch länger | |
| sind aber wohl die übliche große Kastanie und das Gurren der Ringeltaube | |
| Standard. Jeder Hinterhof hat ein solches Signature-Geflügel. | |
| Im Magazin des Berliner Mietervereins schreibt Jens Sethmann, dass wohl | |
| keine andere europäische Stadt so viele Hinterhöfe besitze wie Berlin. Es | |
| gibt sogar Hinterhofführungen. Nicht nur durch Prunkstücke wie die | |
| Hackeschen Höfe, die das größte geschlossene Hinterhofsystem Deutschlands | |
| bilden. Auf dem Plan mancher Touren stehen auch Orte wie die | |
| Regenbogenfabrik in Kreuzberg, die aus den Hausbesetzungen der achtziger | |
| Jahre hervorging. | |
| Viele Investoren nutzen die Bezeichnung „Höfe“ inzwischen als | |
| wertsteigernde Marke und sanieren komplette Häuserblocks aufwendig, gerne | |
| an Orten, wo Wohnungs- und Gewerbehöfe zusammenliegen. Nicht selten auf | |
| Kosten von Altmieter:innen, die verdrängt werden. Die soziale | |
| Entmischung läuft auf Hochtouren – und jede:r kann ihr Opfer werden. | |
| Was Heinrich Zille vor weit über einem Jahrhundert als sein „Milljöh“ | |
| beschrieb und womit er vor allem Elend und Armut in den Berliner | |
| Mietskasernen und deren Hinterhöfen meinte, ist heute glücklicherweise | |
| nicht mehr angesagt. Rattenplagen und Hinterhöfe als Müllhalden, lieblos | |
| gestaltete Flächen und zu viele Menschen auf zu engem Raum sind so zwar | |
| nicht mehr die Regel, aber weiterhin eine zu häufige Ausnahme. Und der | |
| Umgang mancher Eigentümer und Hausverwaltungen mit ihren Mieter:innen | |
| erinnert leider auch heute noch an Zilles Ausspruch: „Man kann mit einer | |
| Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.“ | |
| Im Vergleich zu dieser Hölle, die manch Mieter:in in Berlin ertragen | |
| muss, sind die Kreischkids auf meinem Hinterhof eine Wohltat, gleich | |
| gefolgt von der BSR, die die großen Tonnen über den Hof und durchs | |
| Treppenhaus zerrt wie widerspenstige Ochsen aus ihrem Stall. Hinterhof, ick | |
| liebe dir! | |
| 27 Jun 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Bobby Rafiq | |
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