# taz.de -- Buchautorin über den Berliner Witz: „Volle Kanne geradeaus“ | |
> Anfangs kam Roswitha Schieb gar nicht klar mit der Berliner Schroffheit. | |
> Nun hat sie eine Kulturgeschichte des Berliner Humors verfasst. | |
Bild: Heinrich Zilles „Lieschens Weihnachten“ aus dem Jahre 1914 (Ausschnit… | |
taz: Frau Schieb, was ist Ihr Berliner Lieblingswitz? | |
Roswitha Schieb: Auf diese Frage habe ich gewartet. Vielleicht der: Ein | |
älterer Junge, acht, fragt einen Sechsjährigen: Wie alt biste denn? Na | |
sechse. Haste denn schon mal jeroocht? Nee. Haste schon mal ne Molle | |
gezischt? Nee. Haste schon mal mitm Mädchen jeknutscht? Nee. Denn biste | |
ooch keene sechse. | |
Schnoddrig. | |
Straßengören halt. Oft sind das auch gar keine Witze, sondern Redensarten, | |
flotte Widerworte. | |
Der Berliner Witz ist also eher die Berliner Gewitztheit. | |
Genau, oft entsteht die im Dialog, da gibt ein Wort das andere. | |
Sie haben über schlesische Spuren in Berlin geschrieben oder einen | |
literarischen Reiseführer Breslau herausgegeben. Warum jetzt der Berliner | |
Witz? Droht er etwa auszusterben? | |
Ganz so schlimm ist es nicht. Es gibt ja die Berliner noch, auch wenn die | |
Milieus, in denen der Berliner Witz entstanden ist, teilweise weg sind. | |
Aber tatsächlich wird er immer wieder totgesagt. Schon 1850 beklagte sich | |
Fontane, der Berliner Witz sei auf den Hund gekommen. | |
In der Werbung, zum Beispiel in der U-Bahn, ist er tatsächlich nicht mehr | |
so präsent wie vor dem Mauerfall. | |
Als ich gerade in die taz gefahren bin, war in der U-Bahn eine Werbung des | |
Senats für das Masketragen: „Bevor du rumgurkst, zieh dir einen über die | |
Rübe.“ Oder die Aufschriften auf den BSR-Papierkörben, das steht schon in | |
der Tradition der Sprachspielereien. | |
Wer versteht das denn noch? Seit der Wende hat sich die Berliner | |
Bevölkerung zur Hälfte ausgetauscht. | |
Da kommt es bestimmt zu Missverständnissen. Nicht immer versteht der | |
Schwabe die Berliner Art. Ich hab sie ehrlich gesagt auch lange nicht | |
kapiert. | |
Sie sind 1982 aus Recklinghausen nach Berlin gekommen. | |
Dass diese Art von Schroffheit und einen vors Schienbeintreten nicht böse | |
gemeint ist, habe ich erst lernen müssen. Erst mal war ich geschockt, wie | |
grob die Leute reagieren, wenn man mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig | |
fährt. | |
Oder der Busfahrer, der vom Fahrgast mit einer Frage belästigt wird und | |
antwortet: Bin ick denn ’n Auskunftsbüro?! | |
Busfahrer, ganz schlimm. Irgendwann habe ich dann kapiert, dass man | |
zurücktreten muss. Verbal, meine ich. Dann geht es wunderbar weiter. | |
Wenn man die richtigen Widerworte findet. | |
Und oft ist es ja so, dass die Berliner Art tatsächlich grob ist und nicht | |
immer witzig. Das verstehen viele nicht. | |
[1][Raed Saleh bei Krömer]. Was für ein Witz. | |
Der Autor Thilo Bock ist auch großartig. Da ist vieles drin, was es auch | |
schon im 18. und 19. Jahrhundert gab. | |
Braucht der Berliner Witz den Dialekt? | |
Nicht immer, aber meistens schon. Der Berliner Dialekt hat so etwas Naives, | |
das kann man im Hochdeutschen gar nicht ausdrücken. Springen zwei Mädchen | |
Springseil, sagt das eine: Na, Dora, lass mir mal. Sagt die Lehrerin, die | |
dabei steht: Mich. Mich mal. Sagt das Mädchen: Okay, dann lass ihr mal! | |
Der Witz als Ergebnis eines Missverständnisses. | |
Und eines Sprachspiels mit dem Dialekt. Sagt das Mädchen zum Verehrer: Küss | |
mir, Kasimir. Kasimir: Mich, Mädchen, mich. Mädchen: Küss mir, Kasimich. | |
Gibt es diese Art von Witz denn auch in anderen Großstädten? | |
Köln hat Tünnes und Schäl, auch so ’ne Figuren. Das ist aber eine andere | |
Art von Witz, das ist nicht so schroff. | |
Stuttgart hat Häberle und Pfleiderer. | |
Wie sind die? | |
Langsam. | |
Der Wiener Witz ist noch viel fieser als der Berliner. Der tut erst | |
harmlos, aber dann … | |
Hintenrum? | |
Hintenrum. Sagt der Berliner: Ich schlag dir ein Auge aus. Sagt der andere: | |
Wenn du das noch mal machst, guck ich dich nicht mehr an. Der gleiche Witz | |
geht in Wien so: Ich schlag dir ein Auge aus, und das andere lass ich dir | |
zum Weinen. | |
Der Berliner Witz ist nicht hintenrum. | |
Nee, volle Kanne gradeaus. | |
Wie ist er denn entstanden? | |
Unter dem Soldatenkönig gab es rund ums Schloss eine gedrückte Atmosphäre, | |
weil jeder damit rechnen musste, von der Obrigkeit verprügelt zu werden. | |
Später entfaltete sich die öffentliche Lustbarkeit dann in | |
Massenschlägereien. | |
Bolle reiste jüngst zu Pfingsten … | |
Und fünfe wurden massakriert. Das ist auch so ein bisschen wie der Rap | |
entstanden. Erst kamen die Schlägereien, dann kam der Schlagabtausch. Aus | |
dem realen Schlagen wurde die Schlagfertigkeit. | |
Das war Mitte des 18. Jahrhunderts. | |
Während der französischen Besatzung war der Witz dann so eine Art, sich | |
durch die Verballhornung zu wehren. | |
Mach keine Fisimatenten. | |
Man benutzt den Wortschatz des Gegners, zieht ihn auf sein Niveau herunter | |
und macht ihn dadurch lächerlich. | |
Die Sprachspielereien gehen vor allem auf den schlesischen Einfluss zurück, | |
schreiben Sie. | |
Das ganze Redaktionsteam der Satirezeitschrift Kladderadatsch waren | |
jüdische Schlesier aus Breslau. Die haben dann sehr erfolgreich den | |
schlesischen und jüdischen Witz mit dem berlinischen vermengt. Damals hieß | |
es, der Kladderadatsch habe ganz Deutschland vor dem Einschlafen bewahrt. | |
Wie politisch ist der Berliner Witz? | |
Schon zu Zeiten der Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts hatte er eine | |
Ventilfunktion. Wegen der Zensur hat man dann versucht, um die Ecke zu | |
reden. | |
Auch in der Nazizeit? | |
Da gab es einmal den jüdischen Witz, etwa wenn der gelbe Stern | |
selbstironisch „Pour le Sémite“ genannt wurde. Daneben gab es großartige | |
sprachspielerische Kabarettisten wie Werner Finck und einen Volkswitz, | |
allerdings durchaus nicht nur von Nazigegnern. | |
Berlin gilt heute als Stadt, in der man alles darf, aber nichts | |
funktioniert. Was hat der Berliner Witz zum Image der Stadt beigetragen? | |
Herz mit Schnauze? Da ist natürlich was dran. Und Berlin ist ’ne flotte | |
Stadt, nicht so lahm und behäbig. Tempo, und gleichzeitig muss man sehen, | |
wo man bleibt. | |
Roswitha Schieb: Der Berliner Witz. Elsengold-Verlag, 240 Seiten, 25 Euro | |
26 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=VJb5EVlBaOE | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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