Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Altberlin: Einmal Zille-Bulette mit Milljöh, bitte!
> Der Name Heinrich Zille steht heute für Berlin-Folklore mit flotten
> Sprüchen und deftiger Küche. Das "Milljöh", das der vor 150 Jahren
> geborene Kleine-Leute-Chronist beschrieb, ist längst aus dem Stadtbild
> verschwunden.
Bild: Det war Zille sein Milljöh, höhö!
Für den 150. Geburtstag des Kleine-Leute-Chronisten Heinrich Zille am
heutigen Donnerstag ist Berlin bestens gerüstet - zumindest gastronomisch.
Für Fans des "Milljöhs" bietet die Stadt das ganze Jahr über eine solide
Infrastruktur von der Zille-Speise bis zur Zille-Themenreise. In den
Katalogen großer Reiseveranstalter kann man eine Übernachtung im
Traditionshotel mit Altberliner Charme am Potsdamer Platz buchen -
Einrichtung im Gründerzeitstil mit "original erhaltenen Stücken", Berliner
Innenhof und Zille-Teller im Restaurant inklusive. Im Ratskeller Köpenick
führt Volksschauspieler Jürgen Hilbrecht das Zille-Potpourri "Det war sein
Milljöh" auf. Dazu gibt es das Buffet "Berlin Alexanderplatz mit
Lieblingsspeisen von Heinrich Zille und dem Alten Fritz" mit Salaten von
der Kaltmamsell und Variationen von Köpenicker Räucherfischen.
Der Zille-Teller, besonders gern in Restaurants rund um Kudamm und
Potsdamer Platz serviert, ist ein Klassiker der Berlin-Folklore wie
Berliner Weiße mit Schuss oder Eisbein mit Sauerkraut. Im "Boulevard
Friedrichstraße" besteht er aus "pikanter Sülze mit Sauce Tatare,
Bratkartoffeln, Zwiebelringen und Salatgarnitur". Zille zieht, das hat die
Berliner Gastronomie längst erkannt. Mit Zille-Buletten, Zille-Zeichnungen
an den Wänden und Zille-Sprüchen auf der Speisekarte bemüht man sich nach
Kräften, das preußische Berlin der Kaiserzeit wieder auferstehen zu lassen.
Dabei offenbart die Heinrich-Zille-Sülze auf dem Teller das ganze Elend der
heutigen Zille-Rezeption: Der in Armut aufgewachsene Zeichner, Grafiker und
Fotograf, dem es ein Anliegen war, das Elend der Großstadtproleten zwischen
Fabrik, Mietskaserne und Kneipe abzubilden, muss herhalten für Folklore der
billigsten Art.
In den holzgetäfelten Gaststuben Alt-Berliner Machart hängen fast
ausschließlich Zeichnungen aus den Büchern "Kinder der Straße" (1908),
"Mein Milljöh" (1913) und "Hurengespräche" (1921): Deren derb-komisches
Personal - die pummeligen Hinterhof-"Jören", der Eckensteher Nante und die
dicken Huren des "Milljöhs" - wird gern genommen, um den berüchtigten
Berliner Humor aus Herz und Schnauze zu illustrieren: "Mutter, jib doch mal
die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!"
Der Sohn eines stets bankrotten Uhrmachers, den die gehobene Berliner
Gesellschaft als "Abortzeichner" schmähte, war beim Volk schon zu Lebzeiten
als "Pinselheinrich" populär. Inzwischen aber kennt man ihn nur noch als
betulichen "Papa Zille" mit Berliner Mutterwitz. Die Schwarzweißfotografien
von ausgezehrten Arbeitern und Lumpenbettlern, die das Mitglied der
Berliner Secession ebenfalls produzierte, bekommt der Tourist nicht zu
Gesicht.
Bis auf die Zille-Gesellschaft und das vom Urenkel des Künstlers gegründete
Museum ist das Vermächtnis des Chronisten fest in der Hand von
Tourismusvermarktern und kitsch-affinen Nostalgikern. Die Hochburg des
Zille-Trashs ist das Nikolaiviertel an der Klosterstraße. In der Kulisse
dieses DDR-Disneylands aus Betonplatten mit Stuckverzierung gruppieren sich
die Zille-Stuben und die Zille-Distille, das Zille-Museum und ein Theater,
das für seine Zille-Revue bekannt ist. Weil er sich der werktätigen und
unterdrückten Massen annahm, wurde der Künstler in der DDR als Freund des
Proletariats hochgehalten.
In den Zille-Stuben schmunzelt man über eine Grafik auf den Tischdecken.
Ein dickes kleines Mädchen bietet ihrem Bruder den Rockzipfel zum Schnäuzen
an: "Drücken musste!" Dazu gibt es Märkischen Landmann vom Fass, ein
Kellner mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart serviert die Zille-Bulette mit
Setzei und Grützwurst. Das freut DDR-Fans und Touristen, die sich hier
gleichzeitig in der Kaiserzeit und in Ostberlin fühlen dürfen.
Posthum wurde auch das tatsächliche Stammlokal des Zeichners in diese
piefige Touristeninsel eingemeindet. Berlins älteste Gaststätte Zum
Nussbaum, wo Zille mit Eulenspiegel-Herausgeber Otto Nagel und Sängerin
Claire Waldoff trank, wurde im Krieg zerstört. Die DDR baute sie 1986
wieder auf - in direkter Nachbarschaft zu den Zille-Stuben und Läden, die
Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge verkaufen. Die Mulackritze, eine andere
Kneipe, die der Zeichner frequentierte, als er noch in Lichtenberg lebte,
gibt es gar nicht mehr. Nur der Tresen steht noch im Mahlsdorfer
Gründerzeitmuseum.
Dort, wo der gebürtige Dresdner Heinrich Zille am längsten lebte und
zeichnete, erinnert kaum etwas an ihn. Der Charlottenburger Kiez zwischen
Klausenerplatz und Kaiserdamm, wo er 37 Jahre seines Lebens verbrachte, ist
heute ein bescheidenes Wohnviertel mit Autowerkstätten, Dönerbuden und
Weinhandlungen in sanierten Gründerzeithäusern. Zilles ehemaliges Wohnhaus
in der Sophie-Charlotte-Straße 88 beherbergt ein mexikanisches Restaurant.
Die gußeiserne Gedenktafel aus dem Jahr 1931 wirkt auf der quietschbunten
Fassade wie ein Fremdkörper: "Hier wohnte vom 1. September 1892 bis zu
seinem Tode der Meister des Zeichenstiftes, der Schilderer des Berliner
Volkslebens".
Um die Ecke, in der Danckelmannstraße, verschwindet das "Milljöh" der
Zille-Zeit unter Schichten neuerer Geschichte: Die Straße war in den
1980er-Jahren eine Hochburg der Hausbesetzerszene. Man traf sich beim
"Dicken Wirt", wo weder Zille noch Che Guevara im Fenster hängen, sondern
ein Schwarzweißporträt von Elvis. Daneben künden Kinderläden, Ökobäcker u…
ein Innenhof mit Ziegen von der allmählichen Etablierung der Besetzer.
Nur die Nummer 46-47 lässt noch das Kleine-Leute-Viertel Zilles mit seinen
Arbeitern, Angestellten und kleinen Beamten erahnen. 1908 wurde dort das
erste deutsche Ledigenheim eröffnet. In den Einzelzimmern fanden bis zu 370
unverheiratete junge Männer Unterkunft, die sonst als "Schlafburschen" die
engen Mietwohnungen armer Familien übervölkerten. Das Schlafgängerwesen
galt damals als Gefahr für Moral und Familie. Jetzt wird das Haus als
Studentenwohnheim genutzt - für beiderlei Geschlecht. Die
Besuchsvorschriften des "Bullenklosters" waren streng, das belegt das
mahnende Fassadenrelief "Tages Arbeit, Abends Gäste".
In der Zillestraße hinter dem Schloss Charlottenburg erinnert einzig das
Straßenschild an den "Pinselheinrich". So richtig milljöhhaft geht es
ausgerechnet am großbürgerlichen Savignyplatz zu, wo der Zille-Markt gleich
eine ganze Speisekartenrubrik mit Leibgerichten des Malers bietet. Ein
venezolanisches Paar lässt sich den "Fleischtopf Jehobenes Milljöh"
schmecken und betrachtet fasziniert die mit Luftschlangen und
Zille-Zeichnungen geschmückten Holzwände. Wer Heinrich Zille war, wissen
die beiden nicht, aber das Interieur der Kneipe passt zur Stadt und zum
Wetter, finden sie. "Hier ist es schön warm und gemütlich. Nur dieses
schwere Bier zum fettigen Essen muss nicht sein", meint sie mit einem
kritischen Seitenblick auf ihren biertrinkenden Partner. Gut, dass die
beiden die Sprüche in der Speisekarte nicht verstehen: "Tu den Mund nicht
unnütz auf, red vernünftig oder sauf!"
Lehrreich ist immerhin die Anekdote, dass in den Kaschemmen der Kaiserzeit
die Löffel an den Tisch gekettet wurden. Kneipen der untersten Kategorie
nannte man Budike, Stampe, Piesel oder Destille. Die immerhin reimt sich
auf Zille. Ein sehr dünner Aufhänger, aber für findige
Hauptstadtgastronomen ein willkommener Vorwand, "Zillebier" zu brauen. Das
dürfte den eifrigen Kneipengänger Heinrich Zille gefreut haben. Und, wer
weiß? Vielleicht hätte der volkstümliche Zeichner die hemmungslose
Vermarktung seines Namens als Alt-Berliner Marke gar nicht so schlimm
gefunden. Immerhin hielt er schon zu Lebzeiten sein Gesicht für die
Zigarettensorte "Heinrich Zille" hin.
10 Jan 2008
## AUTOREN
Nina Apin
Nina Apin
## TAGS
Witze
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buchautorin über den Berliner Witz: „Volle Kanne geradeaus“
Anfangs kam Roswitha Schieb gar nicht klar mit der Berliner Schroffheit.
Nun hat sie eine Kulturgeschichte des Berliner Humors verfasst.
150 Jahre Heinrich Zille: "Zille war Gefühlssozialist"
Der Milljöh-Zeichner war auch Fotograf und scharfer Beobachter mit einem
politischen Blick auf die Ungerechtigkeiten seiner Zeit war,sagt Matthias
Flügge, Kurator einer Zille-Ausstellung in der Akademie der Künste.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.