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# taz.de -- 150 Jahre Heinrich Zille: "Zille war Gefühlssozialist"
> Der Milljöh-Zeichner war auch Fotograf und scharfer Beobachter mit einem
> politischen Blick auf die Ungerechtigkeiten seiner Zeit war,sagt Matthias
> Flügge, Kurator einer Zille-Ausstellung in der Akademie der Künste.
Bild: Heinrich Zille (links), 1925 umringt von Freunden bei einem Hofball zu se…
taz: Herr Flügge, Pinselheinrich, Arme-Leute-Maler, Multimedialist - wer
ist Zille wirklich?
Matthias Flügge: Was ist Zille? Ein Humorist, Karikaturist, Fotograf ist er
nicht, ein Künstler im klassischen Sinne auch nicht. Er ist jemand, der
versucht, seiner Lebenshaltung, die sehr widersprüchlich ist, einen
authentischen Ausdruck zu verleihen.
Zille wird aber dennoch von Kleinbürgern und Stammtischkonservativen
goutiert, die sich des Zille bemächtigen und damit ihre Kate ausschmücken.
Es gibt ja immer Leute, die sagen: "Zille, ach du Schande", die rümpfen die
Nase und sagen: "Det is irgendwie so Berliner Folklore und det kann man
voll vergessen." An dieser Rezeption war Zille nicht unbeteiligt. Obwohl er
immer versucht hat, gegenzusteuern, war ihm klar, dass er kleinbürgerliche
Ressentiments bediente in den Medien, die das von ihm erwarteten. Dazu
gibts eine Reihe von Selbstaussagen. Karl Arnold hat für den Simplicissimus
ein Blatt gezeichnet, wo so ein Bourgeois dem Zille eine Zigarre gibt und
sagt: "Nehmse ma noch ne frische Havanna, Meister Zille, Sie haben uns mit
ihren armen Leuten immer so viel Freude gemacht." Zille hat gesagt, er
schäme sich, dass das so wahr war.
Ist Zille demnach ein verkannter Künstler?
Zille ist nicht mal verkannt. Man kann nur verkennen, was in der Substanz
klar vorhanden ist. Zille ist einfach nicht greifbar.
Zille war mit Auftragsarbeiten weit erfolgreicher als mit seiner "Kunst".
Hat er sich "verkauft"?
Man fragt sich, warum er sich auf die doch sehr unterdrückende
Zusammenarbeit mit den Lustigen Blättern eingelassen hat, die Tucholsky
etwa als den letzten Abschaum deutscher Witzblätter betrachtete. Die waren
im Vergleich etwa zum Simplicissimus unter Niveau. Obwohl dort sehr gute
Leute arbeiteten. Walter Trier hat da gearbeitet, der junge Grosz, anfangs
auch Feininger. Zille hat sich dieser Gängelei mit manchmal sehr
fragwürdigen Ergebnissen unterworfen. Er kam ja aus ganz armen
Verhältnissen, hatte immer eine gewisse Existenzangst. Aber das ist nicht
der einzige Grund. Er hat das auch gemacht, weil er wusste, dass er in
diesen Blättern mehr und andere Leute erreicht als mit den letztlich
elitären Intellektuellenzeitschriften, für die er auch gearbeitet hat.
Außerdem war er politisch ein ziemlicher Wirrkopf, Gefühlssozialist,
keiner, der eine klare Idee hatte, wie die Gerechtigkeit, die er immer
ersehnt hat, herzustellen sei. Das hat er auch selber immer wieder gesagt,
dass es ihm nur darum ginge, da zu helfen, wo er helfen kann und wo er
sehen kann, was passiert. Wie geht einer mit so einer Situation um, der die
bürgerlichen Lebensmechanismen nicht beherrscht, sondern erst erlernen
muss. Der nur weiß, er kann besser kucken als andere Leute, er sieht Dinge,
die andere nicht sehen, und er hat eine Empathie zu den Menschen, deren
Umfeld er entronnen ist. Er zeigt sich dankbar dafür und will davon was
zurückgeben. Tut das auch in Form von Fünfmarkscheinen, hat aber auch immer
das Gefühl: Das kanns nicht gewesen sein, findet aber keinen anderen Weg.
Zilles Werk ist riesig. Wie haben Sie ausgewählt? Was wird in der
Ausstellung gezeigt?
Wir bringen Fotografien und Zeichnungen in eine so noch nicht konstruierte
Verbindung, um den inneren Werkzusammenhang von Zilles Arbeit in der Zeit
um 1900 zu zeigen. Zwischen 1896 und 1902 entstanden die wichtigsten
Fotografien, da entwickelte er Themen und Formen, die bestimmend blieben.
Wir haben uns auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschränkt.
Die Ausstellung heißt "Kinder der Straße", was 1908 der Titel von Zilles
erster eigener Buch-Veröffentlichung war, mit Anspielung auf Paul Heyses
damals berühmten Roman "Kinder der Welt", ein Titel, der Menschen meinte,
die aus dem religiösen Zusammenhang ins Säkulare entlassen sind und nicht
mehr als Kinder Gottes daherkommen. Zille hat dies noch mal gesteigert, um
die Heimatlosigkeit des großstädtischen Lebensgefühls, wie es vom
Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts geprägt und künstlerisch umformt
war, wachzurufen.
Obwohl die Fotografien bereits in den 60ern aufgetaucht sind, scheinen sie
vielen doch unbekannt zu sein. Was ist die Geschichte der Zille-Fotos?
Der Fackelträgerverlag in Hannover hat 1966 Friedrich Luft beauftragt, ein
Buch über Zilles Fotografien zu machen, die bis dahin unbeachtet in Zilles
ehemaliger Wohnung lagen. Das war damals nicht sehr erfolgreich. 1975 hatte
dann der Schirmer/Mosel-Verlag den richtigen Riecher. Er hat den jungen
Kunsthistoriker Winfried Ranke mit der Bearbeitung beauftragt, der dann
erstmals die Bilder lokalisierte und datierte. Sie organisierten damals
eine Wanderausstellung, die großes Aufsehen erregte. Nachdem über vielerlei
Umwege die Originalnegative und Zilles Kontaktabzüge in die Berlinische
Galerie gekommen sind, wurde Enno Kaufhold mit dem wissenschaftlichen
Werkverzeichnis beauftragt.
Seither ist nicht mehr viel passiert. Schirmer hatte schon 1985 den
genialen Einfall, den damals noch nicht so bekannten Fotografen Thomas
Struth zu beauftragen, die Negative neu zu printen. Das sind die Sachen,
die wir jetzt hier erstmals sehen können. Danach haben noch Michael Schmidt
und Manfred Paul Abzüge gemacht, von denen wir auch einige haben, und dann
sind da noch die Originale, die Vintage-Prints. Man muss wissen, dass Zille
selber immer nur einen Kontakt gemacht hat. Er hat die Bilder nie
vergrößert oder auf irgendwelche Edeldruckverfahren hochgezogen.
Heute würde man Zilles Herkunft als eine aus dem Prekariat bezeichnen, das
auch heute kaum ein Hort kritischen politischen Bewusstseins ist.
Zille kam aus einem autodidaktischen Verhältnis zur Kunst, das handwerklich
geprägt war, er hat ja die Preise seiner Arbeiten immer nach der Zeit der
aufgewendeten Arbeit bestimmt und nicht nach irgendwelchen
kunsthandelsmäßigen Marktwertkriterien. Er dachte, dass, wenn er seinen
Erfahrungsschatz nach außen trägt, er damit eine Form von sozialem
Verantwortungsgefühl wachrufen kann. So hat er sich allen überindividuellen
Konzepten der Weltverbesserung verweigert. Zille hat davor kapituliert,
letztendlich. Er ist aus diesem Zwiespalt nie rausgekommen.
9 Jan 2008
## AUTOREN
Heinrich Dubel
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