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# taz.de -- Gedenken an Hanau in Berlin: Hanau ist Neukölln ist überall!
> Tausende Menschen – diverser als United Colors of wem auch immer – auf
> der Straße: Überwältigend. Nicht nur die Zahl, die Art und Weise
> beeindruckte.
Bild: Zum Gedenken der Toten in Hanau
Vergangenen Samstag wartete ich am oberen Ende der Sonnenallee auf einen
Freund, als sich der [1][Gedenkzug für die Opfer] von Hanau näherte. 900
Personen wurden erwartet, es kamen rund zehnmal mehr. Die Masse war
überwältigend. Nicht ihre Größe allein, die Art und Weise beeindruckte.
Tausende, zumeist junger Menschen – diverser als United Colors of wem auch
immer – liefen erhaben, stolz und trotz staatlich verordneter Vermummung
sichtbar nachdenklich Richtung Hermannplatz.
Am Anfang des Zuges trugen sie ein schwarzes Transparent, darauf die Worte
„Erinnerung“, „Aufklärung“, „Gerechtigkeit“, „Konsequenz“, dar…
#SayTheirNames und die Konterfeis von Ferhat, Gökhan, Hamza, Said,
Mercedes, Sedat, Kaloyan, Vili und Fatih. Alle im Alter der
Protestierenden.
Mit klarer Stimme rief eine Rednerin die von der Masse andächtig
nachgesprochenen Namen ins Mikro. Jeder Einzelne ein Mahnmal für mangelnde
Aufklärung, fehlende Gerechtigkeit und ausbleibende Konsequenzen. Das
Kollektiv der Teilnehmer:innen strahlte tiefe Erschöpfung und
gleichermaßen höchste Wachsamkeit aus.
Ich war ergriffen und voller Zorn. „Hanau ist überall“, heißt es seit ein…
Jahr. Das stimmt. Die Shishabar, der Kiosk, Heumarkt und Kesselstadt,
ähnliche Orte gibt es im ganzen Land. In Teilen Neuköllns sieht es an jeder
zweiten Ecke so aus. Einem Bezirk, in dem seit Jahren Rechtsextreme
unbescholten Anschläge verüben können. Selbst der Innensenator sprach von
rechtem Terror. In jenem Stadtteil, über den der damalige
Bezirksbürgermeister den Bestseller „Neukölln ist überall“ schrieb.
Friedensnobelpreisverdächtig war das Werk nicht.
Vor 30 Jahren, im Herbst 1991, schlug der 23-jährige Michael S. am
Adenauerplatz Mete Ekşi, einen Kreuzberger mit türkischen Wurzeln, nieder.
Wenig später erlag der 19-Jährige seiner schweren Kopfverletzung. Es war
eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen junger Berliner, türkischer
und deutscher Herkunft, in einer aufgeheizten gesellschaftlichen
Atmosphäre. Die Freunde des Opfers behaupteten, die andere Gruppe hätte sie
pöbelnd aufgefordert, gefälligst Deutsch zu sprechen. Im September erst
hatten damals im sächsischen Hoyerswerda Rassisten Migrant:innen und
ihre Unterkünfte angegriffen. Allein in den folgenden Wochen gab es knapp
80 weitere Attacken in Ost und West. Auch nach dem Tod von Mete Ekşi
formierte sich ein Trauerzug. Ich war einer von mehreren tausend jungen
Teilnehmer:innen. Die Lage eskalierte, es kam zu schweren Ausschreitungen.
1994 dann endlich das Urteil gegen den Täter: drei Jahre und neun Monate
Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Beteiligung an einer
Schlägerei. Rassismus als Tatmotiv verneinte die vorsitzende Richterin
vehement. Ein nichtrassistisches Motiv ließ sich aber auch nicht belegen.
Zur Tatzeit hatte der Hauptangeklagte 1,8 Promille intus und war bereits
wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung einer Frau türkischer
Herkunft vorbestraft. „Es gibt keine Gerechtigkeit für Ausländer in
Deutschland“, zitierte die taz nach dem Urteilsspruch Mete Ekşis Mutter.
Mit diesen Erinnerungen blickte ich auf die junge Menge in der Sonnenallee.
Heute sind die Motive klarer. Die Täter fühlen sich sicher, gehen
selbstbewusst vor. Bei der Polizei gibt es wiederholt gravierende Pannen.
NSU, NSU 2.0, Todesdateien, rassistische Chats Staatsbediensteter, Oury
Jalloh und struktureller Rassismus, es gäbe genügend Potential für
praxisorientierte Wut wie vor 30 Jahren.
Ich blickte also auf die Demo und dachte mir: Wie gut, dass ihr ruhig
bleibt. Wie gut, dass Ihr mit eurer Wut anders umgeht, als es damals den
meisten von uns gelungen war. Nachhaltiges Empowern statt kurzzeitiges
Auspowern und Wasser auf die Mühlen der Hater. Aber es braucht auch uns,
die nicht nur vom Straßenrand aus in Erinnerung schwelgen, sondern die
Wucht der Masse steigern, in allen Bereichen und auf allen Ebenen – fast
allen.
27 Feb 2021
## LINKS
[1] /Gedenken-an-Hanau-in-Berlin/!5753399
## AUTOREN
Bobby Rafiq
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
Kolumne Bobsens Späti
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Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Rassismus
Identitätspolitik
Schwerpunkt Rassismus
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