| # taz.de -- Buch von Séverine Autesserre: Friedenspolitik von unten | |
| > Die globale Außenpolitik hat sich verrannt, wie sich zurzeit in | |
| > Afghanistan offenbart. Séverine Autesserre zeigt in ihrem Buch, wie es | |
| > anders geht. | |
| Bild: UN-Mission in Afghanistan 2005: Helikopter bringen Wahlunterlagen in ein … | |
| Der Sieg der Taliban in Afghanistan erschüttert das westliche | |
| Selbstbewusstsein. Nation-Building sei nie das Ziel der Intervention | |
| gewesen, behauptet US-Präsident Joe Biden. Armin Laschet, der Deutschlands | |
| nächster Bundeskanzler werden will, konstatiert die größte Krise der Nato | |
| seit ihrer Gründung 1949, denn „das Ziel des Systemwechsels, militärisch | |
| einzugreifen, um eine Diktatur zu beenden, um eine Demokratie aufzubauen, | |
| ist fast durchgängig gescheitert“. | |
| Seine Parteikollegin und Bundesverteidigungsministerin Annegret | |
| Kramp-Karrenbauer sagt unverblümt, es sei misslungen, „aus Afghanistan ein | |
| anderes Land zu machen“. | |
| Demokratie und Nationenaufbau sind aus dieser Sichtweise Dinge, die man | |
| Afghanistan von außen aufpfropft. Die Taliban sind demgegenüber eine Art | |
| Naturzustand. Es ist eine fatalistische und zugleich imperiale Sichtweise, | |
| die komplett ausblendet, was Afghaninnen und Afghanen selbst wollen, denken | |
| und tun – und warum. | |
| Diese Sichtweise behandelt Afghanistans Zukunft am liebsten auf | |
| Friedenskonferenzen im Ausland – von der Petersberger Konferenz nahe Bonn | |
| Ende 2001, die nach der US-Eroberung den Grundstein für die politische | |
| Neuordnung des Landes legte, bis zu den Verhandlungen in Katars Hauptstadt | |
| Doha 2019/20, [1][auf denen US-Präsident Donald Trump mit den Taliban (und | |
| nicht etwa mit Afghanistans legitimer Regierung) den Abzug der US-Truppen | |
| aushandelte] und ihnen damit die politische Legitimität zurückgab, die ihre | |
| Gegner demoralisierte. Wieso soll man einen Feind bekämpfen, dem die eigene | |
| Schutzmacht gerade das eigene Land schenkt? | |
| ## Eigene Denkmuster infrage stellen | |
| Man muss gar nicht weiter gehen, um zu verstehen, warum das westlich | |
| gestützte Afghanistan wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist. Die | |
| westliche Politik aber rätselt lieber über eine überraschend | |
| „kampfunwillige“ afghanische Armee und erkennt das Problem nicht. Denn | |
| dazu müsste sie die eigenen Denkmuster infrage stellen. | |
| Das Lebenswerk der an der Columbia University in den USA lehrenden | |
| [2][französischen Politologin Séverine Autesserre] besteht darin, diese | |
| Denkmuster zu dechiffrieren. | |
| „The Trouble with the Congo“ (2010) analysiert das Scheitern der | |
| internationalen Friedenspolitik in der Demokratischen Republik Kongo, wo | |
| Autesserre jahrelang gearbeitet und unter anderem Ärzte ohne Grenzen | |
| beraten hat; „Peaceland“ (2014) erweitert diese Erkenntnisse in einer | |
| brillanten Ethnografie der globalen Industrie des „Peacebuilding“; und nun | |
| legt sie mit „The Frontlines of Peace: An Insider’s Guide to Changing the | |
| World“ (2021) praktische Alternativen vor, Handlungsanstöße für eine | |
| bessere Politik. | |
| ## Distanz zur lokalen Bevölkerung | |
| Autesserre beschreibt aus eigener Erfahrung den Unsinn, der passiert, wenn | |
| „Friedensschaffer“ von einem Kriegsgebiet zum anderen hüpfen, mit jedem | |
| Landeswechsel Karriere machen, überall das gleiche Standardrezept anwenden, | |
| sich möglichst wenig auf die jeweiligen Umstände einlassen und möglichst | |
| große Distanz zur lokalen Bevölkerung wahren. | |
| Sie leben in ihrer eigenen Blase und ihrer eigenen Welt. Jeder, der Zeit in | |
| Dauerkrisenhauptstädten verbracht hat, von Kabul über Juba bis Priština, | |
| wird diese Welt wiedererkennen – samt der Arroganz und des ständigen | |
| Politikversagens, für das man dann die Einheimischen verantwortlich macht. | |
| Afghanistan-Erfahrung hat Autesserre nicht, aber ihre wenigen Sätze dazu | |
| illustrieren ihre Gesamtanalyse. „ ‚Peacelander‘ und Politiker betonen | |
| meistens die nationalen und internationalen Dimensionen von Afghanistans | |
| Kriegen: die Rebellionen, die der kommunistische Putsch von 1978 auslöste, | |
| die sowjetischen und amerikanischen Invasionen und der aktuelle Kampf der | |
| Regierung und ihrer westlichen Verbündeten gegen die Taliban und ihr | |
| internationales Netzwerk. | |
| Es stimmt, dass all diese Konflikte seit über 40 Jahren ausgedehntes | |
| Blutvergießen verursacht haben. Aber das haben auch andere Problemfelder, | |
| die Afghanen erwähnen, sobald Forscher sich die Zeit nehmen, mit ihnen zu | |
| sprechen: Streit um lokale Macht, Land, Wasser, Schulden, Hochzeiten, | |
| Scheidungen und andere persönliche und finanzielle Dinge. Die Elitekämpfe, | |
| von denen die Auswärtigen ständig reden, schüren diese Spannungen – und | |
| werden von ihnen geschürt.“ | |
| ## Frieden von oben | |
| Ähnliches stellt sie für Südsudan fest, für Darfur, für Kongo, Osttimor, | |
| Liberia, die Zentralafrikanische Republik und andere Länder, und sie | |
| fordert ein anderes Herangehen. Zwar seien nationale und internationale | |
| Friedensprozesse wichtig – aber sie allein beenden Konflikte nicht. | |
| „Frieden von oben zu schaffen beendet nicht notwendigerweise Spannungen vor | |
| Ort. Wenn wir Gewalt in Konflikt- und Postkonfliktsituationen verstehen und | |
| damit umgehen wollen, müssen wir den Blick weiter richten als auf Eliten, | |
| Regierungen und Rebellenführer und auch provinzielle, lokale und | |
| individuelle Motivationen einbeziehen. Konflikte müssen von oben und von | |
| unten gelöst werden.“ | |
| Es klingt einfach und selbstverständlich – ist es aber nicht. Autesserre | |
| erzählt, wie schief sie angesehen wird, wenn sie Diplomaten mit ihren | |
| Thesen konfrontiert. Sie beschreibt den kongolesischen Unternehmer Michel | |
| Losembe, der merkte, dass internationale Kongo-Experten ihn nicht ernst | |
| nahmen, weil er Kongolese war. | |
| „Losembe, der gemischter afrikanischer und europäischer Abstammung ist | |
| und hellhäutiger als die meisten Kongolesen, unternahm ein soziales | |
| Experiment. Auf einem Treffen im Ausland gab er sich als Puertoricaner | |
| aus. Die Teilnehmer verhielten sich ihm gegenüber völlig anders, als er es | |
| je erlebt hatte. Ausländische Helfer sprachen ihn respektvoller an, hörten | |
| ihm aufmerksamer zu und nahmen seine Ideen ernster.“ | |
| ## Begrüßte Taliban | |
| Das Buch nennt Positivbeispiele: [3][lokale Friedensprozesse im Ostkongo] | |
| oder die international nicht anerkannte Republik Somaliland, die seit | |
| 30 Jahren den einzigen funktionierenden Staat auf somalischem Boden hat. | |
| In Afghanistan identifiziert Autesserre mit aller Vorsicht die Provinz | |
| Balkh um Masar-i-Scharif, die weniger Gewalt erlebt habe als andere. Balkh | |
| ist inzwischen unter Taliban-Kontrolle, und ein BBC-Bericht schildert, | |
| Bewohner würden an den neuen Herren schätzen, dass Landstreitigkeiten jetzt | |
| ohne Schmiergeld vor Gericht verhandelt würden. So etwas erklärt, warum es | |
| Leute gibt, die die Taliban begrüßen. Um sie aufzuhalten, hätte man sich | |
| auch um so etwas rechtzeitig kümmern müssen. | |
| Gute Friedenspolitik, so Autesserre, beginnt mit den Menschen vor Ort. Man | |
| muss erkennen, was sie umtreibt, und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie man | |
| Probleme löst, die zu Konflikten führen – undogmatisch und flexibel. Nur so | |
| kann ein Frieden entstehen, den die Menschen als ihren eigenen anerkennen | |
| und bewahren. | |
| Es ist ein pragmatisches Politikverständnis, das gerade in Deutschland sehr | |
| wenig Anerkennung findet – nicht von ungefähr ist keines von Autesserres | |
| Büchern auf Deutsch erschienen. Deutschland setzt lieber auf | |
| Friedensmissionen und Gipfeltreffen, betreibt Außenpolitik lieber | |
| appellativ und theoretisch als praktisch. | |
| Autesserres zentraler Satz ist für die deutsche außenpolitische Debatte ein | |
| Fremdwort: „Die Menschen, die mit den Konsequenzen von Entscheidungen leben | |
| müssen, sollten die Entscheidungen treffen.“ | |
| Wie könnte eine gute Friedenspolitik für Afghanistan aussehen? Das müssen | |
| Afghanen beantworten. Irgendwann sind die Scheinwerfer der | |
| Weltöffentlichkeit nicht mehr auf Kabul gerichtet. Die Karawane der | |
| globalen Außenpolitik zieht weiter. Aber die Menschen bleiben. Wer etwas | |
| für sie tun will, sollte dieses Buch lesen. | |
| 21 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-Gespraeche-mit-Taliban/!5589677 | |
| [2] https://severineautesserre.com/ | |
| [3] /Neue-Gewalt-im-Ostkongo/!5775755 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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