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# taz.de -- Afghanistan nach Abzug des Westens: Nicht alles war umsonst
> Viele sind sich einig: Der Einsatz des Westens war sinnlos. Nur: Zählt es
> nichts, dass eine Generation von Afghaninnen zur Schule und arbeiten
> gehen konnte?
Bild: Ort der Freiheit: Grundschülerinnen in Kabul im März
Es sind Bilder, die sich für immer ins Gedächtnis einbrennen: Afghanen, die
sich an ein Transportflugzeug der US Airforce klammern und kurze Zeit
später vom Himmel fallen. Sie erinnern an die Aufnahmen vom 11. September,
als Amerikaner aus den brennenden Twin Towers sprangen. Die grausigen
Szenen in New York und Kabul markieren den Anfang und das Ende eines
20-jährigen westlichen Militäreinsatzes, der nun in der erneuten
Machtübernahme der radikalislamischen Taliban mündet.
Die [1][öffentliche Debatte und die Äußerungen der allermeisten
Politiker*innen in Deutschland drehen sich um die Frage der
Evakuierung von Ortskräften] und der akut bedrohten Menschen, vor allem
Frauen. Und es stimmt ja: Es macht fassungslos, dass die Bundesregierung
wertvolle Zeit hat verstreichen lassen, um all jene zu retten, ohne deren
Arbeit vor Ort schier gar nichts gelaufen wäre.
Man fragt sich, was Außenminister Heiko Maas (SPD) eigentlich beruflich
macht, wenn er noch [2][im Juni ausdrücklich betonte, er ginge nicht davon
aus, dass die Taliban alsbald die Macht übernähmen.] Jeder, der halbwegs
aufmerksam Zeitung liest oder auf Twitter unterwegs ist, hat damit rechnen
können. Das eigene diplomatische Team hat ihn gewarnt und in Kundus und
Masar-e Scharif, wo die Bundeswehr viele Jahre stationiert war, schufen die
Taliban binnen kürzester Zeit Fakten.
So berechtigt die Empörung über die im Stich gelassenen Ortskräfte also
ist, so bequem ist sie gleichzeitig. Vom grünen Spitzenduo Robert Habeck
und Annalena Baerbock, über die FDP bis hin zu Unionspolitikern – sie alle
reden über die Afghan*innen und ihre Familien, die es nun möglichst
schnell noch zu retten gilt. Gerade so, als sei damit das Schlimmste
verhindert und als gäbe es nicht noch Millionen andere, die den Taliban
nicht entfliehen können.
## 20 Jahre weniger Gewaltherrschaft
[3][Es geht dabei nicht nur um die Frauen, die sich politisch für ihre
Rechte eingesetzt haben.] Es reicht den Taliban schon, wenn eine vielleicht
mal Fußball gespielt, gesungen oder ein allzu selbstständiges Leben geführt
hat. Es reicht auch, Hazara zu sein, eine schiitische Minderheit in
Afghanistan, die von den ethnisch und politisch dominierenden Paschtunen
schon immer verachtet und von den Taliban als Heretiker angesehen werden.
Mit der Fokussierung auf die Evakuierungen drückt sich die große Mehrheit
in der politischen Debatte vor der eigentlichen Frage: War alles umsonst?
[4][War es der falsche Krieg und die ganze Mission damit von Anfang an zum
Scheitern verurteilt, wie Kolumnistin Bettina Gaus im Spiegel schreibt]?
Nun, auf jeden Fall können sich alle, die schon immer gegen den
Afghanistan-Einsatz waren, nun bestätigt fühlen. Der Westen hat mal wieder
einen Scherbenhaufen hinterlassen und alles falsch gemacht.
Doch stellen wir uns einmal für einen Augenblick vor, diese Haltung hätte
sich tatsächlich vor 20 Jahren durchgesetzt. Der Nato-Bündnisfall hätte
nicht zu „Boots on the ground“, sondern nur zu ein paar Wochen
Luftangriffen geführt. Es wäre kaum gelungen, international operierende
Terrorgruppen wie al-Kaida vom Hindukusch zu vertreiben.
Afghanistan wäre ein sicherer Rückzugsort für die Planung von Anschlägen
geblieben. Und selbst wenn man das Unwahrscheinliche annimmt, nämlich dass
es mit Luftschlägen und dem Einsatz von Spezialkommandos geglückt wäre, die
Terrorstrukturen zu zerschlagen, was ist mit der afghanischen Bevölkerung
selbst?
Ist es nichts wert, dass in den 20 Jahren eine ganze Generation junger
Frauen heranwachsen konnte, die zur Schule gehen und berufstätig sein
durfte? Spielt es keine Rolle, dass die bis dahin brutal unterdrückten
Hazara in dieser Zeit ein regelrechtes „Bildungswunder“ zustande brachten?
Ist es völlig egal, dass das Land – für afghanische Verhältnisse – zwei
Jahrzehnte lang relative Stabilität erlebte? Oder dass sich eine kleine,
aber eben nun existierende Zivilgesellschaft entwickelt hat?
## Orte relativer Freiheit
20 Jahre sind für eine Gesellschaft eine sehr lange Zeit. 2001 hatten die
meisten von uns Nokia-Handys; iPhones, Facebook und Twitter existierten
noch nicht. Angela Merkel war noch nicht einmal Kanzlerin und in deutschen
Restaurants und Cafés wurde hemmungslos geraucht. Das Afghanistan von heute
ist nicht mehr vergleichbar mit dem von 2001.
Die afghanische Gesellschaft hat weithin sichtbare Politikerinnen,
Rechtsanwältinnen und Journalistinnen erlebt,
Menschenrechtsaktivist*innen und halbwegs demokratische Wahlen. Mag
sein, dass sich vielerorts auf dem Land zu wenig verändert und die
radikalen Islamisten dort weiterhin das Sagen hatten. Doch es hat bisher
Orte relativer Freiheit gegeben, eine weibliche Fußballnationalmannschaft
und Medienvielfalt.
[5][Vielleicht reichen diese Entwicklungen nicht, um nachhaltig Widerstand
gegen die Taliban zu leisten.] Aber all das ist nicht nichts. Es stimmt
nicht, dass alles umsonst war, denn die Taliban können nicht dort
weitermachen, wo sie 2001 aufgehört haben. Die afghanische Regierung mag
auf katastrophale Weise versagt und der Westen die Menschen im Stich
gelassen haben. Dennoch haben gerade die jüngeren Afghan*innen in den
zwei Jahrzehnten Nato-Präsenz eine Vorstellung davon bekommen, wer sie sein
könnten und welches Potenzial ihr Land hat.
Unfreiwillig komisch wirkt dagegen, was ein langjähriger Kritiker des
Militäreinsatzes in Afghanistan diese Woche in der [6][Talk-Show
Maischberger zu sagen hatte. Gregor Gysi] von der Linkspartei schlug als
Alternative zur militärischen Intervention in Afghanistan allen Ernstes
„Wandel durch Annäherung“ vor. Hätte ja bei Willy Brandt und der DDR auch
geklappt. Vergleicht er hier wirklich Erich Honecker und seine Genossen mit
den Taliban?
## Schuldig auch durch Nicht-Handeln
Es lässt Zweifel aufkommen, ob Gysi auch nur annähernd verstanden hat, wer
die Taliban sind und was islamistischer Fundamentalismus bedeutet. Er
sollte einmal, und sei es nur für einen Tag, eine Burka überziehen und die
Welt durch ein blaues Gitter betrachten. Ich habe noch eine im Schrank, die
ich ihm gern ausleihen kann. Oder er müsste sich für ein Wochenende Videos
im Internet ansehen, auf denen Frauen gesteinigt, Schwule geköpft und
Dieben die Hand abgehackt wird.
Der Konflikt in Afghanistan sei militärisch nicht zu lösen, lautet ein
Mantra der deutschen Diplomatie und Politik. Nun, die Taliban haben gerade
das Gegenteil bewiesen. Und während sie eine Todesliste zusammenstellen und
beginnen, sie abzuarbeiten, wollen Politiker wie [7][Kanzlerkandidat Armin
Laschet] und Sozialdemokraten wie Rolf Mützenich mit ihnen verhandeln. Und
nicht nur CDU und SPD sind auf diesem Irrweg unterwegs, sondern auch
Außenpolitiker einer feministischen Partei wie die Grünen, wenn ihr
ehemaliger Minister Jürgen Trittin sagt: [8][„Der Versuch, Afghanistan ohne
die Taliban zu regieren, ist schlicht und ergreifend gescheitert.“]
Also hätte man es lieber mit den Taliban probieren sollen? Freundliche
Beziehungen pflegen vielleicht? Eine absurde Vorstellung. Die Taliban
können keine Verhandlungspartner sein. Eine Annäherung ist politisch und
menschlich falsch, sogar verwerflich.
Wer Militärinterventionen grundsätzlich ablehnt, dem muss klar sein, was es
weltpolitisch bedeutet: zusehen, wenn anderswo großes Leid geschieht – wie
in Ruanda, in Syrien oder bei den Jessid*innen im Irak. Das ist schwer
auszuhalten und moralisch fragwürdig. Nicht zu handeln kann ebenso großen
Schaden anrichten wie ein Militäreinsatz. Schuldig werden kann man auf die
eine wie die andere Weise.
20 Aug 2021
## LINKS
[1] /Dramatische-Lage-in-Afghanistan/!5788168
[2] https://www.youtube.com/watch?v=NIZAL0l3vnA
[3] /Frauenrechte-in-Afghanistan/!5794609
[4] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afghanistan-der-falsche-krieg-ko…
[5] /Protest-gegen-Taliban-in-Afghanistan/!5790026
[6] https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/sendung/maischberger-…
[7] https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-laschet-plaediert-fuer-diplomati…
[8] https://www.youtube.com/watch?v=pRX28-alJ4U
## AUTOREN
Silke Mertins
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