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# taz.de -- Bilder aus Afghanistan: Was wir sehen und was nicht
> Der Krieg in Afghanistan produziert schockierende Bilder. Wir müssen auch
> darauf achten, was und wen sie nicht abbilden.
Bild: Entstelle Frauengesichter in Werbeplakaten eines Schönheitssalons. Kabul…
Als ich diese Woche an meinem Handy klebte, um die Nachrichten aus
Afghanistan zu verfolgen, musste ich an Susan Sontags Essay [1][„Das Leiden
der anderen betrachten“] denken. Sie schreibt darin über das Privileg
derer, die einen Krieg nicht selbst erleben, sondern durch Bilder erfahren.
Der Text ist von 2003. Inzwischen, 18 Jahre später, kommen die Bilder viel
schneller, aus mehr Perspektiven. Aber auch heute gilt, worauf Sontag
damals hinwies: Die Drastik der Kriegsbilder darf nicht davon ablenken, was
wir nicht sehen. Wessen Leid nicht dokumentiert wird.
Wir sehen Menschenmassen am Kabuler Flughafen, kaum Individuen. Wir sehen
Männer, kaum Frauen. Wir sehen Jugendliche, die lieber von einem Flugzeug
aus in den sicheren Tod stürzen, als in Afghanistan zu bleiben. Zwei
schwarze Punkte am Himmel. [2][Brüder, 16 und 17 Jahre alt, wird vermutet.]
Was wir nicht sehen: Die, die zurückgelassen wurden. Die zu Hause blieben,
weil sie zu alt oder krank sind. Die zu große Angst hatten, die sich
verstecken und in ihren Wohnzimmern verzweifeln. In den Nachrichten spricht
manchmal einer oder eine von ihnen, das Gesicht zum eigenen Schutz
verpixelt.
Wir sehen Menschen in Evakuierungsflugzeugen. Auch hier vor allem junge
Männer. Braune Haut, schwarze Haare. Wie viele in Europa erkennen in ihnen
nicht mehr als eine Bedrohung? Und wie schamlos sind die, die ihnen
vorwerfen, sich nicht in den Kampf gegen die Taliban zu stürzen, den die
Nato selbst als aussichtslos ansah?
## Mauern der Bürokratie und tödliches Versagen
In den Flugzeugen sitzen die wenigen Glücklichen. Vom Schicksal der
allermeisten, die es nicht herausgeschafft haben, werden wir nie erfahren.
Und auch die Gesichter derjenigen, die in ein paar Wochen oder Monaten auf
dem Mittelmeer von Frontex zurückgedrängt werden oder für Jahre in
Flüchtlingslagern festhängen, werden wir kaum sehen. Es wird wieder die
Rede von einer Welle sein. Als hätte das Meer das alles zu verschulden.
Wir sehen Talibankämpfer mit Kalaschnikows im Präsidentenpalast, in den
Straßen von Kabul. Wir sehen ihren Versuch, eine Normalität zu
etablieren, der Welt zu zeigen, dass sie in der Lage sind, ein Land zu
regieren. Und die ersten Zuschauer*innen dieses Krieges fallen darauf
rein, schauen weg, wird schon gut gehen. Wir sehen Straßenaufnahmen ohne
weibliche Gesichter. Burkas, wenn überhaupt. Und dann, plötzlich, eine
mutige Demonstration, am Tag der Unabhängigkeit. Wann waren die
Afghan*innen zuletzt unabhängig?
Susan Sontag schreibt in ihrem Essay, dass „wir“ nicht vergessen dürfen,
dass auch „sie“ sehen. Was sehen sie? Die Mauern der Bürokratie, tödliches
Versagen, das inzwischen „Managementfehler“ genannt wird. Die USA und
Europa, die sie verraten haben und über Nacht abgezogen sind. China und
Russland, die sich bereit machen.
## Mitgefühl kann einlullen
Mitleid ist ein volatiles Gefühl, schreibt Sontag. Ist ein Krieg zu
verworren, der Konflikt scheinbar nicht zu lösen, wenden sich viele ab.
Wenn es nichts gibt, das „wir“ tun können, und nichts, das „sie“ tun
können, werden wir zynisch, gelangweilt, apathisch. Passivität lässt
abstumpfen und Nähe sich einzig über Mitgefühl herstellen. So lange wir
mitfühlen, stehen wir auf der richtigen Seite, oder?
Mitgefühl heißt Unschuld heißt Machtlosigkeit. Mitgefühl kann einlullen und
davon ablenken, dass unser Wohl mit dem Leid der anderen verbunden ist.
Viele Deutsche haben sich gerade erst wieder an den Krieg in Afghanistan
erinnert. Dabei ist und war Deutschland beteiligt. Mitgefühl reicht nicht.
Hinsehen, auch nachdem das letzte Evakuierungsflugzeug abgehoben ist, ist
das Mindeste.
21 Aug 2021
## LINKS
[1] https://monoskop.org/File:Sontag_Susan_2003_Regarding_the_Pain_of_Others.pdf
[2] https://www.vice.com/en/article/jg84gg/afghan-fall-plane-kabul-teenager
## AUTOREN
Viktoria Morasch
## TAGS
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