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# taz.de -- Essay „Was wir haben“ von Eula Biss: Schwindsucht als Lebensform
> Was macht Besitz mit uns? Die US-Autorin Eula Biss beleuchtet in ihrem
> Essay „Was wir haben“ humorvoll ihren eigenen Klassenstandpunkt.
Bild: Legt die Verstrickungen unseres Systems schonungslos offen: US-Autorin Eu…
Dass der Untergang der „Titanic“ 1912 vor allem deswegen zu einer solch
tödlichen Katastrophe wurde, weil dem damaligen Wettlauf um Größe und
Schnelligkeit in der Schiffsbauindustrie die ausreichende Zahl von
Rettungsbooten zum Opfer fiel, ist wohl hinlänglich bekannt. Dass die
„Titanic“ aber sogar über mehr Rettungsboote verfügte, als gesetzlich
vorgeschrieben waren, dürfte weniger geläufig sein.
Die US-Autorin Eula Biss macht diese Pointe zur staatlichen Komplizenschaft
bei kapitalistischen Katastrophen in ihrem Buch „Was wir haben“, um
anschließend daran zu erinnern, dass einer der wenigen „Titanic“-Toten der
Luxusklasse, der Multimillionär Benjamin Guggenheim, mit seinem Butler
zurückblieb, weil diesem wegen seiner Hautfarbe der Zutritt zum Beiboot
verwehrt wurde.
Die Familie Guggenheim hatte ihr gewaltiges Vermögen mit Kupfer- und
Silberminen erworben und widmete ab 1925 einen winzigen Teil dieses Geldes
der Förderung der Künste – wovon hundert Jahre nach Sinken der „Titanic“
auch Eula Biss profitieren sollte.
## Großzügiges Stipendium
Das großzügige Stipendium der Guggenheim-Foundation ermöglichte es ihr
nicht nur, im Jahr 2014 ihr äußerst erfolgreiches drittes Buch zu
veröffentlichen. Es schuf auch die Grundlage dafür, dass Biss zu Beginn des
neuen Buchs mit ihrer Familie ein Haus im Wert von einer halben Million
Dollar am Lake Michigan in Chicago beziehen kann.
Dieser historische Abriss – auch wenn er nicht ganz Biss’ eigener
Dramaturgie folgt – illustriert bereits einige der systemischen
Zusammenhänge des Kapitalismus, denen die Autorin in ihrem episodischen
Essay auf den Grund zu gehen versucht. Sie tut das aber durchaus auch im
Kleinen, Konkreten. Beim Einzug etwa ist das Haus leer – und bleibt es für
drei Monate, weil Biss und ihr Mann in der schönen neuen Warenwelt
spätkapitalistischen Überflusses einfach kein Mobiliar finden, das ihnen
wirklich ihr Geld wert ist.
Sinnbildlich für diesen Zustand steht eine mittelalte Ikea-Kommode, die von
außen perfekt aussieht, bei der jedoch innen sämtliche Schubladenböden
herausgebrochen sind. Der schwedische Möbelmassenfabrikant verkörpert wohl
wie wenige sonst das Prinzip des spätmodernen Konsumkapitalismus, der
Gebrauchsgüter zu Verbrauchsgütern gemacht hat und dadurch den Namen einer
tödlichen Krankheit – consumption lautet die englische Bezeichnung für
Schwindsucht – zur Beschreibung unserer Lebensform.
## Persönliche wie profunde Erkundigung
Eula Biss unternimmt in ihrem grandiosen Essay eine so persönliche wie
profunde Erkundung unserer gesellschaftlichen Gegenwart. Dabei checkt sie
zugleich ihren Platz in der Privilegienhierarchie, in der sie als
erfolgreiche weiße Frau der oberen Mittelschicht mit intakter Familie noch
verhältnismäßig gut dasteht – und mit entsprechenden klassen- wie
„rassen“spezifischen „blinden Flecken“ ausgestattet ist.
Und doch dringt Biss sehr tief ein in die Geschichte des Kapitalismus, den
man wohlwollend als Emanzipation eines neu entstehenden Bürgertums von den
Fesseln des Feudalismus beschreiben könnte.
Treffender aber wäre es wohl – wie Biss es mit der Soziologin Silvia
Federici tut –, den Kapitalismus als Konterrevolution zu begreifen: als
Antwort der Feudalherren auf die Aufstände der Bauern, in der die
„Freiheitlichkeit“ des neuen Systems insbesondere auf die Unterdrückung von
Frauen und Nichtweißen aufgebaut wurde.
## Potenzial zu beispielhafter Bürgerlichkeit
Doch was sind die heutigen Antworten der Herrschenden auf die Bedrohungen
ihrer Herrschaft? Die neoliberale Leistungsideologie? Die Kommodifizierung
der Freizeit? Die Proprietarisierung von Daten und Information? Oder etwa
auch Künstlerstipendien einer Industriellenstiftung, die prekäre Geistes-
und Meinungsbildungsarbeiter:innen erfolgreich in die obere
Mittelklasse eingemeinden?
Künstler und Intellektuelle zeichnen sich mitunter dadurch aus, dass sie
prekär leben können, aber dabei nicht unbedingt von ihrer Arbeit entfremdet
sein müssen – vielleicht macht sie gerade das auch gefährlich, wie Biss’
Passage über den chronisch klammen Karl Marx suggerieren könnte.
Zugleich aber haben sie mit ihrem Privileg der freien, unentfremdeten
Arbeit ab einem gewissen Wohlstandsniveau das Potenzial zu einer
beispielhaften Bürgerlichkeit. Vielleicht könnte man es auch so verstehen,
wenn der Autor Alexander Chee laut Biss „alle Künstler zu Klassenverrätern
erklärt“.
Eula Biss’ sensationellem – und übrigens auch hinreißend humorvollem –
Essay gelingt es, sowohl die Verstrickungen unseres Systems schonungslos
offenzulegen als auch in seinen Nischen und Zwischenräumen alternative
Existenz- und Wirtschaftsweisen aufzuzeigen. Doch wie die Autorin selbst
vieldeutig über eine Episode mit ihren Kindern schreibt: „Vom Gefühl her
bin ich für ihren Aufstand, werde ihn aber unterdrücken. Unter meiner
Aufsicht wird es keine Revolution geben.“ Schade eigentlich.
20 May 2021
## AUTOREN
Tom Wohlfarth
## TAGS
Literatur
Essay
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