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# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Nie gut, aber besser
> Utopien werden als gefährlich verunglimpft. Zu Unrecht. Sie sind der
> Stoff, aus dem Alternativen zum Vorherrschenden entstehen.
Bild: Aus dem Nichts haben Menschen oft Unvorstellbares geschaffen, warum soll'…
Harald Welzer, einer unser wichtigen Vordenker (im Sinne von: Er denkt nach
vorne, nicht: Er denkt uns etwas vor), hat gerade ein lesenswertes Buch
über Utopie veröffentlicht. Er ist nicht der Einzige. Es gibt viele
Anzeichen, dass utopisches Denken eine Renaissance erfährt. Die Zukunft
steht gerade auf wackligen Füßen. Alles ist gut, aber nichts wird gut sein
– so denken nicht wenige von uns in Mitteleuropa, besorgt um den Verlust
dessen, was wir heute noch haben. Zur Ablenkung ergötzen wir uns an
Dystopien, an Endzeitvisionen, die an Plausibilität gewinnen, je
apokalyptischer sie daherkommen. Gerade jene, die das Privileg haben,
keinen existenziellen Überlebenskampf führen zu müssen, lassen sich von
Dystopien einlullen.
Je größer die drohende Katastrophe, desto mickriger die Alternativen, so
scheint es momentan, und unser Denken fällt dementsprechend recht klein und
eng aus. Es mangelt nicht an Wissen über das, was in der Welt vorgeht.
Niemand würde ernsthaft behaupten, es sei vernünftig, die Umwelt zu
zerstören, Menschen zu entwurzeln, Ungerechtigkeiten zu vertiefen, Kriege
zu entfachen. Auch sind überall auf der Welt engagierte Menschen mit
konkreten Alternativen beschäftigt.
Und trotzdem geht das Bewusstsein für die sich zuspitzenden sozialen und
ökologischen Probleme und der Notwendigkeit ihrer Lösung viel zu oft einher
mit Verzweiflung und Lähmung, vor allem bei jenen, die Nutznießer des
globalen Ungleichgewichts sind, bei den Privilegierten. Im politischen
Diskurs herrscht das perfide Dogma der Alternativlosigkeit. Ausgerechnet
jene Prinzipien, die die Katastrophendynamik beschleunigen – Profit,
Wachstum, Machtkonzentration – gelten als heilig. Und trotz offenkundiger
Mängel wird die freie Marktwirtschaft als einziges effizientes Modell des
Zusammenlebens präsentiert.
„Kann das sein?“, fragt sich seit je die Utopie. Kann es sein, dass das
Vorherrschende [1][die einzig mögliche Realität ist]? Zeichnet die
Menschheitsgeschichte nicht ein ganz und gar anderes Bild? Sind die weißen
Flecken der geistigen Landkarten nicht auf erstaunliche Weise, oft nur eine
Generation später, mit neuen, überraschenden Inhalten gefüllt worden?
Insofern ist der seit 1989 so oft verkündete „Untergang der Utopien“ ein
Totengräbergesang, der alle Träume begraben will, um universelle
Friedhofsruhe durchzusetzen.
Utopien sind immer wieder für die Schrecken des 20. Jahrhunderts
verantwortlich gemacht worden, obwohl althergebrachte Mechanismen wie
autoritäre Hierarchie, fanatischer Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und
exterminatorischer Imperialismus eher schuld waren. Utopisches Denken war
den Nazis nie gegeben, Lenin war ein wendiger Pragmatiker, der schon Ende
1917 feststellte: „Wir sind keine Utopisten!“
Und Marx und Engels haben den „utopischen Sozialismus“ zum Schimpfwort
erhoben. Konservative und Liberale, die Utopien weiterhin für gefährlich
halten, behaupten, sie seien irrational und führten zu Gewalt. Dieser
Vorwurf basiert auf einer Verwechslung von Utopie und Ideologie. Ganz in
der Nachfolge des Philosophen Karl Popper: „Arbeite lieber für die
Beseitigung konkreter Übel als für die Verwirklichung abstrakter Güter.“
Das ist ein schematischer Gegensatz, der Motivation und Vorgehen
verwechselt. Es ist schwer vorstellbar, dass unzählige Menschen Tag und
Nacht rackern und die Gesellschaft enorme Mittel aufbringt, um eine kleine
konkrete Verbesserung zu erzielen. Diese einflussreiche Kritik am
utopischen Denken ist zeitbehaftet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sehnten sich
Denker wie Popper nach einer kleinen bescheidenen Parzelle Glück und
Frieden. Das einzige, was den Menschen damals möglich erschien, war, „das
Leben etwas weniger furchtbar zu machen und etwas weniger ungerecht“. Die
Gegenwart war so schrecklich, die Lebenden sollten nicht mehr zugunsten der
Kommenden benachteiligt werden.
## Was ist das Utopische?
„Keine Generation darf künftigen Generationen zuliebe geopfert werden.“ Die
Lage hat sich völlig umgedreht. Durch den ökologischen Kahlschlag opfern
wir zukünftige Generationen dem parasitären Wohlergehen der heute
Gedeihenden. Wenn Popper der Utopie misstraute, weil sie im Interesse der
Zukunft handele, so ist heute der herrschenden Alternativlosigkeit zu
misstrauen, weil sie die Gegenwart auf Kosten der Zukunft privilegiert.
Aber [2][was ist das Utopische]? Es lässt sich schwer definieren und gerade
das macht seinen Wert aus: die Vielfalt an möglichen Denkformen, die
Verknüpfung von Ziffern und Zeichen mit Erträumungen. Die Unterwanderung
des Quantifizierbaren durch die Fantasie. Nun könnten Sie einwenden, das
seien Spinnereien, Sie könnten den deutschen Altbundeskanzler Helmut
Schmidt zitieren: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Ich würde
entgegnen, die Utopie ist schon in uns, sie ist der handfeste Stoff, aus
dem Träume gewoben werden. Das Utopische ist ein Samen in jedem Menschen,
aber auch eine historische Erfahrung. Utopisten sind jene, die das
Undenkbare aussprechen, um es vorwegzunehmen.
Die utopischen Ideale leiten sich nicht aus theoretischen Überlegungen ab,
sie existieren schon in Teilen als Ethik und gelebte Alternative. Das ist
auch gut so, denn die Kritik an den herrschenden Verhältnissen muss
einhergehen mit Belegen, dass es anders geht, dass die Idee einer
solidarischen Welt jenseits von ökonomischer Ausbeutung und Zerstörung
nicht auf eine nur imaginierte Zukunft verweist, sondern schon heute
konkret aufscheint. Nur unter Maßgabe dieses Nachweises verwandelt sich die
Forderung nach einer menschenwürdigen Welt aus einer abstrakten in eine
konkrete Utopie.
Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden, hat Carl Zuckmayer
einmal geschrieben. Aber leider nicht hinzugefügt, dass der Traum von einer
guten Welt die Grundlage für ihre Verbesserung bildet. Ohne Utopien droht
uns die Hoffnungslosigkeit.
18 Apr 2019
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## AUTOREN
Ilija Trojanow
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