| # taz.de -- 70 Jahre „soziale Marktwirtschaft“: Die Ironie der Geschichte | |
| > Ludwig Erhards Programm lässt sich durchaus als neoliberal bezeichnen. | |
| > Nach einem Generalstreik tat er alles, um es als sozial zu verkaufen. | |
| Bild: Eier konnte sich 1948 kaum jemand leisten. Gegen Erhards Programm gab es … | |
| Die „soziale Marktwirtschaft“ ist der zentrale Gründungsmythos der | |
| Bundesrepublik Deutschland – und bis heute das Leitbild der deutschen | |
| Wirtschaftspolitik. In politischen Reden, in Unterrichtsmaterialien und | |
| Zeitungsartikeln, in TV-Dokus und in einem stetig wachsenden Stapel von | |
| Büchern, Festschriften und Fachaufsätzen wird diese Wirtschaftsverfassung | |
| beschworen und ausgemalt. | |
| In den kommenden Monaten werden sich wieder viele Gelegenheiten bieten, an | |
| dem Mythos „soziale Marktwirtschaft“ zu feilen, denn es stehen mehrere | |
| Jahrestage an: Vor 70 Jahren wurde das Grundgesetz geschaffen, die | |
| Bundesrepublik gegründet und die erste Bundestagswahl abgehalten. Variiert | |
| wird dabei stets folgende Story: „Ludwig Erhard führte die ‚soziale | |
| Marktwirtschaft‘ ein und ermöglichte damit Wohlstand für alle.“ | |
| Diese Heldengeschichte kann auch deswegen so glänzend und widerspruchsfrei | |
| erzählt werden, weil sich heute fast ausnahmslos alle Parteien und | |
| Gewerkschaften zur „sozialen Marktwirtschaft“ bekennen und Ludwig Erhards | |
| Verdienste nicht infrage stellen. | |
| Die „soziale Marktwirtschaft“ erfreut sich allgemeiner Beliebtheit, auch | |
| weil oft geglaubt wird, dass damit Sozialpolitik gemeint sei. Dies ist | |
| jedoch ein fundamentales Missverständnis: Ludwig Erhards Programm lässt | |
| sich durchaus als neoliberal bezeichnen. Der Markt hatte bei ihm immer | |
| recht. Die Idee war, dass der Wettbewerb zu niedrigen Preisen führe, von | |
| denen Kunde König dann profitieren würde. Oder wie Ludwig Erhard es | |
| ausdrückte: „Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er | |
| sozial gemacht werden muss.“ Sozialpolitik hat in diesem Verständnis keinen | |
| Platz. | |
| ## Mythos um die Schaffung des „Wirtschaftswunders“ | |
| Zudem ist auch die Erzählung falsch, Ludwig Erhard habe „uns“ die „sozia… | |
| Marktwirtschaft“ geschenkt. Diese Legende beginnt stets mit der | |
| Währungsreform im Juni 1948, als die D-Mark eingeführt wurde. Damals hätte | |
| Erhard durch eine „Wirtschaftsreform“ das westdeutsche „Wirtschaftswunder… | |
| begründet. | |
| Die Währungsreform selbst war keine westdeutsche Erfindung, sondern wurde | |
| von den Alliierten konzipiert und umgesetzt. Um den Geldüberhang aus den | |
| Zweiten Weltkrieg zu beseitigen, wurde das Finanzvermögen um 93,5 Prozent | |
| abgewertet. Für 10 Reichsmark gab es also nur 0,65 D-Mark. Schlagartig | |
| wurden die Sparer weitgehend enteignet, während Eigentümer von Sachwerten | |
| wie Immobilien oder Unternehmen kaum Einbußen hatten. | |
| Ludwig Erhard war damals Wirtschaftsdirektor der Bizone und verfolgte | |
| explizit eine Politik der „freien Marktwirtschaft“. Er verschärfte die | |
| Situation noch durch seine „Wirtschaftsreform“, indem er fast alle | |
| wichtigen Waren von der Bewirtschaftung befreite und die Preise freigab. | |
| Nur Mieten, Energie, Verkehrsmittel und Grundnahrungsmittel wurden | |
| weiterhin staatlich reguliert. | |
| In Westdeutschland herrschte damals noch immer enormer Mangel, sodass es – | |
| wenig überraschend – zu einem starken Preisanstieg kam. Die Waren lagen nun | |
| zwar offen in den Schaufenstern, waren für den „Normalverbraucher“ aber | |
| meist unerschwinglich. Denn der Lohnstopp aus dem Dritten Reich galt | |
| weiterhin und wurde erst im November aufgehoben. | |
| ## Generalstreik 1948: Der Markt regelte es nicht von allein | |
| Erhard reagierte mit dem neoliberalen Mantra, die Preise würden sich mit | |
| der Zeit schon „einpendeln“. Das taten sie nicht. In den ersten zwanzig | |
| Tagen nach der Währungsreform stiegen die Preise von Schuhen und | |
| Grundnahrungsmitteln um 50 bis 200 Prozent, und bis zum Jahreswechsel | |
| verbesserte sich diese Situation nicht. | |
| Schnell regte sich Unmut. Marktstände wurden geplündert, und Hausfrauen | |
| „sozialisierten“ die besonders begehrten Eier. Große „Kaufstreiks“ wur… | |
| durchgeführt, um die Händler zu Preisnachlässen zu bewegen, und in fast | |
| allen Städten kam es zu Protestdemonstrationen. | |
| Eine Zäsur war der 28. Oktober 1948, als in Stuttgart 80.000 Menschen auf | |
| die Straße gingen – und anschließend einige Tausend Demonstranten | |
| Luxusgeschäfte zerstörten und Polizisten tätlich angegriffen. Deutsche und | |
| amerikanische Polizeibataillone setzten Tränengas, Bajonette und gepanzerte | |
| Fahrzeuge ein, um die aufgebrachte Menge unter Kontrolle zu bringen. | |
| Am 12. November 1948 kam es schließlich zum bislang letzten Generalstreik | |
| in Deutschland: Über 9 Millionen Menschen legten die Arbeit nieder – das | |
| entsprach einer Beteiligung von knapp 80 Prozent –, obwohl nur 4 Millionen | |
| einer Gewerkschaft angehörten und es auch kein Streikgeld gab. 9 Millionen | |
| verzichteten auf ihr knappes Einkommen, damit Wirtschaftsdirektor Erhard | |
| endlich verstand, dass seine Politik des „freien Marktes“ gescheitert war. | |
| ## „soziale Marktwirtschaft“ als Begriff gegen Erhard | |
| Es war dieser politische Aufruhr, der die Verantwortlichen veranlasste, | |
| sich wirtschaftspolitisch und diskursiv von der „freien Marktwirtschaft“ zu | |
| verabschieden: Erhard und andere CDU-Verantwortliche zogen panisch die | |
| Notbremse. Durch verschiedene Hintertüren wurden Preisbindungen wieder | |
| eingeführt. Besonders erfolgreich war das „Jedermann-Programm“, das Schuhe | |
| und Kleider in standardisierter Qualität zu vorgegebenen Niedrigpreisen an | |
| die Kunden brachte. Anfang 1949 ging wieder über die Hälfte der Waren zu | |
| gebundenen Preisen über den Ladentisch; Erhards „freie Marktwirtschaft“ war | |
| damit vorerst aufgegeben. | |
| Just in diesem Moment tauchte der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ | |
| erstmals in der Öffentlichkeit auf. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass | |
| die Forderung nach „sozialer Marktwirtschaft“ im Herbst 1948 gegen Erhard | |
| und seine Agenda gerichtet war. Denn mit diesem Slogan forderten die SPD, | |
| die Gewerkschaften und die Sozialausschüsse der CDU eine deutliche | |
| Kursänderung und eine sozial orientierte Wirtschaftspolitik. | |
| Für die CDU rettete schließlich Hermann Pünder den Begriff. Pünder, heute | |
| völlig unbekannt, war damals der oberste deutsche Amtsträger in den | |
| Westzonen und damit Erhards Vorgesetzter. Durch den Generalstreik unter | |
| Druck geraten, behauptete er am 10. November 1948 im Parlament, dass die | |
| Regierung „keine freie, sondern nur eine soziale Marktwirtschaft schaffen | |
| und betreiben“ würde – und dies angeblich schon immer getan habe. Pünder | |
| legte anschließend eine entsprechende Broschüre vor, die sich | |
| programmatisch „Unsere soziale Marktwirtschaft“ nannte, und warb innerhalb | |
| der CDU für diese neue politische Leitvokabel. | |
| ## Dreiste Aneignung des Begriffs | |
| Durch die Kräfteverhältnisse auf der Straße und in der CDU dazu gezwungen, | |
| schwenkte schließlich auch Erhard widerwillig auf die „soziale | |
| Marktwirtschaft“ um. Im Februar 1949 diskutierte die CDU in Königswinter | |
| ihre Position für den ersten Wahlkampf in der kommenden Bundesrepublik. | |
| Auch Ludwig Erhard hielt eine Rede, in der er erstmals über das Konzept | |
| „soziale Marktwirtschaft“ nachdachte. Doch seine eigentliche Überzeugung | |
| änderte er bei dieser Gelegenheit nicht. Wieder behauptete er: „Nur die | |
| Marktwirtschaft ist sozial.“ | |
| Da rief Johannes Albers, ein Vertreter des Arbeitnehmerflügels der CDU, | |
| schnell dazwischen: „Soziale!“ Dieser Intervention ist es zu verdanken, | |
| dass der Vorsitzende Konrad Adenauer nach Erhards Rede nicht die | |
| adjektivlose „Marktwirtschaft“, sondern die „soziale Marktwirtschaft“ a… | |
| Richtlinie ausrief. Daraufhin wurde offiziell beschlossen, den Wahlkampf | |
| auf die plakative Formel „Soziale Marktwirtschaft oder bürokratische | |
| Planwirtschaft“ zuzuspitzen. | |
| Das Ergebnis waren die „Düsseldorfer Leitsätze“, die am 15. Juli 1949 | |
| veröffentlicht wurden und die der CDU als Vorbereitung auf die | |
| Bundestagswahl im August 1949 dienten. Dass die CDU die „soziale | |
| Marktwirtschaft“ zu ihrem Programm machte, ist allerdings ohne die | |
| sozialen Aufstände, die zahlreichen Streiks und Albers’ Zwischenruf nicht | |
| zu verstehen. | |
| Ludwig Erhard erwies sich indes als höchst flexibel. Bereits am 2. Juni | |
| 1949 äußerte er – entgegen den Tatsachen, aber in vollster Überzeugung –, | |
| er allein habe „den Begriff der sozialen Marktwirtschaft' geprägt“. In den | |
| folgenden Jahren übernahmen Gegner wie Unterstützer seine dreiste | |
| Interpretation der Geschehnisse. 1957 wurde Erhards Sicht durch den | |
| Bestseller „Wohlstand für alle“ noch einmal erheblich popularisiert und | |
| endgültig zum Gründungsmythos der Bundesrepublik. | |
| ## Der wirtschaftspolitische Superstar | |
| Als Leitbild ist die „soziale Marktwirtschaft“ heute sogar im Vertrag von | |
| Lissabon und damit in Europa verankert. Die Kämpfe jedoch, die für die | |
| Entstehung der „sozialen Marktwirtschaft“ eine so entscheidende Rolle | |
| gespielt hatten, wurden vergessen. | |
| Übrig geblieben sind nur der Mythos von Erhard als wirtschaftspolitischem | |
| Superstar und die Legende, dass seine marktliberale Preisfreigabe das | |
| „Wirtschaftswunder“ ausgelöst hätte. Solange diese falschen Erzählungen | |
| geglaubt werden, haben die Neoliberalen in Deutschland und Europa | |
| vermutlich leichtes Spiel. | |
| 10 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Fuhrmann | |
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