# taz.de -- Ökonom über Soziale Marktwirtschaft: „Das war ein Kampfbegriff�… | |
> Seit sieben Jahrzehnten ist sie Staatsdoktrin. Tatsächlich ist die | |
> Erfolgsstory der Sozialen Marktwirtschaft Etikettenschwindel, sagt Rudolf | |
> Hickel. | |
Bild: Wer arbeitslos wird, wird aufgefangen? Von wegen: Essensmarke einer Tafel… | |
taz: Herr Hickel, Sie werfen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vor, | |
sich auf die Soziale Marktwirtschaft zu berufen, aber grundlegende | |
Paradigmen zu ignorieren. | |
Rudolf Hickel: Für den Nestor der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred | |
Müller-Armack, standen zwei Prinzipen im Mittelpunkt: Wer sein | |
Arbeitseinkommen unverschuldet als Folge von Krisen verliert, der wird | |
durch das gesetzliche System, etwa die Arbeitslosenversicherung, | |
aufgefangen. Das gilt spätestens seit der „Agenda 2010“ nicht mehr. | |
Arbeitslose werden zu Tätern gestempelt. Ihnen werden Lohnverzicht und | |
prekäre Arbeitsverhältnisse abverlangt. Auch das zweite Grundprinzip ist | |
ausgehebelt worden: Wer durch den Verlust der Lohnarbeit später sozial in | |
Not gerät, dem wird geholfen. Dieses Prinzip hat die | |
Schröder/Riester-Rentenpolitik mit dem Druck, eine eigene | |
Teilkapitalvorsorge zu finanzieren, beschädigt. | |
Regierung und der Mainstream der Wirtschaftswissenschaftler betreiben also | |
Etikettenschwindel. | |
Ja! Es grenzt an Zynismus, dass angesichts der heute vorherrschenden | |
sozialen Spaltung die Soziale Marktwirtschaft als Erfolgsstory proklamiert | |
wird. Das ist weit über den Mythos hinaus ein schlichter | |
Etikettenschwindel. Die Soziale Marktwirtschaft war ein Kampfbegriff. | |
Kapitalismus sozial temperieren, das war die westdeutsche Systemalternative | |
gegen den völlig überschätzten DDR-Sozialismus. | |
Warum ist die Soziale Marktwirtschaft [1][seit der Finanzkrise] noch tiefer | |
in die Krise geraten, obwohl das Bruttoinlandsprodukt, also die | |
Wirtschaftsleistung, seit einem Jahrzehnt wächst? | |
Die Soziale Marktwirtschaft war nie ein überhistorisch geltendes Modell. | |
Sie musste sich unter neuen Herausforderungen immer wieder neu definieren. | |
Dafür steht der deutsche Keynesianismus in den 1960er Jahren, mit dem die | |
Globalsteuerung zur Vermeidung ökonomischer Krisen eingeführt wurde. Heute | |
sind es die ökologischen Herausforderungen. | |
Wäre denn mehr drin? | |
Der neoklassische Marktfundamentalismus mit dem Profitmotiv hat schon seit | |
Mitte der 1970er Jahre die Soziale Marktwirtschaft blamiert. Wenn heute die | |
vorherrschende Wirtschaftswissenschaft die Soziale Marktwirtschaft predigt, | |
dann ist das unseriös. Sie hat mit ihrer Deregulierungsoffensive den | |
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus forciert. Marktversagen mit tiefen | |
Krisen sind die Folge. Dazu gehört der Verzicht auf eine Bekämpfung der | |
monopolistischen Markt-Macht. Hätten die Prinzipien der Sozialen | |
Marktwirtschaft regiert, hätten die Exzesse des deregulierten | |
Kasinokapitalismus vermieden werden können. | |
Heute droht der deutschen Wirtschaft eine Rezession. Sollte nicht gerade | |
darum aus dem Mythos wieder eine Soziale Marktwirtschaft werden? | |
Die drohende Rezession in Deutschland zeigt, dass der Staat zumindest gegen | |
die binnenwirtschaftlichen Fehlentwicklungen mit einem öffentlichen | |
Investitionsprogramm vorgehen muss. Das ursprüngliche Konzept der Sozialen | |
Marktwirtschaft war ökologisch blind, ja, mit den heute hochgelobten | |
Wirtschaftswunderjahren sind spürbare Umweltbelastungen ausgelöst worden. | |
Ihre konkreten Forderungen? | |
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 sollte reformiert werden, um | |
die Sozialstaatsprinzipien wiederzubeleben und ökologische Vernunft zu | |
verankern. Ein Gesetz gegen Machtkonzentration könnte die schon lange nicht | |
mehr geltende Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs reaktivieren. Eine | |
demokratische Unternehmensverfassung sollte die kriminelle Anfälligkeit – | |
siehe „Diesel-Gate“ – eindämmen und die Mitbestimmung ausbauen. | |
20 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Hermannus Pfeiffer | |
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