# taz.de -- Streikbereitschaft in Deutschland: Da legst sie nieder! | |
> Die Deutschen haben 2018 viermal so viel gestreikt wie im Vorjahr. | |
> Sozialistische Zeiten stehen aber nicht bevor – eher unbezahlte | |
> Pflegearbeit. | |
Bild: Besonders die Streiks in der Metallindustire trieben die Zahl der Streikt… | |
Ein Klassiker des Sowjetkinos ist der Film „Streik“ von Sergei Eisenstein. | |
In der berühmtesten Szene führt der Regisseur seine revolutionäre | |
Montagetechnik vor: Aufnahmen streikender Fabrikarbeiter, die vom Militär | |
über die Felder gejagt werden, wechseln sich ab mit der Schlachtung einer | |
Kuh. Dialektik und so. | |
In Deutschland laufen Arbeitskämpfe natürlich gesitteter ab, ein paar | |
Warnwesten hier, eine Trillerpfeife da. Da überraschte am Donnerstag doch | |
die Meldung, dass 2018 in der Bundesrepublik viermal so viel gestreikt | |
wurde wie im Vorjahr: rund 1 Million Arbeitstage seien flachgefallen, heißt | |
es in der Bilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts | |
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ([1][hier im pdf]). Statt 131.000 | |
Teilnehmer*innen wie 2017 beteiligten sich 2018 1,2 Millionen Menschen | |
an den Tarifauseinandersetzungen. Das sind fast so viele, als hätte ganz | |
München für einen Tag aufgehört zu arbeiten: Da legst dich nieder. | |
Allerdings: Ein rotes Arbeiterregime ist nicht zu erwarten. Erstens waren | |
die Werte 2018 nicht besonders hoch, sondern lediglich 2017 ziemlich tief. | |
In den letzten zehn Jahren waren derartige Schwankungen nach Daten des WSI | |
jedenfalls normal: Tarifrunden eben. Zweitens ist Deutschland im | |
internationalen Vergleich wahrlich kein Streikstaat: Man liege „im unteren | |
Mittelfeld“, schreibt das Institut. Soll heißen, während in Deutschland pro | |
1.000 Beschäftigten etwa 16 Arbeitstage ausfallen, liegt diese Quote in | |
Dänemark bei 116 und in Frankreich – na klar – noch höher, bei 118. | |
Drittens muss man methodische Schwierigkeiten beachten: Aufgrund von | |
Mehrfachzählungen ist die erfasste Streikbeteiligung „teilweise erheblich | |
höher als die Anzahl der individuellen Arbeitnehmer, die ein- oder mehrmals | |
gestreikt haben“, heißt es in der Analyse. Also doch nicht jede Münchnerin | |
im Ausstand. | |
Interessant ist jedoch der qualitative Blick auf die Streikenden. So haben | |
neben Entgelterhöhungen auch Forderungen nach selbstbestimmter Gestaltung | |
der Arbeitszeiten ihren Platz: Mehr frei statt mehr Kohle. Nachdem die | |
Eisenbahner 2016 mit Freizeitfragen „tarifpolitisches Neuland“ betreten | |
hatten, verzeichnet das WSI [2][auch in der Metall- und Elektroindustrie] | |
sowie der Deutschen Post und dem Bayerischen Nahverkehr neue Tarifverträge | |
mit Wahloptionen. Zwischen Zusatzgeld oder acht Urlaubstagen können sich | |
etwa einige Metaller entscheiden. | |
Das klingt natürlich erst mal gut: Mehr freie Zeit sollte in unserer | |
Gesellschaft allein schon aus konsumkritischer Perspektive mindestens so | |
begehrt sein wie mehr verfügbares Geld. Wählen können neben Beschäftigten | |
im Schichtdienst aber vor allem Arbeiter*innen mit Kindern unter acht | |
Jahren oder pflegebedürftigen Angehörigen. | |
Wenn im Arbeitskampf abgerungene Erfolge lediglich dazu führen, dass man | |
sich mehr der unbezahlten (und viel zu schlecht angesehenen) häuslichen | |
Care-Arbeit widmet, ist die soziale Frage jedenfalls auch nicht | |
beantwortet. Die Journalistin Julia Fritzsche hat sich in ihrem Band | |
„Tiefrot und radikal bunt“ mit linken Utopien beschäftigt, dabei auch die | |
professionelle und private Pflege in den Blick genommen. | |
Viele sehnten sich tatsächlich nach mehr Zeit für Care-Arbeiten: „Da wäre | |
es dann sinnvoll, gesamtgesellschaftlich zu fordern, dass wir die | |
wöchentliche Erwerbsarbeit reduzieren.“ Und zwar möglichst bei gleichem | |
Lohn. „Die Streiks weiten sich gerade auf sehr sensible Bereiche aus“, etwa | |
Pflege und Erziehung, beobachtet Fritzsche. Das sei natürlich nicht | |
einfach, wenn es um Menschen und nicht um Warenproduktion geht. Es könnten | |
aber gerade diejenigen „machtvoll die Welt stilllegen, die sie am Bett oder | |
am Band am Laufen halten“. | |
28 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_pb_31_2019.pdf | |
[2] /Verdi-Chef-Bsirske-ueber-Digitalisierung/!5479734 | |
## AUTOREN | |
Finn Holitzka | |
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