# taz.de -- Kapitalismus: Überfluss – vom Versprechen zum Schreckenswort | |
> Das Wort Überfluss hat eine wechselhafte Geschichte. Der Blick sollte auf | |
> den verheerenden Klima-Folgen liegen, nicht auf kleinkarierter | |
> Konsumkritik. | |
Bild: Überfluss erschöpft die Strapazierfähigkeit des Planeten | |
Wenn heute über Überfluss gesprochen wird, dann ist dieses Sprechen sofort | |
mit Beiklängen verbunden, mit Obertönen, mit Schwaden von Bedeutungen. In | |
aller Regel wehen uns Ansichten und Vorannahmen an, die wir zum Thema des | |
„Überflusses“ haben. Meistens sind das heute keine rein positiven Affekte. | |
Eher: Wir haben zu viel. Wir haben einen Güterreichtum erreicht, der uns | |
nicht glücklich macht. Wir laufen dem Wohlstand nach und verlieren uns | |
dabei selbst. Wir ziehen eine Spur der Verheerung hinter uns her. Nicht | |
selten hat dieses Lamento etwas leicht Betuliches. [1][Hart gesagt: | |
Verlogenes]. Man erfreut sich der Dinge, die man hat, schämt sich aber | |
zugleich ein wenig für sie, oder man kauft sich andere Dinge, wie etwa das | |
total nachhaltige Federbett. | |
Besonders abgeschmackt wird es, wenn die unteren Klassen dafür beschämt | |
werden, dass sie, obwohl mit leeren Konten ausgestattet, dennoch dauernd in | |
Konsumrausch ausbrechen würden. Handy, Auto, vielleicht sogar getunt und | |
tiefer gelegt, der Kühlschrank voll, aber nichts davon ist Bio. Und wozu | |
muss der Hausmeister nach Bali? Die Konsumkritik ist also manchmal [2][nur | |
einen Wimpernschlag von der Klassenverachtung entfernt]. | |
Da ist der große George Orwell sympathischer, der viel Verständnis für die | |
Hungerleider aus den englischen Bergbauregionen hatte, wenn sich etwa die | |
jungen Tagelöhner ihre Pence vom Mund absparten, um sich einen schönen | |
Anzug zu kaufen. Sie „senken ihre Ansprüche nicht unbedingt in dem Sinn, | |
dass sie auf Luxusartikel verzichten“, schreibt Orwell. | |
„Man hat vielleicht nur drei Halfpence in der Tasche, überhaupt keine | |
Zukunftsaussichten und als Zuhause nur eine Ecke in einem undichten | |
Schlafzimmer; aber man kann in seinen neuen Kleidern an der Straßenecke | |
stehen und sich in einem privaten Tagtraum als Clark Gable oder Greta Garbo | |
vorkommen, was einen für eine ganze Menge entschädigt.“ Wenn man über | |
Überfluss und Überflussgesellschaft sprechen will, dann muss man die Falle | |
der Abgeschmacktheit tunlichst vermeiden. | |
## Überfluss war früher ein Versprechen | |
Der Konsumstil ist nicht zu trennen vom Bedürfnis, sich von anderen | |
abzugrenzen oder auf irgendeine Weise über sie zu erheben, nicht nur nach | |
unten. Das abgegriffene Stück, dem man seine Geschichte ansieht, die | |
Kneipe, die auf unergründliche Weise „echt“ ist, sie alle sind deshalb auch | |
nur „Positionsgüter“; nichts grundsätzlich anderes als ein Mercedes der | |
S-Klasse oder ein seltener Ford Mustang aus den 60er Jahren. Man spricht | |
heute auch vom „Kulturkapitalismus“, weil jede Ware mit Kultur, also | |
Bedeutung, aufgeladen ist und das der Grund ist, dass man sie haben will. | |
Ich kaufe, also bin ich. Ich bin, was ich kaufe. Ich bin sogar, was ich | |
nicht kaufe. | |
Spätestens mit dem Bewusstsein der ökologischen Krise und der | |
Klimakatastrophe ist der Begriff des Überflusses mit negativen Attributen | |
verbunden. Wenn wir über die großen Worte und Parolen nachdenken, die unser | |
Denken ausstatten, dann ist der Begriff Überfluss ein zentraler. Nur: In | |
früheren Epochen war der Überfluss nichts, was man beklagte, sondern ein | |
Versprechen. In den Utopien waren Vorstellungen vom grenzenlosen Reichtum | |
seit jeher ein Leitmotiv, schon Mose versprach seinem murrenden Fußvolk, er | |
werde es in ein Land führen, in dem „Milch und Honig“ fließe. | |
Die Sozialisten und Kommunisten waren überzeugt, mit | |
Produktivitätssteigerungen und der Befreiung der Kreativität würde der | |
Mangel endgültig besiegt, ein Leben im Überfluss möglich, da waren sie sich | |
lustigerweise sogar mit den Kapitalisten einig. [3][John Maynard Keynes, | |
der große Ökonom des 20. Jahrhunderts], schrieb 1930 einen Aufsatz mit dem | |
Titel „Wirtschaftliche Aussichten unserer Enkelkinder“, in dem er | |
voraussagt, wenn das ökonomische Wachstum so weiterginge, dann wäre in | |
spätestens hundert Jahren das ökonomische Problem erledigt, die Geißel des | |
Elends wäre besiegt und damit wäre auch Geschichte, was das ökonomische | |
Problem in unseren Seelen anrichtet: der Stress, die Angst im Leben der | |
Armen, die ordinäre Geldgier im Leben der Vermögenden, die Banalität des | |
Habenwollens. | |
Wenn der Zustand des Überflusses erreicht ist, wird die „Liebe zum Geld“ | |
als eine „einigermaßen abstoßende Krankheit“ betrachtet werden, „die man | |
mit Schaudern Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt“, prophezeite | |
Keynes. Er lag nicht richtig. Wir haben heute so krasse Ungleichheiten in | |
der Vermögensverteilung, dass man darauf wirklich „Spezialisten für | |
Geisteskrankheiten“ ansetzen möchte. | |
## Das gute alte Karlchen | |
Mit der Befriedigung aller vor hundert Jahren denkbaren Bedürfnisse war | |
überdies das „ökonomische Problem“ nicht gelöst. Sondern die Entwicklung | |
neuer Bedürfnisse wurde überhaupt erst angestoßen. Nicht zuletzt, weil | |
durch Fortschritt und Innovation eine Fülle neuer Waren und Güter entsteht, | |
die man dann haben will, und zwar nicht nur – wie die abgeschmackte Kritik | |
sagen würde – weil man gar nicht mehr weiß, was man wirklich braucht, | |
sondern weil man es verdammt noch mal einfach haben will. Wer sind wir, | |
dass wir in paternalistischer Weise die Wünsche von anderen benoten? | |
Wahr ist aber dennoch: Mit der Entwicklung des Wohlstandes und des | |
relativen Überflusses entstanden Branchen und Berufszweige, deren | |
alleiniger Sinn es ist, in den Menschen das Gefühl anzustacheln, dass sie | |
ein Gut dringend benötigen, von dem sie gerade eben noch nicht einmal | |
wussten, dass es überhaupt existiert. Produktzyklen verkürzen sich | |
überdies, alle zwei Jahre muss ein neues Handy her. | |
Die Produktion von Bedürfnissen sah schon Karl Marx. Das gute alte Karlchen | |
hat vor mehr als 150 Jahren geschrieben, dass jeder Kapitalist zwar möchte, | |
dass seine eigenen Arbeiter sparen, aber eben nur seine, weil die für ihn | |
Kostenfaktoren sind. Alle anderen Arbeiter sollen sehr gut verdienen und | |
keineswegs sparsam sein, denn die stehen ihm als Konsumenten gegenüber. | |
„(Darum) sucht er alle Mittel auf, um sie zum Konsum anzuspornen, neue | |
Reize seinen Waren zu geben, neue Bedürfnisse ihnen anzuschwatzen etc.“ | |
Prominente Denker warnten bald, vor allem im angelsächsischen Raum, vor der | |
Konsumwelt. Der Ökonom John Kenneth Galbraith schrieb 1958 „The Affluent | |
Society“, deutsch: die „Überflussgesellschaft“. Es ist dieser Moment, an | |
dem die Karriere des Begriffs Überfluss vom Versprechen zur | |
Schreckensvokabel Fahrt aufnahm. | |
Die Verwandlung des Begriffs Überfluss zum Komplex von Nörgelei ist auch | |
geprägt von der Entfremdungsdiagnose, der Kritik künstlich produzierter | |
Bedürfnisse, dass sich die Menschen selbst verlieren, in einem Hamsterrad | |
eingespannt sind. Der Überfluss, der doch eigentlich die Entwicklung | |
unserer Potenziale fördern sollte, erweist sich als Fessel derselben, | |
meinte Susan Sontag. [4][Er raubt uns die „sinnliche Erfahrung“, bewirke | |
„eine Abstumpfung unserer sensorischen Fähigkeiten“]. | |
## Alle sind erschöpft | |
Der Überfluss erschöpft die Strapazierfähigkeit des Planeten, heizt uns | |
buchstäblich ein, auch die Ressourcen sind erschöpft. Die Gefräßigkeit des | |
Wirtschaftssystems überfordert nicht nur die Natur, sondern auch uns | |
Menschen. Womöglich ist der Begriff der „Erschöpfung“ heute eine zentrale | |
Vokabel für unsere Problem- und Zeitgefühle. Alle sind erschöpft. Eine | |
ständige innere Unruhe macht sich breit, man beißt die Zähne zusammen, um | |
zu funktionieren. | |
Der Soziologe Sighard Neckel sprach schon vor Jahren vom | |
„gesellschaftlichen Leid der Erschöpfung“ in der Wettbewerbsgesellschaft. | |
„Angst erschöpft“, bemerkte auch sein Kollege Heinz Bude. In einem schönen | |
Text in der Zeit machte unlängst ein Sozialpsychologe darauf aufmerksam, | |
dass es neben den realen Erscheinungen der Erschöpfung eben auch die | |
Erschöpfungsdiskurse gibt. Wenn alle von Erschöpfung reden, fühlen wir uns | |
prompt noch müder. | |
Was eine ordentliche Überflussgesellschaft sein will, bringt sogar einen | |
Überfluss an Erschöpfungsdiagnosen hervor. Der Begriff des Überflusses wird | |
nie gänzlich frei sein von seiner sprachlichen Verwandtschaft mit dem | |
Begriff des „Überflüssigen“. Was heißt: entbehrlich, verzichtbar, unnöt… | |
unnütz. Und so, wie sofort Assoziationen wie „überflüssig“ anklingen, so | |
auch die Beiklänge und Obertöne des „Flüssigen“. Denken wir daran, dass | |
nicht nur unser Wirtschaftssystem, sondern auch die | |
Wirtschaftswissenschaften englische Begriffe kennen wie „Stock“, das sind | |
Bestandsgrößen, und „Flow“ – Fluss –, das sind Strömungsgrößen. Der | |
Vermögensstock, das ist eine Bestandsgröße, das Einkommen wiederum ist eine | |
Strömungsgröße, eine Fließgröße. Einkommen fließt zu, aber nicht nur in | |
metaphorischer Hinsicht, sondern auch in stofflicher Hinsicht, weil sich | |
ein „Fluss“ vollzieht, nämlich jener Stoffwechsel mit der Natur, der jede | |
Produktion kennzeichnet. | |
## Karl Marx hatte recht | |
Jede Produktion ist Stoffwechsel mit der Natur, und längst wissen wir, dass | |
diese keine Überausbeutung verträgt, so wie letztlich immer die Natur | |
diktiert. Sie sitzt am längeren Ast. Das gute alte Karlchen selbst schrieb | |
schon von einem „unheilbaren Riss“ im Stoffwechsel zwischen Natur und | |
Gesellschaft. Der Eingriff in die Natur hat Folgen; [5][ganze Landstriche | |
werden unbewohnbar. Nicht nur mit Hitze und Dürre sind wir konfrontiert], | |
sondern auch mit Flutkatastrophen. Was also die Produktivität und den | |
Output steigern sollte und gesteigert hat, reduziert ihn dann wieder, etwa | |
weil Bauarbeiter in der Hitze nicht mehr bauen können. | |
Wenn wir das systemisch betrachten, vollzieht sich der dynamische | |
Stoffwechsel zwischen der Natur und der (Überfluss-)Gesellschaft so, dass | |
man ein Ziel verfolgt, dass aber der Prozess der Zielerreichung nicht | |
beabsichtigte Nebenfolgen hat, die dann die Zielerreichung wieder | |
durchkreuzen. Der Überfluss verwandelt sich, er verwandelt seine Form, aus | |
der Fülle der Dinge wird Hitze und Wasser, es ist eine regelrechte | |
Metamorphose und der Überfluss an Dingen rauscht irgendwann, verwandelt in | |
einen reißenden Sturzbach, durch unseren Vorgarten und den unserer | |
Mitmenschen und durch die Leben unserer Kinder und Enkel. | |
9 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Einkaufen-vor-dem-Lockdown/!5733927 | |
[2] /Simin-Jawabreh-ueber-ihren-Aktivismus/!5834658 | |
[3] /Zentralbanken-aller-Laender-vereinigt-euch/!6102579 | |
[4] /Vordenkerin-Susan-Sontag/!5176944 | |
[5] /Der-Fruehling-in-Berlin-und-Brandenburg/!5847622 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
## TAGS | |
Konsumkritik | |
Konsum | |
Kapitalismus | |
Reden wir darüber | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wirtschaftspolitik: Das W in Wachstum steht für „Wie?“ | |
Können wir die Welt nur retten, wenn wir den Gürtel enger schnallen? Statt | |
Verzicht zu fordern, sollte die Transformation sinnvoll gestaltet werden. | |
Kolumne Schlagloch: Nie gut, aber besser | |
Utopien werden als gefährlich verunglimpft. Zu Unrecht. Sie sind der Stoff, | |
aus dem Alternativen zum Vorherrschenden entstehen. |