| # taz.de -- Wirtschaftspolitik: Das W in Wachstum steht für „Wie?“ | |
| > Können wir die Welt nur retten, wenn wir den Gürtel enger schnallen? | |
| > Statt Verzicht zu fordern, sollte die Transformation sinnvoll gestaltet | |
| > werden. | |
| Bild: In 104 Meter Höhe die Energiewende vorantreiben? Der ökologische Umbau … | |
| Berlin taz | Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist das Gespenst der | |
| ökologischen Transformation. An Neujahr produzierten Wind- und Solaranlagen | |
| hierzulande mehr Strom, als verbraucht wurde. Eigentlich ein Grund zum | |
| Feiern. Doch so richtig ist keinem danach. Die Industrieproduktion bricht | |
| ein, Konzerne wollen Arbeitsplätze abbauen, das Bruttoinlandsprodukt | |
| schrumpft das zweite Jahr in Folge. | |
| Die Transformation wird zum Albtraum, möchte man meinen. Sie kostet nur. | |
| Vor allem Wirtschaftsleistung, so der Tenor quer durch die politischen | |
| Lager. Die Deindustrialisierung der Wirtschaft müsse ein Ende haben, die | |
| „grüne Wirtschaftspolitik“ sei gescheitert, poltert Union-Kanzlerkandidat | |
| [1][Friedrich Merz] im Wahlkampfmodus. | |
| Dass der ökologische Umbau der Wirtschaft hin zu Klimaneutralität nicht zu | |
| wirtschaftlichem business as usual passt, davon ist die Degrowth-Bewegung | |
| indes schon länger überzeugt. Sie glaubt nicht daran, dass grüne | |
| Technologien Wachstum erzeugen und gleichzeitig die Umweltbelastungen | |
| absolut senken können. „Allein unter der Voraussetzung eines nicht | |
| wachsenden BIP besteht überhaupt nur eine Chance, durch grüne Technologie | |
| die Ökosphäre zu entlasten“, schrieb der bekannte [2][Postwachstumsökonom | |
| Niko Paech] bereits 2012. | |
| Müssen wir also alle den Gürtel enger schnallen, wenn wir die Welt retten | |
| wollen? Muss die Wirtschaft im Rahmen der ökologischen Transformation | |
| schrumpfen statt wachsen? | |
| Nein, Verzicht ist auch keine Lösung. Es geht nicht um mehr oder weniger, | |
| sondern um das richtige Wachstum. Und vor allem darum, wie es entsteht. | |
| Natürlich stellt die Energiewende die kapitalistische Produktionsweise vor | |
| enorme Herausforderungen. Ohne die Erfindung der Dampfmaschine wäre die | |
| Industrialisierung nicht denkbar gewesen, seit über 200 Jahren fußt | |
| Wirtschaftswachstum vor allem auf der Verfügbarkeit fossiler Energieträger. | |
| Doch ob Wirtschaftsleistung klimaschädigend oder -neutral erzeugt wird, das | |
| ist in der kapitalistischen Produktionsweise letztlich nebensächlich. | |
| Wachstumskritiker*innen verkennen das. | |
| ## Das unterkomplexe BIP | |
| Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist eine wichtige, aber sehr abstrakte | |
| Zahl. Mit ihr lassen sich Volkswirtschaften miteinander vergleichen: Wessen | |
| Ökonomie ist größer? China oder USA? Schweiz oder Indien? Die | |
| Erklärungskraft des BIP [3][hat aber ihre Grenzen]. Es sagt nicht aus, wie | |
| gerecht es verteilt ist oder ob es nachhaltig erzeugt wurde. Letztlich | |
| zeigt es nur, wie wirtschaftlich produktiv eine Gesellschaft in einem | |
| bestimmten Zeitraum war. Ist das BIP gewachsen, hat sie mehr produziert als | |
| in der Vorperiode. Wenn es sinkt, war es weniger. | |
| Deswegen lässt sich auch nicht automatisch beantworten, ob die | |
| Transformation zu mehr oder weniger Wachstum führt. Denn letztlich ist das | |
| BIP eine neutrale Größe. Selbst Naturkatastrophen können zu seinem Wachstum | |
| beitragen. Wenn nämlich zum Beispiel Gebäude, die im Rahmen einer Flut | |
| zerstört worden, wieder aufgebaut werden, dann sind das wirtschaftliche | |
| Aktivitäten, die sich in einer höheren Wirtschaftsleistung widerspiegeln. | |
| Insofern ist es auch falsch, einfach nur von Kosten zu sprechen, die die | |
| Transformation verursachen würde. Investitionen in die Energiewende | |
| steigern direkt das BIP. Dem Staat kommt dabei eine ganz besondere Funktion | |
| zu. Er kann nicht nur mit Subventionen Unternehmen und private Haushalte | |
| bei der Transformation unterstützen. Der Staat ist auch dafür zuständig, | |
| die notwendige Infrastruktur zu schaffen. | |
| Zusätzliche Investitionen von 600 Milliarden Euro seien in den nächsten | |
| zehn Jahren nötig, um den Investitionsstau aufzulösen und das Land | |
| zukunftsfähig zu machen – das berechneten das arbeitgebernahe Institut der | |
| deutschen Wirtschaft (IW) und das Institut für Makroökonomie und | |
| Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung | |
| vergangenes Jahr in einer gemeinsamen Studie. Entsprechend müssten jährlich | |
| 60 Milliarden Euro in den Wirtschaftskreislauf gepumpt würden – etwa durch | |
| Klimaanpassungsmaßnahmen oder öffentliche Investitionen in den Klimaschutz | |
| und öffentlichen Nahverkehr. All das würde zu einem höheren BIP, also | |
| Wachstum führen. | |
| Und nicht nur das: Wenn in die Transformation investiert wird, [4][schafft | |
| das Arbeitsplätze], indem zum Beispiel neue Stromnetze gebaut werden oder | |
| der Ausbau der Wind- und Solarenergiebranche vorangetrieben wird. Menschen | |
| verdienen Geld, das sie ausgeben, so die Konjunktur ankurbeln und mit ihrem | |
| Konsum neue Jobs schaffen. | |
| ## Der starke Effekt | |
| Ökonom*innen sprechen deshalb auch von einem Multiplikatoreffekt, den | |
| staatliche Ausgaben haben. Wie groß dieser Effekt sein kann, zeigt aktuell | |
| ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA. Während der Staat in | |
| Deutschland aufgrund der Schuldenbremse spart, hat der damalige | |
| US-Präsident Joe Biden im Jahr 2022 mit dem Inflation Reduction Act ein | |
| massives Investitionsprogramm zur Förderung von grüner Technologie | |
| aufgelegt. Und während die deutsche Wirtschaft vergangenes Jahr um 0,2 | |
| Prozent geschrumpft ist, wuchs die US-amerikanische Wirtschaft um 2,8 | |
| Prozent. | |
| Bloß kam der Aufschwung nur bedingt bei den Menschen an. „Für viele | |
| Amerikaner sind die Lebenshaltungskosten heute viel höher als vor vier | |
| Jahren“, schrieb der Guardian in einer Analyse über die Effekte von Bidens | |
| Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig besitzen mittlerweile die drei reichsten | |
| Menschen der USA mehr als die arme Hälfte der Gesellschaft. | |
| „Die Klimakatastrophe ist auch eine Verteilungsfrage“, schreiben Linus | |
| Westheuser und Johanna Siebert im neuen Wirtschaftsmagazin Surplus. Dies | |
| ist insbesondere in Deutschland der Fall, wo der Staat nicht richtig | |
| investiert und weite Teile der Industrie jetzt merken, dass sie die | |
| Transformation verschlafen haben. Denn wenn weniger produziert wird, gibt | |
| es weniger zu verteilen. Die Konflikte verschärfen sich. | |
| Dabei ist es frappierend, wie ungeniert rechte Politiker:innen, | |
| Wirtschaftsverbände und Konzernlenker:innen die Kosten der | |
| Transformation auf die Beschäftigten abwälzen wollen. Die Stahlsparte von | |
| Thyssenkrupp, die Milliardensubventionen für den Aufbau einer grünen | |
| Stahlproduktion erhält, kündigte letzten Herbst Massenentlassungen an. Bei | |
| Volkswagen wurde bis kurz vor Weihnachten um ein hartes Sparprogramm | |
| gerungen. Der Vorstand wollte nicht nur Massenentlassungen, sondern auch | |
| Lohnkürzungen und Werksschließungen. Friedrich Merz fordert von den | |
| Beschäftigten „mehr Fleiß“, damit es wieder mit dem Wachstum klappt. | |
| Es drängt sich der Verdacht auf, dass Personen wie Merz und die | |
| Geschäftsführer von Thyssenkrupp und VW heimlich „Das Kapital“ von Karl | |
| Marx gelesen haben und nun daraus in ihrem Interesse abschreiben. Denn für | |
| den Erfinder des wissenschaftlichen Sozialismus gab es nur eine Quelle | |
| jeglichen Wertes: die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Deswegen | |
| wäre für Marx das BIP lediglich die Summe dessen, was eine Volkswirtschaft | |
| in einem Jahr gemeinsam erarbeitet hat. | |
| Für Marx bestand der Haupthebel für Unternehmer*innen zur Erhöhung | |
| ihrer Renditen deshalb darin, ihre Angestellten länger, effizienter und für | |
| weniger Geld arbeiten zu lassen und sich so einen größeren Anteil ihres | |
| Arbeitsproduktes anzueignen. Genau dies fordern Merz und Co jetzt wieder | |
| ein. | |
| ## Die gute Arbeit | |
| Folglich sollten auch Progressive wieder das Thema gute Arbeit ins Zentrum | |
| der Transformationsdebatte stellen und positiv wenden. Wie kann Arbeit | |
| fair und ressourcenschonend aufgeteilt werden? Sollten manche Arbeiten | |
| einen höheren Stellenwert haben, andere einen niedrigeren? Ist es sinnvoll, | |
| dass ein Konzernvorstand das 40-fache Gehalt eines Angestellten hat? Oder | |
| sollten Biobauern und Handwerker mehr verdienen? Schließlich ist es | |
| ressourcensparender, wenn Lebensmittel regional erzeugt und Alltagsgüter | |
| wie Schuhe handwerklich statt als Massenware am anderen Ende der Welt | |
| produziert werden. Dann tragen diese Berufe durch ihre Aufwertung auch | |
| stärker zum Wachstum bei. | |
| Vielleicht kommt die Gesellschaft auch zu dem Schluss, dass es sinnvoll | |
| ist, im Sinne der Transformation weniger statt mehr zu arbeiten. Dann wäre | |
| es auch nicht so schlimm, wenn es am Ende etwas weniger Wachstum gäbe. Denn | |
| im Kapitalismus gilt nur jene Arbeit als wertbildend, also zum BIP | |
| beitragend, deren Produkte auch verkauft werden. Andere nützliche Arbeit | |
| wie ehrenamtliches Engagement oder Pflege- und Sorgearbeit in der Familie | |
| spiegeln sich in der Wirtschaftsleistung nicht wider. | |
| Insofern sollte die Transformation wieder als Chance begriffen werden, um | |
| darüber zu diskutieren, wie wir eigentlich leben wollen. Ob es dann mehr | |
| oder weniger Wachstum gibt, ist dann erst mal nebensächlich. | |
| 10 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
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