| # taz.de -- Wohlstand für die ganze Welt: Kann Wachstum klimagerecht sein? | |
| > Für den größten Teil der Welt ist Degrowth keine Perspektive. Wie können | |
| > Klimaschutz und Entwicklung zusammengehen? Eine Analyse in fünf | |
| > Schritten. | |
| Bild: Gerechtes Wachstum für alle ist möglich. Gerade sind wir aber noch weit… | |
| Die Klimakrise kann verheerende Folgen haben, diese Erkenntnis ist in | |
| Deutschland mittlerweile in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. Und | |
| politische Fragestellungen, die über viele Jahre ein Nischendasein | |
| fristeten, haben jetzt den Sprung in die große Öffentlichkeit geschafft, | |
| etwa: Muss die Wirtschaft angesichts der Klimakrise schrumpfen? Die | |
| [1][Degrowth- oder Postwachstums-Bewegung] proklamiert: Grünes Wachstum | |
| gibt es nicht – wir müssen weniger konsumieren, weniger produzieren, | |
| weniger emittieren. | |
| Doch die Forderung nach einem Ende des Wachstums hat oft eine Leerstelle: | |
| Ihr fehlt die globale Perspektive. Grün schrumpfen oder grün wachsen, das | |
| wird in Deutschland für Deutschland diskutiert oder [2][in den USA für die | |
| USA]. Die Klimakrise aber schert sich nicht um nationale Grenzen. Das | |
| CO2-Budget kann man zwar auf einzelne Länder herunterrechnen, letztlich | |
| gibt es nur ein einziges: für die ganze Welt. | |
| Kaum jemand bestreitet noch, dass die globalen Treibhausgasemissionen | |
| sinken müssen, und zwar stärker, als es die bisherigen politischen | |
| Maßnahmen bereits bewirken. Aktuell ist eine Erderhitzung um | |
| [3][durchschnittlich 2,7 Grad wahrscheinlich]. Das ist zwar besser als die | |
| mehr als 4 Grad, um die sich die Erde ganz ohne Klimaschutzpolitik erhitzen | |
| würde, aber es ist immer noch ein Szenario, in dem Milliarden Menschen | |
| unter Dürren, Fluten, Hitzewellen und Hungersnöten leiden werden. | |
| Für einen großen Teil der Welt sind Hunger und Armut dabei nicht nur | |
| mögliche Zukunftsszenarien, sondern die bittere Gegenwart. Länder wie | |
| Deutschland oder die USA, mit einer [4][hohen Wirtschaftsleistung] und | |
| einem [5][hohen CO2-Ausstoß], bilden global gesehen die Ausnahme. Die | |
| allermeisten Staaten auf der Welt sind ärmer, sie produzieren weniger – und | |
| emittieren weniger. | |
| Was bedeutet es also für die Welt, wenn grünes Schrumpfen gefordert wird, | |
| weil grünes Wachstum nicht möglich sei? Was bedeutet eine solche Forderung | |
| für ein Land wie Gabun, in dem das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit 1990 | |
| [6][um mehr als 20 Prozent gefallen ist]? | |
| Was bedeutet sie für ein Land wie Laos, wo sich die Wirtschaftsleistung pro | |
| Kopf [7][seit 1990 vervierfacht hat], aber die Emissionen pro Kopf im | |
| selben Zeitraum [8][auf das 23-Fache angewachsen] sind? Gibt es für Länder, | |
| die bisher kaum zur Klimakrise beigetragen haben, ein Recht auf | |
| wirtschaftliche Entwicklung, auch wenn diese auf fossilen Brennstoffen | |
| basiert? Und wie viel Wirtschaftsleistung ist eigentlich notwendig, damit | |
| Menschen ein würdiges Leben führen können, egal ob in Deutschland oder | |
| Malawi? | |
| Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Zusammenhänge | |
| zwischen Wirtschaftsleistung, Treibhausgasemissionen und menschlichem | |
| Wohlergehen. Versuchen wir’s, in fünf Schritten. | |
| ## Schritt 1: Je mehr Wirtschaftsleistung, desto mehr Emissionen | |
| Wer etwas vergleichen möchte, muss es messen können. Sowohl für | |
| Wirtschaftsleistung als auch für Treibhausgasemissionen gibt es deswegen | |
| international anerkannte Maßeinheiten, die uns allen geläufig sind. | |
| Wirtschaftsleistung wird [9][als Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen], das | |
| bedeutet: Für einen bestimmten Zeitraum, zum Beispiel für ein Jahr, wird | |
| berechnet, was alle Waren und Dienstleistungen, die in einem Land in dieser | |
| Zeit hergestellt wurden, zusammen wert sind. Vorleistungen, die man | |
| braucht, um andere Güter und Dienstleistungen zu erzeugen, werden nicht | |
| mitgerechnet: Es zählt der Preis eines fertigen Stuhls. Der Preis einer | |
| Schraube, die in dem Stuhl verbaut wurde, ist bereits in den Preis des | |
| Stuhls eingeflossen und wird nicht noch einmal extra gezählt. | |
| Treibhausgase sind Bestandteile der Atmosphäre. Sie bewirken, dass ein Teil | |
| der Wärme, die die Erde abstrahlt, nicht im Weltall verschwindet, sondern | |
| auf die Erde zurückgestrahlt wird und diese erwärmt. Weil diese Gase | |
| unterschiedlich viel Wärme absorbieren können und unterschiedlich lange in | |
| der Atmosphäre bleiben, hat jedes von ihnen ein anderes Treibhauspotenzial. | |
| Das macht Rechnungen dadurch oft sehr kompliziert, deshalb werden häufig | |
| nur die Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2) betrachtet, dem häufigsten | |
| Treibhausgas. | |
| Wenn man Länder miteinander vergleicht, ist es sowohl beim BIP als auch bei | |
| den Emissionen besser, diese Größen pro Kopf zu berechnen, damit der | |
| Vergleich nicht dadurch verzerrt wird, dass in dem einen Land viel mehr | |
| Menschen leben als in dem anderen. In unserer Grafik sind auf der | |
| vertikalen Achse die CO2-Emissionen pro Kopf dargestellt und auf der | |
| horizontalen Achse das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. | |
| Man sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren: | |
| Länder, die eher unten eingetragen sind, also pro Kopf wenig Treibhausgase | |
| emittieren, stehen auch eher im linken Bereich der Grafik, wo das BIP pro | |
| Kopf niedrig ist. | |
| Wäre der Zusammenhang zwischen BIP und CO2 in jedem Land genau gleich, | |
| wären alle Länder-Punkte exakt auf einer Linie angeordnet. Das ist nicht | |
| der Fall, es gibt Ausreißer zu allen Seiten. Irland und Libyen stoßen zum | |
| Beispiel pro Kopf in etwa die gleiche Menge an CO2 aus, obwohl in Irland | |
| die Wirtschaftsleistung deutlich höher ist als in Libyen. Die Tendenz ist | |
| trotzdem klar: Je mehr Waren und Dienstleistungen produziert werden, desto | |
| mehr CO2 beziehungsweise Treibhausgase werden ausgestoßen. | |
| Aber was bedeutet das für unsere Ausgangsfragen? Müssten wir dann nicht auf | |
| der ganzen Welt die Wirtschaftsleistung senken, um die | |
| Treibhausgasemissionen und damit die Erderwärmung zu reduzieren? Dafür | |
| müssen wir uns anschauen, wozu Wirtschaftsleistung eigentlich wichtig ist. | |
| ## Schritt 2: Je höher die Wirtschaftsleistung, desto größer die | |
| Zufriedenheit | |
| Mit dem Bruttoinlandsprodukt wird die Wirtschaftsleistung eines Landes | |
| gemessen, das hatten wir bereits. Doch oft wird das BIP auch als Indikator | |
| für andere Entwicklungen genommen: wie gut es einem Land geht, wie | |
| zufrieden seine Bewohner:innen sein können. | |
| An dieser Verwendung des BIP, bei der mehr Wirtschaftsleistung immer als | |
| besser gilt, [10][gibt es viel Kritik]. Schließlich gibt es alle möglichen | |
| Faktoren, die für ein gutes Leben wichtig sind, aber nicht in das BIP | |
| einfließen: etwa, wie gerecht die Einkommen eines Landes verteilt sind, wie | |
| gut seine Krankenhäuser organisiert sind oder wie sicher es ist, abends auf | |
| die Straße zu gehen. | |
| Dazu kommt, dass unbezahlte Arbeit nicht ins BIP einfließt und dass eine | |
| höhere Wirtschaftsleistung nicht immer bedeuten muss, dass es Menschen | |
| wirtschaftlich besser geht. Wenn das Feld, auf dem ein Dorf bislang | |
| Getreide für den Eigenbedarf angebaut hat, an eine Firma verkauft wird, die | |
| dort Baumwolle kultiviert, um sie woanders zu verkaufen, und den | |
| Arbeiter:innen dafür einen Hungerlohn auszahlt – dann steigt das BIP, | |
| aber die Menschen aus dem Dorf sind möglicherweise schlechter versorgt als | |
| vorher. | |
| Manche Kritiker:innen gehen deswegen sogar so weit zu sagen, das BIP | |
| sage rein gar nichts darüber aus, wie gut es sich in einem Land leben | |
| lasse. Dann wird gern Bhutan als Beispiel genommen, gemessen am BIP eins | |
| der ärmsten Länder, dessen Bewohner:innen aber angeblich die | |
| glücklichsten der Welt sein sollen. Belegen lässt sich das allerdings | |
| nicht: Zwar versucht Bhutan tatsächlich, das Glück seiner Bevölkerung mit | |
| einem eigens dafür entwickelten [11][Index für „Bruttonationalglück“] zu | |
| erfassen, doch es gibt keine Vergleichswerte aus anderen Ländern, mit denen | |
| man diese Zahlen interpretieren könnte. | |
| Glück, Zufriedenheit, menschliches Wohlergehen: Die Diskussion, wie | |
| abhängig oder unabhängig diese Faktoren von der Wirtschaftsleistung eines | |
| Landes sind, wird dadurch erschwert, dass es nicht einfach ist, sie | |
| überhaupt zu messen. | |
| Es gibt Statistiken dazu, wie Menschen ihre eigene Lebenszufriedenheit auf | |
| einer Skala von 1 bis 10 einschätzen, aber die sind nicht ohne Probleme: | |
| Vielleicht gebe ich mir heute für meine Lebenszufriedenheit 7 von 10 | |
| Punkten, aber wenn ich morgen noch einmal befragt werde, wenn der Himmel | |
| grau ist und meine Milch gerade übergekocht, sind es nur noch 5 von 10. | |
| Auch gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede, wie wir überhaupt über | |
| Zufriedenheit sprechen, können unsere Selbsteinschätzung beeinflussen. | |
| Zudem vergleichen wir uns eher mit unseren Nachbarn aus dem gleichen Land | |
| als gleich mit der ganzen Welt. | |
| Um menschliches Wohlergehen zu messen, ist es deswegen am besten, wenn man | |
| sowohl auf die Selbsteinschätzung der Lebenszufriedenheit schaut als auch | |
| auf Faktoren, die leichter und objektiver zu messen sind. | |
| Wenn wir etwa von den [12][Menschenrechten] oder [13][den | |
| Entwicklungszielen der UN] ausgehen, können wir festlegen, dass eine | |
| geringe Kindersterblichkeit, ausreichende medizinische Versorgung oder der | |
| Zugang zu sauberem Trinkwasser zum menschlichem Wohlergehen beitragen. Auch | |
| die Chance auf ein langes Leben oder die Möglichkeit, nur so viel arbeiten | |
| zu müssen, dass noch Freizeit bleibt, sind Indikatoren, die uns dabei | |
| helfen können, menschliches Wohlergehen zu erfassen. | |
| Setzt man also verschiedene dieser Faktoren in ein Verhältnis zum | |
| Bruttoinlandsprodukt, so, wie wir es bereits mit den Treibhausgasemissionen | |
| gemacht haben, dann erkennt man auch hier einen klaren Zusammenhang: Je | |
| höher das BIP, desto besser sind die Werte bei unseren Indikatoren für | |
| menschliches Wohlergehen, egal ob Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung | |
| oder einer der anderen. | |
| Das heißt nicht, dass die Kritik an der Eindimensionalität des BIP | |
| unberechtigt wäre. Aber wir sehen, dass die Wirtschaftsleistung für viele | |
| unserer Wohlergehen-Faktoren nicht egal ist: In einem Land mit einem sehr | |
| geringen BIP, [14][beispielsweise in Burundi], ist die Kindersterblichkeit | |
| höher, die Lebenserwartung wie auch die selbst eingeschätzte | |
| Lebenszufriedenheit geringer, der Zugang zu Bildung, medizinischer | |
| Versorgung oder sauberem Trinkwasser schlechter und die Zahl der | |
| Arbeitsstunden pro Person größer als in einem Land mit höherer | |
| Wirtschaftsleistung. | |
| Für unsere Ausgangsfragen ist das ein Problem. Die Wirtschaft zu | |
| schrumpfen, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, könnte also dazu | |
| führen, dass es der Bevölkerung deutlich schlechter geht. Anders gesagt: | |
| Mit der Wirtschaftsleistung von Burundi hätte Deutschland zwar vermutlich | |
| ähnlich geringe Treibhausgasemissionen, aber eben auch eine höhere | |
| Kindersterblichkeit. | |
| Nun behauptet aber keine Wachstumskritikerin und kein Klimaschützer, die | |
| ärmsten Länder der Welt sollten zum globalen Maßstab werden. | |
| Wenn wir ausgehend von den Berechnungen des Weltklimarats IPCC annehmen, | |
| dass die Welt für die 1,5-Grad-Grenze ab etwa 2050 aufhören muss, | |
| Treibhausgase zu emittieren – eine eher optimistische Rechnung, die | |
| CO2-speichernde Technologien mit einschließt – dann hat jeder Mensch auf | |
| der Erde bis dahin ein Budget von etwa 3 Tonnen [15][pro Jahr.] Das sind | |
| deutlich weniger als die [16][8,1 Tonnen], die in Deutschland 2021 im | |
| Schnitt verbraucht wurden, aber auch deutlich mehr als in Burundi, wo der | |
| Pro-Kopf-Ausstoß 2021 bei nur [17][0,06 Tonnen] lag. Dennoch: 3 Tonnen, das | |
| ist weniger als der weltweite Durchschnitt, der bei mehr als 4 Tonnen | |
| liegt. | |
| ## Schritt 3: Immer noch mehr macht es nicht immer noch besser | |
| Für manche Länder ist es aber sehr wohl möglich, die Wirtschaftsleistung zu | |
| senken, ohne dass es der Bevölkerung deswegen schlechter gehen muss. Der | |
| starke Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsleistung und unserem | |
| Wohlergehen gilt nämlich nur bis zu einem bestimmten Punkt. So flacht etwa | |
| die Kurve, die den Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt und | |
| Lebenserwartung darstellt, ab einem BIP von etwa 40.000 Dollar pro Kopf | |
| deutlich ab. | |
| Das heißt: Steigert ein Land seine Wirtschaftsleistung über dieses Maß | |
| hinaus, hat das kaum noch positive Effekte auf die Lebenserwartung. | |
| Ähnliches gilt für andere Indikatoren: Der gesamten Bevölkerung Zugang zu | |
| sauberem Trinkwasser zu gewährleisten, schaffen fast alle Länder bereits | |
| [18][ab einem BIP von 20.000 Dollar pro Kopf], danach gibt es keine | |
| Steigerung mehr. Ab [19][einem BIP von etwa 50.000 Dollar pro Kopf] sind | |
| die Leute – beim Selbsteinschätzen auf einer Skala von 1 bis 10 – nicht | |
| zufriedener, wenn die Wirtschaftsleistung weiter steigt. | |
| Immer noch mehr ist also nicht immer noch besser. In allen Ländern, die | |
| über diesen Schwellenwerten liegen, wäre es möglich, die | |
| Wirtschaftsleistung und damit auch die Treibhausgasemissionen zu senken, | |
| ohne das Wohlergehen signifikant zu verringern. Deutschland, wo das BIP pro | |
| Kopf im Jahr 2020 [20][gut 51.000 Dollar] betrug, ist so ein Land. | |
| Dass die Deutschen sich als zufriedener empfinden, wenn Deutschland sein | |
| BIP weiter steigert, ist unwahrscheinlich. In den USA gaben sich Menschen | |
| [21][im Jahr 2003 durchschnittlich 7,5 von 10 Punkten] für ihre | |
| Lebenszufriedenheit. Damals lag das BIP pro Kopf bei gut 54.000 Dollar. | |
| 2019 war es auf gut 62.000 Dollar gestiegen, aber die durchschnittliche | |
| Lebenszufriedenheit hatte [22][mit 6,9 Punkten] sogar etwas abgenommen. | |
| Könnte es dann nicht vielleicht als Lösung ausreichen, die | |
| Wirtschaftsleistung global umzuverteilen? Würde es reichen, wenn alle | |
| Länder, die mehr produzieren, als für ein gutes Leben notwendig ist, etwas | |
| von ihrer Wirtschaftsleistung abgeben an die Länder, die noch unter den | |
| genannten Schwellenwerten liegen? Sodass die Wirtschaft insgesamt nicht | |
| wachsen muss und die globalen Treibhausgasemissionen nicht steigen? | |
| Die Antwort lautet leider: nein. Durch den Vergleich unserer Indikatoren | |
| für menschliches Wohlergehen wie Lebenserwartung, Lebenszufriedenheit, | |
| Kindersterblichkeit oder Zugang zu Bildung können wir grob zu dem Ergebnis | |
| kommen, dass dieser Schwellenwert, ab dem ein höheres BIP nicht mehr zu | |
| einem besseren Leben führt, bei ungefähr 35.000 Dollar pro Kopf liegt. | |
| Die meisten Länder haben das aber noch lange nicht erreicht: Der weltweite | |
| BIP-Durchschnitt lag im Jahr 2021 bei [23][gut 12.000 Dollar pro Kopf]. | |
| Selbst wenn also reiche Länder ihre Wirtschaft schrumpfen würden – global | |
| gesehen müsste sie trotzdem wachsen, wenn alle Länder ein BIP von 35.000 | |
| pro Kopf erreichen sollen. | |
| Dass die Wirtschaft wachsen muss, um Armut und Hunger, eine hohe | |
| Kindersterblichkeit oder mangelnden Zugang zu Bildung zu überwinden, ist | |
| ein Problem. Schließlich haben wir gesehen, dass mehr Wirtschaftswachstum | |
| auch mehr Emissionen bedeutet. Ein ganz schönes Dilemma, wenn wir beides | |
| wollen: für alle Menschen gute Lebensbedingungen schaffen und die | |
| Klimakatastrophe verhindern. Doch es gibt auch Überlegungen, die | |
| Lösungsansätze zeigen. | |
| ## Schritt 4: Ungleichheit macht unzufrieden | |
| Der Schwellenwert, ab dem mehr Wirtschaftsleistung nicht mehr ein noch | |
| besseres Leben bedeutet, liegt bei einem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von | |
| etwa 35.000 Dollar. Diese Annahme von uns stützt sich auf empirische Daten | |
| aus Gesellschaften, die es wirklich gibt. Wären diese Gesellschaften anders | |
| strukturiert, könnte diese Schwelle auch schon bei einem etwas geringeren | |
| BIP liegen. | |
| Zum Beispiel, wenn Geld gerechter verteilt wäre. Die Frage, wie Glück und | |
| Ungleichheit zusammenhängen, wird [24][wissenschaftlich heiß diskutiert], | |
| weil das Thema ideologisch aufgeladen und die Datenlage dazu [25][sehr | |
| komplex ist]. Jede Methode, diese Frage zu beantworten, hat deswegen auch | |
| ihre Schwächen. Aber in der Tendenz zeigen die meisten Studien, dass | |
| größere Ungleichheit tatsächlich dazu führt, [26][dass Menschen weniger | |
| zufrieden sind]. Es kommt also nicht nur auf die Höhe der | |
| Wirtschaftsleistung an, sondern auch darauf, wie der erwirtschaftete | |
| Reichtum eingesetzt und verteilt wird. | |
| ## Schritt 5: Der Norden muss dem Süden grünes Wachstum ermöglichen | |
| Vor allem eine Statistik macht Mut. Betrachten wir, wie sich die weltweite | |
| Wirtschaftsleistung und der Ausstoß von CO2 durch fossile Industrien über | |
| die letzten 30 Jahre verändert haben, sehen wir, wie die beiden Linien | |
| immer weiter auseinandergehen: Während die weltweite Wirtschaftsleistung | |
| weiter stark wächst, hat sich der Anstieg der CO2-Emissionen im Vergleich | |
| verlangsamt. Mehr Wirtschaftsleistung bedeutet also nicht mehr in dem Maß | |
| mehr Emissionen, wie es noch vor 30 Jahren der Fall war. | |
| Schaut man sich diese Entwicklung für einzelne Länder an, sieht man | |
| allerdings, dass das Ausmaß dieser Entkopplung stark variiert. Getrieben | |
| wird sie hauptsächlich von Industriestaaten wie beispielsweise | |
| [27][Schweden] oder [28][Großbritannien]. Dank Energiewende gelingt es in | |
| diesen Ländern, Wirtschaftsleistung und CO2-Emissionen zu entkoppeln. In | |
| vielen anderen Ländern basiert wirtschaftliches Wachstum nach wie vor | |
| hauptsächlich auf dem Einsatz fossiler Energien. Indien etwa plant, zur | |
| Steigerung seiner Wirtschaftsleistung in den nächsten Jahren noch deutlich | |
| mehr Kohle zu verfeuern als bisher. | |
| Daraus folgt, dass es nur einen Weg gibt, in Ländern wie Indien Armut zu | |
| verringern und gleichzeitig die Klimakatastrophe zu verhindern: Auch in | |
| diesen Ländern muss Entkopplung, also grünes, auf erneuerbaren Energien | |
| basierendes Wirtschaftswachstum möglich werden. Dafür braucht es Geld. Es | |
| stimmt, dass die Klimakatastrophe viel teurer wäre als die Energiewende, | |
| und es stimmt, dass erneuerbare Energien auf lange Sicht günstiger sind als | |
| fossile Brennstoffe. Aber erst einmal muss für die Umstellung auf | |
| Erneuerbare investiert werden, das gilt in Deutschland genauso wie in | |
| Indien. | |
| Für grünes Wachstum in armen Ländern braucht es also Geld, das diese Länder | |
| meist nicht haben. Einen Ausweg aus dieser Situation gibt es nur, wenn | |
| reiche Länder armen Ländern helfen, die Energiewende zu bezahlen. Aus einer | |
| globalen Gerechtigkeitsperspektive wäre das nur folgerichtig, schließlich | |
| sind es die armen Länder, die [29][am wenigsten zur Klimakrise beigetragen | |
| haben] und am härtesten von den Krisenfolgen betroffen sind. Aber wie | |
| sollen die Industriestaaten grünes Wachstum finanzieren, wenn sie ihre | |
| eigene Wirtschaftsleistung reduzieren müssen? | |
| Dafür gibt es sehr wohl Möglichkeiten. Beispielsweise ein globaler | |
| Schuldenschnitt, wie ihn [30][Hilfsorganisationen], | |
| [31][Klima-Aktivist:innen] und [32][Entwicklungsforscher:innen] | |
| längst fordern: Reiche Länder sollen armen Ländern ihre Schulden erlassen, | |
| damit diese [33][Geld für Energiewende und Naturschutz haben], statt Zinsen | |
| und Tilgung an reiche Länder zahlen zu müssen. Eine Milliarde Euro Schulden | |
| könnte etwa Deutschland Pakistan erlassen, ein Land, das [34][schon jetzt | |
| unter Flutkatastrophen leidet] und gleichzeitig in einer tiefen | |
| Schuldenkrise steckt. | |
| Auch Einnahmen aus einer CO2-Steuer könnten dazu verwendet werden, die | |
| Umstellung auf erneuerbare Energie in anderen Ländern zu finanzieren. | |
| Selbst wenn nur die reichsten Menschen in den Industriestaaten auf ihren | |
| enormen CO2-Verbrauch Abgaben zahlen würden, käme schon eine gute Summe | |
| zusammen: Laut einer [35][kürzlich veröffentlichten Studie] hätte allein | |
| Großbritannien mehr als 143 Milliarden Euro eingenommen, wenn es vor 20 | |
| Jahren eine CO2-Steuer für das oberste Prozent der Top-Verdiener eingeführt | |
| hätte. | |
| ## Fazit | |
| Der Blick auf die globalen Verhältnisse macht deutlich: Postwachstum ist | |
| für Länder wie Deutschland ein wichtiger Impuls. Denn selbst wenn es | |
| gelingt, Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen zu entkoppeln, gibt es | |
| andere Faktoren, die unendliches Wachstum verunmöglichen, beispielsweise | |
| die Endlichkeit materieller Ressourcen. Vor allem aber führt mehr | |
| Wirtschaftsleistung in reicheren Ländern gar nicht mehr dazu, dass es | |
| Menschen besser geht. | |
| Für den größten Teil der Welt aber ist es keine Option, nicht mehr zu | |
| wachsen oder gar zu schrumpfen. Degrowth in Deutschland muss deswegen um | |
| eine Perspektive für klimafreundliches globales Wachstum erweitert werden. | |
| Aus moralischen und aus Gerechtigkeitsgründen. Und auch, weil es sonst | |
| keine Lösung geben wird, die Klimakrise abzuwenden und Armut zu überwinden. | |
| 12 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Energiewende-und-Klimarettung/!5890174 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2023/02/17/opinion/economic-growth-green-degrowth.h… | |
| [3] https://climateactiontracker.org/global/temperatures/ | |
| [4] https://www.worldometers.info/gdp/gdp-per-capita/ | |
| [5] https://data.worldbank.org/indicator/EN.ATM.CO2E.PC | |
| [6] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&c… | |
| [7] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&c… | |
| [8] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&co… | |
| [9] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrec… | |
| [10] /Alternativen-zum-Bruttoinlandsprodukt/!5894750 | |
| [11] /Bruttonationalglueck-in-Bhutan/!5743841 | |
| [12] https://www.un.org/en/about-us/universal-declaration-of-human-rights | |
| [13] https://sdgs.un.org/goals | |
| [14] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&… | |
| [15] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/co2-budget-habeck-101.html | |
| [16] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&c… | |
| [17] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&c… | |
| [18] https://ourworldindata.org/grapher/improved-water-sources-vs-gdp-per-capita | |
| [19] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness | |
| [20] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=DE | |
| [21] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness?xScale=linear&time… | |
| [22] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness?xScale=linear&time… | |
| [23] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD | |
| [24] https://www.jstor.org/stable/24442543 | |
| [25] https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2022.829707/full | |
| [26] https://www.nature.com/articles/4581109a | |
| [27] https://ourworldindata.org/grapher/co2-emissions-and-gdp-long-term?country… | |
| [28] https://ourworldindata.org/grapher/co2-emissions-and-gdp-long-term?country… | |
| [29] https://ourworldindata.org/grapher/cumulative-co-emissions | |
| [30] https://erlassjahr.de/ | |
| [31] https://debtforclimate.org/ | |
| [32] https://www.soas.ac.uk/about/news/new-report-co-authored-soas-urges-g20-su… | |
| [33] /Modell-Staatsschulden-fuer-das-Klima/!5915018 | |
| [34] /Humanitaere-Hilfe-fuer-Pakistan/!5904853 | |
| [35] https://autonomy.work/portfolio/climate-fund-climate-action/ | |
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| Malene Gürgen | |
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