# taz.de -- Energiewende und Klimarettung: Krise in der Konsumkathedrale | |
> Gesellschaften haben sich in ein Labyrinth unerfüllbarer | |
> Wohlstandsversprechen verrannt. Nun besteht die Chance, mit Energie | |
> realistisch umzugehen. | |
Bild: Klimarettung und wachsender Komfort, passt das zusammen? | |
Multiple Gegenwartskrisen decken nicht nur aufgestaute Unvereinbarkeiten | |
auf, die sich vorübergehend hinter einer scheinbaren Normalität verbergen | |
ließen. Sie gewähren auch Einblicke in den mentalen Überbau einer auf Sand | |
gebauten Konsumkathedrale. Dafür liefert der Gaspreis-Blues ein | |
mehrstrophiges Schaustück. | |
Verhöhnte es nicht jeden Sinn für Vorsorge, den Wohnraum innerhalb weniger | |
Jahrzehnte derart expandieren zu lassen, dass seine Beheizung mittels | |
heimischer Energievorräte in weite Ferne rückte? Immerhin hätten die | |
begrenzten Gasvorräte durch Holz, Solarthermie, Geothermie und | |
Nahwärmesysteme ergänzt und Neubau an den Passivhausstandard gebunden | |
werden können. | |
Aber dies hätte sich nicht mit der Ideologie des Wohnraummangels vertragen, | |
hinter der sich vorwiegend Luxusprobleme verstecken. Etwa das vermeintliche | |
Recht, nach Belieben in jede Metropole ziehen zu können, während anderswo | |
der Wohnraum und ganze Regionen verfallen. Oder ein Überhang an Vermögen, | |
dessen Anlage in Eigentumswohnungen und Häusern keineswegs nur für Eliten | |
lukrativ ist. Jedenfalls hat sich der pro Kopf beanspruchte Wohnraum seit | |
Mitte der 50er Jahre mehr als verdreifacht. | |
Parteiübergreifende Klimaschutzforderungen, schädliche Handlungen zu | |
verteuern, um Sparanreize zu setzen, entpuppen sich nunmehr als Gewissen | |
beruhigendes Ritual. Denn kaum wird durch äußere Umstände oktroyiert, wovor | |
sich die Politik jahrzehntelang drückt, will eines der reichsten Länder | |
außerstande sein, Energiepreise zu zahlen, die nicht (mehr) auf | |
ökologischem Dumping und einer riskanten Aufgabe ökonomischer Autonomie | |
basieren. | |
## Klimarettung bei wachsendem Komfort geht nicht | |
Sind die Preise eingedenk der unbestrittenen Logik ökologisch „wahrer“ | |
Kosten derzeit zu hoch oder waren sie vorher zu gering? Dem lässt sich | |
elegant ausweichen, indem auf drohende Armut verwiesen wird, die sich | |
sodann zu einem Schutzschild aufblasen lässt, hinter dem die anderen 85 | |
Prozent ihren Wohlstand ebenso wirksam gegen notwendige Mäßigungen | |
verschanzen können. | |
Mit der sogenannten „Energiewende“ wurde die Klimarettung bei gleichzeitig | |
wachsendem Komfort versprochen. Wäre dieser grünen Wachstumsutopie auch nur | |
geringer Erfolg beschieden gewesen, müsste sich das in dieser Stunde der | |
energiepolitischen Wahrheit zeigen. Und? Stromimporte, Kohlekraftwerke, | |
schmutzige Geschäfte mit Katar, [1][ökologisch desaströse LNG-Terminals] | |
und drei Reserve-AKWs sind nach einem Vierteljahrhundert die Quittung für | |
eine erneuerbare Technologiebrechstange, mit der zwar Landschaften | |
traktiert, aber weder Versorgungssicherheit noch nennenswerte | |
Emissionsminderungen erreicht wurden. Nun wird das Gaspedal der | |
Planierraupe erst recht durchgedrückt, indem geschützte Naturareale | |
geschleift werden sollen – vom ersten grünen Wirtschaftsminister. | |
Heizkostenrechnungen bilden das Produkt aus Preis und Menge. Die aufgeregte | |
Blickverengung auf den Preis soll wohl die bequeme, aber ulkige Vorstellung | |
befördern, dass deutsche Haushalte bislang nichts anderes zu tun hatten, | |
als ihre Heizungsanlage, die durchschnittliche Raumtemperatur, das | |
Lüftungsverhalten, den Warmwasserverbrauch, insbesondere die | |
Duschhäufigkeit, den Zustand der Gebäudehülle und – vor allem – eine | |
energiebewusste Kindererziehung derart zu optimieren, dass nun alle | |
Einsparpotenziale ausgeschöpft seien. | |
Spaß beiseite. Tatsächlich besteht derzeit die Chance, endlich einen | |
realistischen Umgang mit Energie einzuüben. Dazu reicht es nicht, | |
vorhandene Immobilien und das Nutzerverhalten anzupassen, sondern keinen | |
Quadratmeter Fläche mehr durch Wohnraum zu zerstören, der alle | |
Einsparbemühungen auffrisst. Es sagt einiges über die Verfassung einer | |
Gesellschaft aus, deren [2][Regierung Klimaschutzkompetenz reklamiert, | |
jedoch weiterhin 400.000 neue Wohnungen pro Jahr] verspricht. | |
## Ein Labyrinth unerfüllbarer Wohlstandsversprechen | |
Wenn das Gas im Winter zwar reicht, sich aber prägnant verteuert, wie viele | |
Haushalte werden dann notleidend? Nichts spräche dagegen, in Einzelfällen | |
Hilfe zu gewähren, sofern diese begründbar ist – aber daran will sich | |
niemand die Finger verbrennen. Denn Wahlen lassen sich nur im | |
Gießkannenmodus gewinnen. Eine Spätmoderne, in der Sparsamkeit und | |
eigenverantwortliche Krisenvorsorge als hinterwäldlerisch diskreditiert | |
sind, begünstigt Lebensmodelle, die finanziell „auf Kante genäht“ sind. U… | |
das gilt nicht nur für die untersten Einkommensklassen. | |
Wie hoch ist mittlerweile die als unantastbar verteidigte Ausstattung mit | |
Mobilität, Urlaub, Konsum, Wohnraum, Digitalisierung, Komfort und so | |
weiter, durch die so viel Einkommen ausgeschöpft wird, dass jeder Puffer | |
fehlt? Obendrein wurden mit den materiellen Lebensverhältnissen auch die | |
damit einhergehenden Energieverbräuche angeglichen, und zwar nach oben. | |
Deren Verteuerung trifft auf eine systematisch fragil gewordene | |
Daseinsform, die als sozialer Erfolg gefeiert wird. | |
Konsumgesellschaften haben sich in ein Labyrinth unerfüllbarer | |
Wohlstandsversprechen verrannt. Mit dem Lebensstandard wuchsen die | |
Hilflosigkeit und ein Gegenwartsbewusstsein, das den Staat verantwortlich | |
dafür macht, jedes einmal erreichte Versorgungsplateau zu konservieren – | |
inklusive aller Verteilungsunterschiede, andernfalls würden nur die absolut | |
Bedürftigen unterstützt. Wo findet sich bei Cicero, Hoppes, Locke, | |
Montesquieu oder im Grundgesetz noch gleich die Passage, in der steht, dass | |
moderne Regierungen zu einer Wohlstandsvollkasko degenerieren müssen, der | |
überdies jede langfristige materielle Basis fehlt? | |
Das heilige Tabu, wonach Wohlstand niemals sinken darf, wird absehbar | |
proaktiv „by design“ oder schicksalhaft „by desaster“ erodieren. Erster… | |
könnte als dezentraler zivilgesellschaftlicher Prozess oder durch | |
politische Steuerung gestaltet werden. Überzogene Ansprüche lassen sich | |
sozialpolitisch integer zurückbauen, wo maximalen Schäden nur minimale | |
Rechtfertigungsgehalte gegenüberstehen. Fühlen sich Hartz-IV-Bezieher | |
benachteiligt, wenn Kreuzfahrten, SUVs und anderer Prestige-Konsum | |
abgeschafft würden? | |
## Luxus ist kein Grundrecht | |
Wer erkrankte oder verhungerte jemals, wenn er/sie nach dem Abi nicht nach | |
Neuseeland flog? Dekadenten Luxus von Grundbedürfnissen zu trennen, wäre | |
zudem ökonomisch effizient. Demnach sind knappe Ressourcen dort | |
einzusetzen, wo ihr Fehlen fatal wäre: Ist die Stromversorgung von | |
Smartphones für Sechsjährige genauso hoch zu bewerten wie die einer | |
Intensivstation? | |
Was einer zukunftsbeständigen Lebensweise entgegensteht, ist kein Mangel an | |
staatlicher Fürsorge oder technischen Innovationen, sondern eine | |
Verkümmerung individueller und kollektiver Befähigungen zur | |
Selbstbegrenzung sowie teilweise autonomen Versorgung. Die resultierende | |
Konsumabhängigkeit droht inzwischen moderne Freiheitsgewinne umzukehren. | |
Eine populistische Politik des Geschenkeausteilens oder einer | |
Güterrationierung, [3][ähnlich der britischen Kriegswirtschaft, wie jüngst | |
vorgeschlagen], löst dieses Problem gerade nicht, sondern verschleppt es. | |
Um ein reduziertes Volkseinkommen makroökonomisch abzufedern, bestünden | |
zwei sich ergänzende Optionen. | |
Erstens ließe sich die wegbrechende Nachfrage vorübergehend (!) durch den | |
Einkommenseffekt öffentlicher Investitionen ausgleichen, aber nicht, um | |
bisherige Konsummuster künstlich aufrechtzuerhalten, sondern um eine | |
Postwachstumsstrategie vorzubereiten. Rückbauprogramme für Flughäfen, | |
Autobahnen, Häfen, Agrarfabriken, bestimmte Industriesektoren, ruinöse | |
Sport- und Freizeitanlagen sowie Renaturierungen, Entsiegelungen, | |
Aufforstungen, Konversionen und Umrüstungen einer noch immer vorhandenen, | |
aber verkleinerten Industrie würden übergangsweise zusätzliche | |
Arbeitsplätze schaffen, ohne den bisherigen Expansionismus fortzusetzen, | |
sondern Strukturen für eine kleinere Ökonomie zu legen. Würde zudem die | |
Wochenarbeitszeit schrittweise auf durchschnittliche 20 Stunden reduziert, | |
ließe sich nach dem Rück- und Umbau Vollbeschäftigung erzielen. | |
Zweitens wären parallel dazu dezentrale Versorgungssysteme und – vor allem | |
– individuelle Befähigungen zu stärken, damit Lebensstile weniger abhängig | |
von Konsum, Mobilität, Technologie und globalen Verflechtungen werden. | |
## Die Titanic wird grün aufgehübscht | |
Ein achtsamer Umgang mit Gütern, insbesondere Netzwerke der Reparatur, | |
Gemeinschaftsnutzung, des regionalen Nahrungsmittelanbaus sowie | |
handwerkliche Fertigungspraktiken legen eine Umkehrung aktueller Bildungs- | |
und Erziehungsmaximen nahe. Der Akademisierungswahn und die Digitalisierung | |
wären hart einzugrenzen. Beides verhindert ein ökologisch verantwortbares | |
und krisenrobustes, also sesshaftes, auf produktiver Arbeit und ergänzender | |
Selbstversorgung basierendes Dasein. | |
In jeder Kommune wären Ressourcenzentren und andere Lernorte einzurichten, | |
an denen Praktiken einer urbanen Subsistenz eingeübt werden können. Nicht | |
nur handwerkliche, sondern mehr noch landwirtschaftliche Arbeit wäre vom | |
Stigma der Minderwertigkeit zu befreien, um junge Menschen zu motivieren, | |
in diesem Sektor tätig zu sein. Dies gelänge mittels kleinbäuerlicher, | |
ökologischer und tiergerechter Erzeugung sowie kürzerer Arbeitszeiten, | |
angemessener Einkünfte und demokratischer Mitgestaltung. | |
Statt die Titanic mit einem grünen Antrieb aufzuhübschen und die | |
Cocktailpreise zu subventionieren, wäre es überfällig, wendige und sparsame | |
Rettungsboote zu bauen, also endlich auf eine Lebensstilpolitik zu setzen. | |
15 Nov 2022 | |
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Niko Paech | |
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