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# taz.de -- Forscherin über Transformation: Zwölf Ideen, um die Welt zu ände…
> Alles muss sich ändern. Nur wie? Maike Sippel, Professorin für
> Nachhaltige Ökonomie, weiß, wie Wandel gelingt. Eine Anleitung für Kopf,
> Herz und Hand.
Bild: Das Ende des fossilen Zeitalters hat begonnen
Als Wissenschaftlerin interessiert mich vor allem die Frage, wie der Wandel
in die Welt kommt. Wie können wir den Paradigmenwechsel schaffen, mit dem
wir die Klimakrise meistern und eine lebenswerte Zukunft sichern? Wie kann
der tiefgreifende Wandel gelingen, mit dem wir uns von ökonomischen
Wachstums- und [1][Konsumzwängen verabschieden] und zu einer
sozialgerechten Entwicklung aufbrechen, die die ökologischen
Belastungsgrenzen der Erde respektiert?
Es ist offensichtlich, dass diese sozial-ökologische Transformation
veränderte Strukturen braucht. Aber sie braucht auch Menschen wie Sie und
mich. Menschen, die nicht mehr länger darauf warten, dass sich irgendwann
einmal das System verändert, sondern die jetzt anpacken und ihren Teil dazu
beitragen, dass diese Systemänderung wahrscheinlicher wird.
Als Hochschullehrerin beschäftigt mich die Frage, wie ich meine
Studierenden gut auf eine Rolle als Gestalter:innen des Wandels
vorbereiten kann. Was kann das Rüstzeug für diese Aufgabe sein? Anfangs
habe ich noch rein auf die Vermittlung von Faktenwissen gesetzt: Was sind
[2][die katastrophalen Folgen von drei Grad Erderhitzung], wie sieht der
erneuerbare Energiemix der Zukunft aus, warum müssen wir [3][für die
Energiewende unseren Lebensstil ändern]? Doch mittlerweile bin ich zu dem
Schluss gekommen: Ebenso wichtig wie Faktenwissen ist das „Mindset“, also
unsere Denkweise und Haltung. Transformationskompetenzen umfassen Kopf,
Herz und Hand.
Als Nachhaltigkeitsprofessorin würde ich mich normalerweise ans Forschen
und Lehren rund um diese Transformationskompetenzen halten. Aber seit
September 2019, als weltweit Millionen Menschen für Klimaschutz
demonstrierten und zeitgleich die damalige Bundesregierung ihr völlig
unzureichendes Klimaschutzpaket vorlegte, ist für mich die Normalität
vorbei. Wir stehen an einem Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: Die
Wissenschaftler:innen [4][des Weltklimarats IPCC] sagen uns klar, dass
unser Handeln oder Nichthandeln in den 2020er Jahren über die
Lebensbedingungen auf der Erde für die nächsten tausend Jahre entscheiden
wird. Werde ich da mit einem Weitermachen in meiner gewohnten Rolle meiner
Verantwortung gerecht? Müsste ich nicht versuchen, meine Fähigkeiten und
Erkenntnisse über den Hörsaal hinaus weiterzugeben – auch wenn ich damit
aus dem herausfalle, was von mir als Wissenschaftlerin erwartet wird?
Deshalb teile ich im Folgenden zwölf Gedanken, die helfen können, den
notwendigen Wandel zu gestalten und in diesen Zeiten stimmig zu leben.
Diese zwölf Gedanken sind keine Weltformel, sondern Bausteine einer
Transformationsakademie. Ich hoffe, Sie können etwas daraus mitnehmen für
Ihr Denken und Handeln 2023.
## 1. Sehen Sie sich als Teil dieser Welt
Wir sind als Menschen ein Teil der Welt, ein Mosaikstein innerhalb des
Lebens, das sich bis heute auf der Erde entfaltet hat. Und wir sind aufs
Engste mit diesem Leben um uns herum verbunden, ja wir sind von ihm
abhängig. Der [5][Vordenker Jeremy Rifkin] sieht ein „biophiles
Bewusstsein“, also ein Denken, das von der Liebe zum Lebendigen geprägt
ist, als Voraussetzung dafür, dass die Menschheit überlebt.
Zur Eingebundenheit in die Welt gehört auch die zeitliche Dimension: Wir
sind ein Teil einer Kette der Generationen, eine Art Bindeglied zwischen
den vielen Generationen vor uns und den Generationen nach uns. Der folgende
Gedanke, der ursprünglich [6][einer Philosophie der Irokesen entstammt] und
von vielen indigenen Völkern weltweit geteilt wird, drückt die
Verantwortung aus, die sich daraus ergibt: Was für Auswirkungen haben
unsere heutigen Aktivitäten auf unsere Nachfahren in der siebten
Generation?
## 2. Seien Sie dankbar
Haben Sie sich schon mal durch den Kopf gehen lassen, was es eigentlich für
ein Wunder ist, dass die Dinge in der Erd- und Menschheitsgeschichte gerade
so gelaufen sind, dass es Sie gibt? Wie wäre es, dies sacken zu lassen und
inmitten der ganzen Alltagsbaustellen Platz zu schaffen, um für das Wunder
des Lebens dankbar zu sein. Mich immunisiert dieses Bewusstsein gegen den
Überkonsum in unserer Gesellschaft: Wir brauchen gar nichts Neues zu
kaufen, zu besitzen oder zu tun, um einfach wunderbar zu sein.
Im Hinblick auf die Aufgaben, die vor uns liegen, kann eine Besinnung
darauf, wofür wir dankbar sind und was wir eigentlich lieben in der Welt,
eine Art Sprungfeder für unser Engagement bilden. Es führt uns vor Augen,
warum es sich lohnt, jetzt aktiv zu werden.
Aus [7][zahlreichen Studien in der Psychologie] wissen wir, dass die
Kultivierung von Dankbarkeit uns zufriedener machen kann. Eine Möglichkeit,
das umzusetzen, ist das Führen eines „Dankbarkeitstagebuchs“. Darin
notieren Sie, zum Beispiel täglich vor dem Schlafengehen oder auch in einem
wöchentlichen Rhythmus, drei Dinge, für die Sie dankbar sind.
Über das Individuum hinaus hat das Empfinden und Äußern von Dankbarkeit
auch einen Effekt, der vielleicht eine große Rolle in der Entwicklung
menschlicher Gesellschaften gespielt hat: Es stärkt unsere Verbundenheit
und Großzügigkeit untereinander. Warum nicht all das nutzen als Kraftquelle
für unser Handeln angesichts der Klimakrise?
## 3. Lassen Sie Schmerz und Trauer zu
Achtung! Wenn wir uns bewusster sind, was in dieser Welt so „wunderbar“
ist, dann sind wir auch empfindsamer für das, was auf dem Spiel steht und
was gerade in der Welt zerstört wird. Täglich erfahren wir in den
Nachrichten von Menschen, deren Häuser überflutet wurden oder deren Ernte
verdorrt ist, und [8][von brennenden Wäldern, aus denen die Tiere fliehen].
Was macht das mit uns? Und auch die anstehenden Veränderungen in unserem
Leben können einem als Zumutung erscheinen: Sprechen wir eigentlich
darüber, wie wir den emotional schweren Abschied vom fossilen Zeitalter
schaffen? Und wie wir mit der Unsicherheit umgehen, wohin die Reise gehen
wird?
Solche „Klimagefühle“ sind weit verbreitet: [9][Laut der Psychotherapeutin
Katharina van Bronswijk] berichten in Befragungen zwei Drittel bis neunzig
Prozent der Befragten von „Klimaangst“. Der norwegische
[10][Umweltpsychologe Per Espen Stoknes] wirbt unter der Überschrift „Stand
up for your depression“ dafür, sich wie er zu seinen Klimagefühlen zu
bekennen. Es tut mir gut zu wissen, dass ich mit diesen Gefühlen nicht
allein bin. Nach meiner Erfahrung der letzten drei Jahre eröffnet diese
Gefühlskrise auch die Chance auf ein bewussteres Leben mit vielen
intensiven Glücksmomenten.
Die [11][Psycholog:innen der Psychologists for Future] empfehlen zur
Bewältigung von Klimagefühlen, sich mit Freunden dazu auszutauschen und
sich für den Klimaschutz zu engagieren. Könnte eine Kraft darin stecken,
diesen Gefühlen mehr Raum zu geben? Könnte die Klimaangst, wenn wir sie
zulassen, auch eine gesellschaftliche Alarmleuchte sein, dass wir jetzt die
Krise lösen müssen?
## 4. Machen Sie Ihre Werte zur Grundlage Ihres Handelns
Ihre größte und wichtigste Entscheidung ist, wofür Sie Ihre Lebenszeit
einsetzen. Sie können sich fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was will
ich einmal getan haben, für was will ich gestanden haben, wenn ich mein
Leben Revue passieren lasse? Und was heißt das für mein Handeln? Nehmen Sie
sich einen Moment Zeit, um aus der Zukunft zu denken. Stellen Sie sich vor,
Sie haben in vielen Jahren Ihre Urenkelin auf dem Schoß oder die Urenkelin
eines lieben Freundes. Sie fragt, was Sie eigentlich getan haben, in den
entscheidenden 2020er Jahren. Was wollen Sie antworten?
Interessanterweise ist es ein menschliches Bedürfnis, unsere Werte und
unser Handeln in Einklang zu bringen. Klaffen die Einstellungen und das
Handeln auseinander, [12][sprechen Psycholog:innen von „kognitiver
Dissonanz“] – ein Zustand, den wir zu vermeiden versuchen. Dazu können wir
an zwei Stellschrauben drehen: Wir können entweder unser Verhalten ändern
oder unsere Einstellungen.
Im Alltag kommt es häufig vor, dass wir fragwürdige Haltungen einnehmen und
beispielsweise Klimafakten ausblenden, um liebgewonnenes Verhalten
beibehalten zu können. Unsere Handlungsroutinen, unser gewohnter Alltag und
unsere Prioritäten haben eine Beharrungskraft. So schaffen es selbst viele
überzeugte Umweltschützerinnen und Tierliebhaber, beim Stück Fleisch im
Restaurant nicht an dessen wahrscheinliche Herkunft [13][aus
klimaschädlicher Massentierhaltung] zu denken, bei der Flugreise die
Umweltwirkungen auszublenden oder auf Grund der vielen persönlichen
Verpflichtungen einfach keine Zeit für den nächsten Klimastreik zu finden.
Allerdings wird immer deutlicher, dass diese tradierten Verhaltensweisen
nicht zu einem klimafreundlichen Leben passen, das [14][nach einer
aktuellen Studie] ein großer Teil der Deutschen quer durch alle
Bevölkerungssegmente für erstrebenswert hält. Und damit fällt es immer
schwerer, die Augen zu verschließen. Es bleibt immer häufiger ein fahler
Rest von schlechtem Gewissen.
Ich ziehe Kraft daraus, nicht mehr wegzuschauen und meine Prioritäten und
Handlungen konsequenter an meinen Werten auszurichten. Das klappt im Alltag
natürlich nicht immer und ich komme an Grenzen. Aber genau dieses Hadern
erleichtert es, sich mit anderen darüber auszutauschen. Überhaupt lässt
sich über diesen Abbau kognitiver Dissonanz gut reden. Eine befreundete
Professorin, die seit einigen Jahren nicht mehr fliegt, berichtet, wie gut
sich erzählen lässt, wie diese klare Haltung ein großer persönlicher Gewinn
für sie ist.
## 5. Machen Sie sich ein Bild von der Zukunft
Anstatt nun in einen reinen Abwehrkampf gegen den die drohende
Klimakatastrophe zu gehen, lasst uns einen hoffnungsfrohen Blick in die
Zukunft wagen und mutig überlegen, wo wir eigentlich hinwollen. Was ist die
[15][schönste Vorstellung von der Zukunft], die ich mir machen kann?
Wenn ich zum Beispiel in meinen Gedanken losreise und mir mein eigenes
Stadtviertel in zwanzig Jahren anschaue, dann, wenn wir die Transformation
geschafft haben, was sehe ich? Viel mehr Grün und Menschen im Straßenraum
und viel weniger Autos. Menschen, die sich begegnen und die sich zum
Quatschen auf eine gemütliche schattige Bank unter einen Baum setzen. Neben
Vogelgezwitscher, dem gelegentlichen Klingeln einer Fahrradglocke und dem
Surren des Elektrobusses sind die Freunde hörbar, die sich ein Stück weiter
zum Boulespielen getroffen haben.
Indem wir unsere „Welt neu denken“, wie [16][die Transformationsforscherin
Maja Göpel] es nennt, setzen wir der Alternativlosigkeit des Krisen- und
Gewohnheitsmodus ein Ende. Dabei geht es nicht um ein naives Hoffen darauf,
dass wir wie durch Zauberhand in diese neu gedachte Zukunft gelangen.
Sondern um ein [17][„Hoffen durch Handeln“]: Mit einem Bild von
wünschenswerter Zukunft vor Augen selber Hand anzulegen und unser Mögliches
dazu beizutragen, dass diese Zukunft wahrscheinlicher wird.
## 6. Erinnern Sie sich, dass Wandel möglich ist
Laut einer im Oktober 2022 [18][vom britischen Think Tank Climate Outreach
veröffentlichten Studie] sehen junge Erwachsene in Europa die Klimakrise
nicht nur als ernste Bedrohung für die Zukunft, sondern sie wollen auch
Teil der Lösung sein. Fast zehn Prozent der Befragten gaben sogar an, dass
sie bereit wären, dafür Gesetze zu übertreten. Allerdings zeigt dieselbe
Studie auch, dass die Befragten kein Bild davon haben, wie der
erforderliche systemische Wandel aussehen soll und welche Rolle sie darin
spielen könnten. Wie kann so eine tiefgreifende technologische und
gesellschaftliche Veränderung gelingen?
Hilfreich und stimmig scheint mir das Bild vom Wandel, das die
Expert:innen des Wissenschaftlichen Beirats für globale
Umweltveränderungen (WBGU) skizzieren. Da gibt es Pioniere des Wandels –
Menschen, Organisationen, Unternehmen – die einfach loslaufen und sich
innerhalb falscher Strukturen „richtig“ verhalten. Diese Pioniere machen
Lust auf Zukunft, sie zeigen, was möglich ist an klimafreundlichen
Lebensstilen und Produktionsweisen, sie entwickeln neue Technologien und
wenden sie an, und sie sind damit wahrnehmbare Vorbilder für andere.
Damit diese Innovationen nicht in einer Nische bleiben, sondern sich
ausbreiten und zur neuen Normalität werden, braucht es als zweite wichtige
Zutat zum Wandel Unterstützung in Form geeigneter Rahmenbedingungen. Eine
[19][transformative Klimapolitik] gibt klar die Richtung vor für den
raschen Aufbau einer Infrastruktur erneuerbarer Energien, macht Klimaschutz
für alle einfacher und fordert ihn, insbesondere auch von Unternehmen,
umfassend und verbindlich ein. Dabei dürfte die Akzeptanz entscheidend
davon abhängen, dass der große Wunsch sehr vieler Deutscher nach einer für
den Einzelnen bezahlbaren und sozialgerechten Klimapolitik umgesetzt wird.
Für politische Entscheidungen der erforderlichen Tragweite haben
[20][soziale Bewegungen im Lauf der Geschichte eine wichtige Rolle
gespielt]. Das zeigt ein Blick auf uns bekannte Beispiele, wie die
Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei, zur Erkämpfung von sozialen
Standards für Arbeiter:innen oder zur Einführung des Frauenwahlrechts.
Dabei reicht es, wenn schon ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung aktiv
wird: Erica Chenoweth, Politikwissenschaftler:in aus den USA,
forscht zu gewaltfreiem Widerstand und hat Protestbewegungen gegen Regime
aus den letzten 100 Jahren untersucht. Chenoweths Forschungsergebnisse sind
ermutigend und haben unter anderem Extinction Rebellion [21][und die Letzte
Generation inspiriert]: Schon der aktive und gewaltfreie Protest von nur
drei bis vier von hundert Personen in der Bevölkerung hat verlässlich zu
Regimewechseln geführt.
Der anstehende Wandel wird noch anspruchsvoller, weil wir die Klimakrise
nicht auf der nationalen Ebene lösen können. Treibhausgase kennen keine
Grenzen. Entwicklungsländer, die kaum zur Klimakrise beigetragen haben,
müssen bei der Bewältigung der Klimaschäden unterstützt werden. Es braucht
alle großen Länder beim Klimaschutz, [22][der WBGU spricht von einer
„Globalen Kooperationsrevolution“]. Ein wichtiger Teil dessen, was wir in
Deutschland tun können, besteht darin, zu dieser globalen Aufgabe
beizutragen.
Dazu sollten wir erstens dafür sorgen, dass Deutschland auf einen
klimaverträglichen Pfad kommt. Damit können wir den Beweis antreten, dass
die sozialökologische Transformation in einer wohlhabenden,
industrialisierten und bisher sehr ressourcenintensiven Volkswirtschaft
möglich ist. In Allianz mit anderen Pionierländern können wir dann eine
mitreißende globale Dynamik entfachen. Zweitens sollten wir die
internationale Zusammenarbeit zur Zukunftssicherung anschieben. Dazu
gehören [23][Energiepartnerschaften mit sonnenreichen Ländern] ebenso wie
ein deutlich höherer Mitteleinsatz, um ärmere Länder beim Klimaschutz und
bei der Anpassung an die Klimakrise zu unterstützen.
Mir ist bewusst, dass ein Wandel nach diesem Bild kein Selbstläufer ist.
Die Herausforderung ist in der Tat historisch einmalig und es gibt keine
Erfolgsgarantie. Aber die Dinge sind in Bewegung. Die Anzahl der Projekte,
Initiativen und Politiken weltweit wächst. Die Dynamik dieser Entwicklung
wird weiter zunehmen und im positiven Sinne zu einem Kippen führen. Das ist
dann endlich ein Kipppunkt zum Jubeln!
## 7. Auch der Handabdruck zählt
Das gerade beschriebene Bild vom Wandel zeigt, warum es jetzt unser Handeln
braucht. Es zeigt auch die zwei unterschiedlichen Bereiche, in denen wir
Einfluss haben: die Ebene des „Fußabdrucks“ und [24][die des
„Handabdrucks“].
Beim [25][Fußabdruck geht es um den durch den eigenen Lebensstil
verursachten Ausstoß an Klimagasen]. Als ersten Schritt im Rahmen unseres
Projekts „Climate Challenge“ an der Hochschule Konstanz laden wir
Studierende seit mittlerweile acht Jahren dazu ein, sich mit ihrem
Fußabdruck zu befassen. Erst wird gerechnet und der eigene Fußabdruck
analysiert – oft mit der Erkenntnis, dass der eigene Lebensstil nicht
klimafreundlich ist. Die Analyse zeigt auch, wo die großen Stellschrauben
im eigenen Verhalten sind, die sogenannten „Big Points“, die einen
Unterschied für die persönliche Klimabilanz machen.
Dann wird ein vierwöchiges Veränderungsexperiment aufgesetzt. Nach eigener
Wahl und mit einem Fokus auf „Big Points“ werden dabei neue
klimafreundliche Alternativen ausprobiert und deren Wirkung untersucht, zum
Beispiel der Einstieg ins vegetarische oder rein pflanzliche Essen, die
temporäre Abschaffung des eigenen Autos, die Organisation der Anreise ins
Auslandssemester mit der Bahn. Es hat sich gezeigt, dass vier Wochen ein
guter Versuchszeitraum sind: kurz genug, dass auch das Ausprobieren einer
einschneidenden Veränderung zu schaffen scheint – und lang genug, dass sich
neue Routinen entwickeln können. Da hat sich einer dann an den anderen
Geschmack von Hafermilch gewöhnt, eine andere hat eine Sammlung
alltagstauglicher klimafreundlicher Rezepte angelegt und wieder andere
haben angefangen, ihre Fahrten im eigenen Auto für Mitfahrer anzubieten.
Die Ergebnisse dieser „Footprint Challenge“ sind ermutigend: [26][Unsere
wissenschaftlichen Auswertungen] zeigen nicht nur, dass für viele
Studierende Handlungsspielräume bestehen, sondern auch, dass sich die
meisten als erfolgreich beim Handeln erleben.
Die vier Wochen werden eher als Steigerung der Lebensqualität wahrgenommen
denn als unzumutbarer Verzicht, und stolz werden Geschichten geteilt, zum
Beispiel über den kleinen Bruder, der auch angefangen hat, sich vegetarisch
zu ernähren.
Gleichzeitig werden die Teilnehmenden sich während der vier Wochen bewusst,
dass unser Verhalten von äußeren Spielregeln beeinflusst wird. Gibt es
überhaupt ein [27][leckeres pflanzenbasiertes Angebot in der Mensa] oder
auf der Grillparty bei Freunden? Oder eine ordentliche Busverbindung ins
Heimatdorf? Wie viel kostet mich die Nachtzugreise nach Barcelona – im
Vergleich zum Billigflug, [28][der vom steuerbefreiten Kerosin profitiert]?
Wie würde es ankommen, wenn ich beim Weihnachtsessen Omas Braten nicht
essen will? Vielfach sind Preise zu hoch, klimafreundliche Alternativen zu
unpraktisch oder es fehlt an sozialer Akzeptanz – alles Rahmenbedingungen,
die Klimaschutzhandeln erschweren.
Diese Erkenntnis greifen wir dann für den zweiten Schritt auf: In der
„Handprint Challenge“ geht es darum, Verbündete zu suchen und sich eine
Veränderung der Rahmenbedingungen zu überlegen, zu der man selber beitragen
kann. Das kann bedeuten, mit der Leitung des Studierendenwerks über einen
fleischfreien Tag in der Mensa zu sprechen, sich bei der Bürgermeisterin im
Heimatort für ein besseres Radwegenetz einzusetzen oder sich in bestehenden
Initiativen wie Foodsharing oder Fridays for Future zu engagieren.
Die Handprint Challenge ist eine Einladung, sich selbst nicht nur als
Konsument:in, sondern als engagierte:n Bürger:in zu sehen. Das ist
anfangs oft sperrig – aber auch die Grundlage dafür, dass
zivilgesellschaftliche Initiativen und Bewegungen entstehen können. Und die
brauchen wir unbedingt: Wenn wir uns die enormen wirtschaftlichen
Interessen anschauen, die [29][von einer Weiternutzung fossiler
Energieträger profitieren], dann wird deutlich, wie stark eine Bewegung
sein muss, die dafür sorgt, dass Kohle, Öl und Gas im Boden bleiben.
Der Schlüssel liegt darin, doppelstrategisch im Fußabdruck und im
Handabdruck voranzugehen. Also zum einen den [30][eigenen Lebensstil
klimafreundlicher gestalten] – mit Mut zur Lücke und ohne sich auf
Nebenschauplätzen wie der Diskussion um die Herkunft des Mineralwassers
oder die eingeschweißte Biogurke zu verlieren. Und zum anderen mit dem
Handabdruck einen individuellen Beitrag für klimafreundlichere Strukturen
zu leisten. Dabei ergänzen sich die beiden Ebenen: Fußabdruckhandeln baut
kognitive Dissonanz ab und erhöht die Glaubwürdigkeit, Handabdruckhandeln
entlastet davon, innerhalb eines falschen Systems alles richtig machen zu
müssen.
## 8. Benutzen Sie Werkzeug für Transformationsprozesse
In unserer Zeit des Wandels sind wir mit einer wachsenden Zahl an
Transformationsprozessen konfrontiert, in die häufig unterschiedliche
Gruppen eingebunden sind. Deswegen besteht ein großer Bedarf an offiziellen
oder informellen Prozessbegleiter:innen und Moderator:innen:
Menschen, die Freude an der Begleitung von Gruppen und Prozessen haben und
die einen Werkzeugkasten an Wissen und Methoden aufbauen, mit denen sie
[31][Veränderungsprozesse unterstützen können]. Aus der Analyse gelungener
Transformationsprojekte kennen wir nämlich wiederkehrende Erfolgsfaktoren –
und diese können in Veränderungsprozessen gezielt gefördert werden.
Wertvolle Ansätze hierzu sind „Art of Hosting“ oder [32][„Collective
Leadership“], die man beide in Trainings erlernen kann. Eine
Erfolgsgarantie für das Gelingen gemeinsamer Initiativen gibt es auch mit
kompetenter Prozessbegleitung nicht. Prozesse haben ihr Eigenleben. Aber es
gibt erprobtes Handwerkszeug, das uns helfen kann.
## 9. Versorgen Sie sich mit guten Nachrichten
Wie leicht verliert man sich im Wirrwarr der Katastrophenmeldungen, die uns
in jeden Tag zugespielt werden. Weil sie Klicks, Leserzahlen und damit
Anzeigenkunden bringen, sind schlechte Neuigkeiten überrepräsentiert.
Neurowissenschaftler:innen wie Maren Urner weisen darauf hin, dass
das unser Gehirn in Dauerstress versetzt und überfordert. Keine gute
Ausgangsbasis, um mutig Veränderungen anzupacken. Deshalb wurde [33][der
konstruktive Journalismus entwickelt]. Dabei geht es nicht darum, die Welt
durch eine rosa Brille zu sehen, sondern lösungsorientiert und mit Fokus
auf kritischem Denken. Hört sich das nicht verlockend an?
## 10. Sprechen Sie darüber
Früher habe ich im Alltag wenig über Klimaschutz gesprochen, weil ich
Konflikte vermeiden und nicht missionieren wollte. Das mache ich anders,
seit ich [34][aus wissenschaftlichen Studien] weiß, wie sehr wir alle unser
Denken und Handeln an den Menschen in unserem Umfeld orientieren. Wenn dem
so ist, denke ich mir, dann will ich, dass mein Denken und Handeln für die
Menschen um mich herum auch deutlich erkennbar ist. Und dann muss ich
darüber sprechen. Meistens zumindest – wenn ich nicht gerade zu gemütlich
bin oder einfach nur einen ruhigen Kneipenabend mit meinen
Volleyballkolleg:innen verbringen möchte.
Wie können solche Klimagespräche im Alltag gelingen?
Klimakommunikationsexpert:innen empfehlen, weder moralisch
daherzukommen noch faktisch überzeugen zu wollen: „Studien zeigen, dass es
nichts bringt, Menschen Studien zu zeigen“, heißt es. Vielversprechender
ist es, [35][sich über Handlungsversuche und Erfahrungen auszutauschen],
auch wo es holprig ist. In mehreren Kursen haben wir dazu studentische
Projekte durchgeführt. Zum Beispiel haben wir in Workshops aktives Zuhören
und das Teilen der eigenen Geschichte geübt. Gerade haben wir erfolgreich
ausprobiert, wie es eine Gesprächssituation positiv verändert, wenn wir uns
ganz bewusst auf die individuellen Werte und Sorgen des Gesprächspartners
zum Klimaschutz einlassen und ein Gespräch darauf aufbauen.
## 11. Sehen Sie das Ganze als Abenteuer
Diese Transformation ist keine reine Vergnügungsreise – wobei Spaß haben
natürlich erlaubt ist. Für einen selbst ist es zunächst eine
Herausforderung, Gewohnheiten zu verändern und Prioritäten für das eigene
Handeln zu verschieben. Wie schaffe ich es, relevante Teile meiner Zeit für
Engagement zu investieren? Natürlich ist das nicht nur für mich
anstrengend, sondern wohl für alle Menschen in der Gesellschaft. Wie
anspruchsvoll muss es auch [36][für einen Energieversorger] oder einen
Automobilkonzern sein, das Geschäftsmodell neu zu erfinden, oder für eine
Politikerin, die mutig neue Allianzen eingeht und dabei um ihre Wiederwahl
bangt.
Es ist also durchaus mit Widerständen zu rechnen – wie in einem richtigen
Abenteuer. Als kleine Held:innen brauchen wir deshalb unseren ganzen Mut.
Wir stoßen an Grenzen, aber wir lassen nicht locker und wachsen an unseren
Aufgaben. Von Hürden lassen wir uns nicht abschrecken, sondern sehen sie
als Gelegenheit zu lernen und als Herausforderung auf unserem Weg, an der
wir wachsen. Wir feiern unsere Zwischenerfolge. Wir [37][suchen und finden
Verbündete], die zu engen Freund:innen werden. Wir merken, dass uns nicht
nur Sympathie entgegenschlägt und dass wir nicht hundertprozentig sicher
sein können, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Werden wir überhaupt ans
Ziel gelangen? Wir wissen es nicht und machen trotzdem weiter. Aber damit
sind wir in guter Gesellschaft. Den meisten Menschen, die die Welt
verändert haben, ist es genau so ergangen.
## 12. Passen Sie auf sich auf
Ja, es braucht uns für den Wandel. Es braucht, dass wir uns auf die
krisenhafte Situation einlassen, dass wir Lösungen ersinnen, es braucht
unseren Mut und unsere Kraft und unsere Freude an der Umsetzung von
Veränderung. Dabei geht es tatsächlich um nicht weniger als eine
lebenswerte Zukunft für die Menschheit auf diesem Planeten.
Angesichts dieser Aufgabe fällt es mir persönlich manchmal schwer,
[38][loszulassen und auf meine Balance zu achten]. Dabei ist
offensichtlich, dass wir für diese Aufgabe einen langen Atem brauchen.
Keinem ist geholfen, wenn das innere Feuer zum Burn-out führt, wie das bei
Aktivist:innen gar nicht so selten ist.
Deshalb lade ich Sie ein, für sich zu sorgen. Wir können unsere
Widerstandsfähigkeit stärken, indem wir darauf achten, wie es uns geht und
was Alarmzeichen für Überlastung sind, wie viele Bälle wir wirklich in der
Luft halten können und wollen und welche Bälle wir vielleicht erleichtert
ablegen können. Indem wir für uns sorgen, unsere Beziehungen ganz bewusst
pflegen und eine Art „tieferen Sinn“ unseres Lebens finden und kultivieren.
Und bietet es sich nicht an, dass dieser tiefere Sinn darin besteht, an
einer besseren Welt mitzuwirken?
1 Jan 2023
## LINKS
[1] /Volkswirt-ueber-Postkonsumgesellschaft/!5849335
[2] /Klima-Reparationszahlungen-auf-der-COP/!5894300
[3] /Energiewende-und-Klimarettung/!5890174
[4] /Klimaschutz-im-IPCC-Bericht/!5856028
[5] /Digitale-Klassengesellschaft/!5790029
[6] https://www.iisd.org/publications/our-responsibility-seventh-generation
[7] https://www.apa.org/pubs/books/4316187
[8] /Waldbraende-in-den-USA-und-Europa/!5869773
[9] /Psychologin-zur-Klimakrise/!5879885
[10] https://www.researchgate.net/publication/280683963_What_We_Think_About_Whe…
[11] /Psychologists-for-Future/!5902231
[12] /Psychotherapeutin-ueber-Klimakrise/!5843214
[13] /Mehr-Umweltschutz-in-der-Landwirtschaft/!5883349
[14] https://climateoutreach.org/uebers-klima-reden/zusammenfassung/
[15] https://realutopien.info/
[16] /Politoekonomin-Maja-Goepel-ueber-Ideologie/!5722049
[17] https://www.activehope.info/the-book
[18] https://climateoutreach.org/reports/climate-justice-young-adults-europe/
[19] /Energiepolitik-der-Ampel/!5900413
[20] /Philosophin-Rahel-Jaeggi-ueber-Krisen/!5828917
[21] /Wer-ist-die-Letzte-Generation/!5898641
[22] https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellscha…
[23] /Debatte-Energiedialog-mit-Brasilien/!5220355
[24] /Oekologischer-Handabdruck/!5892928
[25] /Oekologischer-Fussabdruck-und-Klimakrise/!5892875
[26] https://www.springerprofessional.de/en/mit-climatechallenge-zu-mehr-csr-ei…
[27] /Bio-Essen-an-Bremer-Hochschulen/!5666574
[28] /Klimaexperte-ueber-Billigfluege/!5619391
[29] /Gefluechtete-und-Klimaschutz/!5806297
[30] /Klimawandel-im-Alltag/!5619775
[31] /Fridays-for-Future-an-der-Uni/!5733845
[32] https://petrakuenkel.com/article/collective-leadership/
[33] /Konstruktiver-Journalismus/!5492962
[34] https://www.cambridge.org/core/journals/behavioural-public-policy/article/…
[35] /Konsum-und-Klima/!5743433
[36] /Treibhausgas-Emissionen/!5904231
[37] /Neue-Verbuendete-fuer-Fridays-for-Future/!5578232
[38] https://blogs.taz.de/feminismus/widerstaendig-bleiben-teil-1-self-care-und…
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Maike Sippel
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