# taz.de -- Volkswirt über Postkonsumgesellschaft: „Überfluss nimmt Freihei… | |
> Coronapandemie und Ukrainekrieg haben unser Einkaufsverhalten | |
> durcheinandergebracht. Ein Gespräch über zu viel Konsum und Alternativen. | |
Bild: Instandsetzen statt kaufen: Reparatur einer Kaffeemühle in einem Repairc… | |
taz am wochenende: Herr von Jorck, als zu Beginn der Pandemie viele | |
Geschäfte schließen mussten, keimte eine gesellschaftliche Debatte darüber | |
auf, welche Art von Konsum notwendig ist. Davon ist aktuell nichts mehr zu | |
sehen, Konsum scheint wichtiger als zuvor – was ist da passiert? | |
Gerrit von Jorck: Im ersten Lockdown mussten wir Konsum neu erfinden. Viele | |
der klassischen Sachen, die man macht, wenn man Zeit hat – in den Urlaub | |
fahren, auf Shoppingtour gehen, ins Restaurant oder ins Kino – das ging auf | |
einmal nicht mehr. Gleichzeitig zeigen unsere Befragungen: Die Menschen | |
haben auf einmal viel mehr geschlafen. Mehr Schlaf war vor der Pandemie | |
eine der Sachen, die sich die Befragten am meisten wünschten. Wir sind eine | |
übermüdete Gesellschaft. | |
Wer also nicht durch Homeschooling oder Extraschichten im Krankenhaus | |
belastet war, konnte bedürfnisorientierter leben? | |
Ein Stück weit, ja. | |
Warum ist heute praktisch nichts mehr von dieser Bedürfnisorientierung zu | |
sehen? | |
Einen bedürfnisorientierten Umgang mit unserer freien Zeit müssen wir | |
lernen. Und das geht nicht von heute auf morgen. Es gibt Menschen, die zu | |
Pandemiebeginn ihre neue freie Zeit ausschließlich in Onlineshops verbracht | |
haben. Und das ist gar nicht überraschend: Wenn jemand seit dreißig Jahren | |
den allergrößten Teil der eigenen Zeit mit sehr fordernder Erwerbsarbeit | |
verbringt und keine Zeit für Hobbys hat, dann ist Shopping manchmal das | |
einzige, was freie Zeit füllen kann. Dazu kommt: Es war das erste Mal, dass | |
zumindest meine Generation Mangel verspürt hat. Wir konnten nicht mehr in | |
jeder Situation das konsumieren, was wir wollten. Und eine – wenn auch nur | |
gefühlte – Mangelwirtschaft hat quasi einen überkompensierenden Effekt: | |
Kann ein Konsumbedürfnis nicht gestillt werden, dann tendieren Menschen | |
dazu, an anderer Stelle mehr zu kaufen, als sie eigentlich brauchen. | |
Und das haben wir zu Beginn der Pandemie oder [1][des Ukrainekriegs] | |
gesehen? | |
Ja, wobei wir nicht in einer Mangelwirtschaft leben, selbst wenn es bei | |
mehreren Produkten [2][Engpässe] gibt. Aber: In einer Überflussgesellschaft | |
gibt es ebenso Hortungstendenzen. Denn da treffen – gesamtgesellschaftlich | |
betrachtet – ein Überfluss an Geld und permanent verfügbare günstige Ware | |
aufeinander. Die Überflussgesellschaft ist gleichzeitig eine sehr | |
erwerbsarbeitsorientierte Gesellschaft. In dieser fehlt uns häufig die | |
Zeit, richtig zu konsumieren. Also: Das, was wir erworben haben, auch zu | |
nutzen. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich kaufe zum Beispiel eine Gitarre. Oder eine Playstation. Oder einen | |
Brotbackautomaten. Aber ich nutze das alles fast nie, weil mir die Zeit | |
dafür fehlt. Das wäre aber wichtig. Denn damit eine Sache Nutzen stiften | |
kann, muss ich Zeit mit ihr verbringen. Wenn mir diese Zeit fehlt, | |
kompensiere ich das durch weitere Kaufhandlungen. | |
Wie kommen wir raus aus diesem Kreislauf und hin zu so etwas wie einer | |
Postkonsumgesellschaft? | |
Zunächst einmal müssen wir die Zeit, die wir mit Erwerbsarbeit verbringen | |
oder verbringen müssen, reduzieren. Und wir müssen die Arbeit entdichten, | |
also den Stress und den Druck reduzieren. Dadurch wird Arbeit | |
befriedigender und weniger erschöpfend und die Menschen haben Kapazitäten, | |
ihre Freizeit jenseits des materiellen Konsums zu gestalten, ihre | |
Interessen und Kompetenzen wahrzunehmen. Ein Beispiel: Viele Menschen | |
verhalten sich nicht so umweltbewusst, wie sie es gerne würden. Studien | |
zeigen aber: Das verbessert sich, wenn die Menschen mehr Zeit zur Verfügung | |
haben. | |
Warum ist das so? | |
Wenn ich unter Zeitnot in den Supermarkt gehe, dann kaufe ich in der Regel, | |
was ich immer kaufe. Um diese Routinen zu durchbrechen und [3][neue | |
umweltbewusste Routinen zu entwickeln], braucht es Zeit. Und wir brauchen | |
Infrastrukturen, die den Nichtkonsum fördern. | |
Bänke statt Caféstühle? | |
Genau. Aber auch Repaircafés oder öffentliche Einrichtungen, in denen man | |
sich einfach mit anderen Menschen treffen kann. Es braucht also eine | |
Entkommerzialisierung des öffentlichen Raumes. Wir müssen von einer | |
Gesellschaft des Überflusses zu einer Gesellschaft des Genugs kommen. | |
Was ist denn genug? | |
Das kommt auf die Ebene an: Individuell kann es helfen, sich zu fragen: | |
Welches Bedürfnis möchte ich mit diesem Konsum gerade befriedigen? Es gibt | |
Statuskonsum, der dazu dient, sich von anderen sozialen Gruppen | |
abzugrenzen. Je größer die materielle Ungleichheit in der Gesellschaft, | |
desto mehr Statuskonsum gibt es. Aus einer Postkonsumperspektive machen | |
daher Mindest- und Maximaleinkommen viel Sinn. Ebenso wie Vermögens- und | |
Erbschaftssteuern. Dann gibt es den Konsum zur Kompensation. | |
Also etwa Stress oder Ärger durch Einkaufen ausgleichen. | |
Genau. Und dann gibt es noch Investitionen, die eigentlich | |
Absicherungskonsum sind: Wenn ich etwa versuche, mich über ein Eigenheim | |
sozial abzusichern. Ein Mietendeckel würde das Bedürfnis – Wohnen – mit | |
deutlich weniger Ressourcen befriedigen. Immer mehr in den Fokus gerückt | |
ist in den vergangenen Jahren der durch Erwerbsarbeit induzierte Konsum. | |
Also: Das Auto, das ich brauche, um zur Arbeit zu fahren. Kleidung oder | |
Kosmetik, die im Arbeitskontext erwartet wird. | |
Und was ist nun genug? | |
Sich diese unterschiedlichen Funktionen von Konsum bewusst zu machen, kann | |
auf individueller Ebene helfen, diese Frage zu beantworten. Aber natürlich | |
brauchen wir hier letztlich einen gesellschaftlichen Rahmen. Ein sinnvoller | |
Ansatz wären sicher die planetaren Grenzen. Der ökologische Fußabdruck von | |
jeder und jedem von uns kann halt nur eine bestimmte Größe haben, wenn wir | |
unseren Planeten nicht überlasten wollen. | |
Wenn wir da hin wollen, dann wird ein nennenswerter Teil der Menschen | |
zumindest im globalen Norden den eigenen Lebensstandard senken müssen. | |
Ja. Wir werden nicht drumherum kommen, dass individuell gerade bei den sehr | |
Wohlhabenden der Lebensstandard sinken wird. Aber gesamtgesellschaftlich | |
würde das Wohlbefinden steigen. | |
Wirtschaftsliberale stellen Konsum gerne als Symbol von Freiheit dar – wie | |
bei der Aufhebung der pandemiebedingten Zutrittsbeschränkungen für | |
Geschäfte. Die Prämisse: Alle sollen möglichst ungehindert konsumieren | |
können. | |
Wenn wir darüber sprechen, dass eine Familie mit Hartz IV es sich leisten | |
kann, mit dem öffentlichen Nahverkehr Freunde zu besuchen – ja, dann ist | |
das Freiheit. Aber das ist es ja nicht, was damit gemeint ist. Da geht es | |
ja um das Recht auf Überflusskonsum, also den Kauf von Dingen, bei denen | |
uns die Zeit fehlt, sie auch zu nutzen. Und Überfluss nimmt Freiheit. Denn | |
zum einen muss dieser erst erwirtschaftet werden und zum anderen haben wir | |
häufig das Gefühl, diesen ganzen Dingen nicht gerecht werden zu können. | |
Denken Sie an die Zahl der ungelesenen Bücher auf dem Nachttisch. | |
Wie sähe denn ein Arbeitstag in der Postkonsumgesellschaft aus? | |
Der kann sehr unterschiedlich aussehen. Aus ökologischer Perspektive ist es | |
auf jeden Fall gut, auszuschlafen und sich genügend Pausen zu gönnen. Bei | |
keiner anderen Aktivität verbrauchen wir so wenig Ressourcen. Arbeiten im | |
wohnortnahen Co-Working-Space würde zum Normalfall. Sollte der Weg zur | |
Arbeit doch mal länger sein, wird mein Arbeitsweg mit dem Rad als | |
Arbeitszeit gezählt, weil mein Arbeitgeber den positiven gesundheitlichen | |
und ökologischen Effekt wertschätzt. Gearbeitet würde zwischen vier und | |
sechs Stunden pro Tag, um mehr Zeit für Freunde, Carearbeit, Hobbys und | |
ehrenamtliches Engagement zu haben. Es bliebe zudem genug Zeit, um seine | |
Bedürfnisse in Postkonsum-Räumen wie Bibliotheken, Vereinsräumen oder | |
Repaircafés ohne größeren Ressourcenverbrauch zu befriedigen. | |
Was haben Sie eigentlich zuletzt gekauft? | |
Ein Metronom. Ich habe angefangen, Gitarrenunterricht zu nehmen und merke, | |
dass mein Taktgefühl noch nicht so ausgeprägt ist wie mein Bedürfnis, im | |
Takt zu bleiben. | |
1 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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