# taz.de -- Zum Freiheitsbegriff: Überfluss und Erschöpfung | |
> Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem | |
> Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender. | |
Bild: Wenn alle von Erschöpfung reden, fühlen wir uns prompt noch müder | |
Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch Schlagworte beschert mit | |
einem großen Beiklang, mit Obertönen, die in uns etwas zum Schwingen | |
bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, | |
einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die | |
ungehemmten Egoismus ausleben wollen. Andererseits, weil aus eben diesem | |
Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „[1][Floskel | |
des Jahres]“. | |
Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter | |
Ambiguitäten. Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen | |
absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, | |
also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin | |
zu freien Wahlen. | |
Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, | |
ein lebenskulturelles Laisser-faire, die Befreiung aus Konformismus und | |
Konventionen, dieses ganze Zeug von Boheme über Hippies bis Punk. Nach den | |
erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene | |
aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner | |
rebellieren lässt als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den | |
Neoliberalismus und seine Sachzwänge. | |
Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen | |
Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen | |
individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der | |
Staatsrechtler Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen | |
mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie | |
auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. | |
## Freiheit ohne viel Heldentum | |
Wir haben das Problem mit [2][Minderheitenschutz], ein paar Sicherungen | |
gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das | |
ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von | |
Freiheit“ kennen und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut | |
große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach | |
eigenem Gutdünken zu gestalten. | |
Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu | |
garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit. | |
Schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das | |
hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das | |
Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem | |
besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten | |
und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. | |
Ersteres ist packend, Letzteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne | |
viel Heldentum. Wenn wir über die großen Worte und Parolen nachdenken, die | |
bis heute unser Denken möblieren, dann wäre vielleicht ein Nächstes der | |
Begriff des „Überflusses“. In den Utopien waren Vorstellungen vom | |
potentiell grenzenlosen Reichtum seit jeher zentral, schon Mose versprach | |
seinem murrenden Fußvolk, er werde es in ein Land führen, in dem „Milch und | |
Honig“ fließe. | |
Die Sozialisten und Kommunisten waren überzeugt, mit | |
Produktivitätssteigerungen, Fortschritt und der Befreiung der Kreativität | |
würde der Mangel endgültig besiegt, ein Leben im Überfluss möglich, da | |
waren sie sich lustigerweise sogar mit den Kapitalisten einig. | |
Der Begriff des „Überflusses“ hatte also lange einen rein positiven, | |
pathetischen Klang, da er uns Menschen von der Geißel des Elends und seiner | |
Zwänge befreien würde, bekam aber nach und nach auch negative Obertöne, man | |
denke nur an den Begriff der „[3][Überflussgesellschaft]“ mit ihrer | |
Warenflut, Verschwendung, ihren Milchseen und Fleischbergen, ihrer | |
Entfremdung und ihren künstlich produzierten Bedürfnissen. | |
## Der Planet ist überfordert | |
Heute kommt der Begriff „Überfluss“ eher nur mehr in Textsorten vor, die | |
einen traurigen Moll-Ton haben. Überfluss, gestern noch ein großes | |
Versprechen, ist heute ein Krisensymptom. Der Überfluss [4][erschöpft die | |
Strapazierfähigkeit des Planeten], heizt uns buchstäblich ein, auch die | |
Ressourcen sind „erschöpft“. Die Gefräßigkeit des Wirtschaftssystems | |
überfordert nicht nur die Natur, sondern auch uns Menschen, weshalb die | |
Erschöpfungsdiskurse überall sprießen. | |
Womöglich ist der Begriff der „Erschöpfung“ heute eine zentrale Vokabel f… | |
unsere Problem- und Zeitgefühle. Im Hamsterrad von Leben und | |
Wirtschaftsleben, in das immer mehr Stress einzieht, beklagen auch die | |
Individuen die Erschöpfung. Mutter Erde, aber auch Tom und Swetlana von | |
nebenan, alle sind erschöpft. Eine ständige innere Unruhe macht sich breit, | |
man beißt die Zähne zusammen, um zu funktionieren, obwohl alle schon | |
irgendwie niedergedrückt sind. | |
Man spurt, damit heute das Geld reinkommt, das morgen schon wieder | |
rausfließt, für die [5][gestiegenen Mieten], die [6][Lebenshaltungskosten]. | |
Von der Hand in den Mund, Pausen sind nicht mehr vorgesehen. Von der | |
„Dauererschöpfung“ schrieb der Soziologe Wolfgang Streeck schon vor zehn | |
Jahren, Sighard Neckel sprach vom „gesellschaftlichen Leid der Erschöpfung“ | |
in der Wettbewerbsgesellschaft. „Angst erschöpft“, bemerkte auch sein | |
Kollege Heinz Bude. | |
[7][Corona], [8][Krieg] und dazu noch ein volles E-Mail-Postfach, alle sind | |
erschöpft. In der Zeit machte unlängst ein Sozialpsychologe darauf | |
aufmerksam, dass es neben den realen Erscheinungen der Erschöpfung eben | |
auch die Erschöpfungsdiskurse gibt. Es handelt sich dabei auch um ein | |
Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, also um Selbstverständigung. | |
Wenn alle von Erschöpfung reden, fühlen wir uns prompt noch müder. | |
Erschöpft zu sein, gehört zum guten Ton. | |
Vielleicht ist dieses bedrückte und dauerdeprimierte Tremolo Effekt der | |
Abgeschmacktheit der Freiheit im demokratischen Kapitalismus, in dem | |
einerseits die individuelle Freiheit verwirklicht, diese aber unter | |
gesellschaftliche Bedingungen unterjocht ist, die die Form von sachlichen | |
Mächten, ja von übermächtigen Sachen annehmen. | |
25 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Begriff-Freiheit/!5903492 | |
[2] /Debatte-um-Minderheiten/!5752570 | |
[3] /Volkswirt-ueber-Postkonsumgesellschaft/!5849335 | |
[4] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
[5] /Mietenwahnsinn/!t5495378 | |
[6] /Inflation/!t5009102 | |
[7] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[8] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
## TAGS | |
Schlagloch | |
Freiheit | |
Fortschritt | |
Verschwendung | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Babyboomer | |
Freiheit | |
Sozialismus | |
Konsumgesellschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über demokratische Gesellschaft: Schutz gegen Freiheit | |
Sind wir verletzlicher geworden? Scheitern deshalb Debatten? Frauke | |
Rostalski gleicht die Debattenkultur mit demokratischen Prozessen ab. | |
Buch über die Boomer: Generation Plauderton | |
Heinz Bude skizziert die Babyboomer, die nun in Rente gehen. Das | |
Generationsbuch hat Schwächen – aber auch ein paar funkelnde Ideen. | |
Der Begriff „Freiheit“: Wörter sollten keine Sündenböcke sein | |
Wer glaubt, Freiheit verkomme zur Floskel, sollte definieren, was mit dem | |
Begriff gemeint ist. Denn die aktuelle Debatte hat Denkfehler. | |
Neues Buch „Überfluss und Freiheit“: Zerstörungskraft männlichen Denkens | |
Wie konnte es zu Klimakatastrophe und Artensterben kommen? Pierre | |
Charbonnier untersucht in seinem Buch die europäische Ideengeschichte. | |
Volkswirt über Postkonsumgesellschaft: „Überfluss nimmt Freiheit“ | |
Coronapandemie und Ukrainekrieg haben unser Einkaufsverhalten | |
durcheinandergebracht. Ein Gespräch über zu viel Konsum und Alternativen. |