# taz.de -- Der Begriff „Freiheit“: Wörter sollten keine Sündenböcke sein | |
> Wer glaubt, Freiheit verkomme zur Floskel, sollte definieren, was mit dem | |
> Begriff gemeint ist. Denn die aktuelle Debatte hat Denkfehler. | |
Bild: Ist der Begriff „Freiheit“ nur noch eine Floskel? | |
Zwei Journalisten ernannten an Neujahr „Freiheit“ zur Floskel des Jahres | |
und erzeugten damit eine Aufregungsdynamik, in die sich sogar | |
Justizminister Marco Buschmann einmischte. | |
Da stellt sich die Frage: Warum wird so [1][erbittert über Freiheit | |
gestritten], wenn sich doch alle einig sind, dass Freiheit etwas Gutes ist? | |
Das hat zwei Gründe. Der erste hat etwas mit Sprachmystik zu tun, der | |
zweite damit, dass das Wort Freiheit vielfach mehrdeutig ist. Daher reden | |
alle von Freiheit und dennoch aneinander vorbei, oft ohne es zu merken. | |
Aber der Reihe nach. | |
Die Begründung auf der Website Floskelwolke lautet: „Ich, ich, ich! Der | |
Freiheitsbegriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos | |
demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern. Im Namen der Freiheit | |
verkehren sie selbstgerecht und unsolidarisch die essenziellen Werte eines | |
Sozialstaates ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.“ | |
## Moralische Abkürzung | |
Diese Einschätzung offenbart gleich drei Denkfehler. Erstens kann man | |
Begriffe nicht „entwürdigen“, sie sind keine Personen oder politischen | |
Symbole. Zweitens würde niemand bezweifeln, dass es moralisch falsch ist, | |
rücksichtslos, selbstgerecht und unsolidarisch zu sein. Doch Aussagen, | |
denen niemand ernsthaft widerspricht, sind Plattitüden, um nicht zu sagen | |
Floskeln. | |
Die beiden Journalisten verraten uns nicht, wer die Egomanen sind und woran | |
man deren hinterhältigen Gebrauch des Wortes Freiheit erkennen kann. Das | |
führt zum dritten Denkfehler: Offenbar wollten die Floskelwolker eine | |
bestimmte politische Haltung kritisieren und haben das Wort Freiheit als | |
Stellvertreter benutzt. | |
Progressive Sprachkritik ist immer mal wieder gerechtfertigt, aber oft auch | |
ein Projekt der moralischen Selbstdarstellung, das weit über das Ziel | |
hinausschießt. Der Grund: Wir deuten Signalwörter im Social-Media-Profil | |
einer Person als Abkürzung zu ihrem moralischen Profil. Der Glaube, man | |
könne Gesinnung an Wörtern ablesen, ist oft ein Kurzschluss, der dazu | |
verleitet, Menschen oder ganze Parteien zu verurteilen, statt präzise zu | |
recherchieren. | |
## Wissenschaftlich oft fragwürdig | |
Wer sich so auf Wörter kapriziert, erliegt derselben Sprachmystik wie | |
Leute, die meinen, Sprache sei „mächtig“ oder würde unser Denken oder gar | |
Weltbild „bestimmen“. Solche vollmundigen Thesen sind vor allem unter | |
Geisteswissenschaftlern beliebt, aber wissenschaftlich oft fragwürdig – | |
oder schlicht unplausibel wie manche Begründung für problematische Wörter: | |
Das Wort Flüchtlingsstrom soll entmenschlichend sein, Besucherstrom aber | |
nicht? Ehrenmord, ein „Unwort des Jahres“ 2005, ist laut Jury | |
„inakzeptabel“ – das Wort Lustmord hingegen nicht? Auch hier soll die | |
moralisch verwerfliche Tat kritisiert werden, und das Wort muss als | |
Sündenbock herhalten. | |
Bizarr an der aktuellen Debatte ist, dass die Journalisten gerade das Wort | |
Freiheit zur Floskel des Jahres erklärt haben. In der Allgemeinen Erklärung | |
der Menschenrechte heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde | |
und Rechten geboren.“ Der Freiheitsbegriff steht dort nicht zufällig an | |
erster Stelle. Der Kampf um die Menschenrechte war zuallererst ein | |
Freiheitskampf für das Individuum gegen die Unterdrückung durch autoritäre | |
Herrscher. | |
Und ist es bis heute, wie nicht nur der [2][Krieg in der Ukraine] | |
verdeutlicht, sondern auch die Weltlage. Laut Demokratieindex des Economist | |
leben nur etwa 6 Prozent der Weltbevölkerung in vollständigen Demokratien, | |
in denen die Freiheitsrechte der Bürger geschützt sind. | |
Bevor man über gesellschaftliche Freiheiten nachdenken kann, muss man sich | |
vergegenwärtigen, was man mit Freiheit eigentlich meint. Schon Leibniz und | |
später Isaiah Berlin haben darauf aufmerksam gemacht, dass man Freiheit | |
negativ (frei von X) oder positiv (frei zu X) verstehen kann. Negative | |
Freiheit haben wir bei Abwesenheit von Zwang, wenn wir zum Beispiel nicht | |
in Ketten liegen, wie Hume sagt. Positiv verstanden ist Freiheit Autonomie, | |
also Selbstbestimmung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit. | |
## Autonomie und Schaden | |
Dieses Muster überträgt sich auch auf die Debatte über politische Freiheit, | |
die beides sein sollte, also die Freiheit von staatlicher Unterdrückung und | |
die Freiheit, sich in einer Gesellschaft zu entfalten. Obwohl das | |
progressive (also linksliberale) Projekt ein freiheitliches ist – gegen die | |
Autorität der Religion und Tradition, den Zwang des Kollektivs und eine | |
strikte Sexualmoral –, scheiden sich die Geister, sobald man fragt: Welche | |
Freiheit genau? Liberale (nicht zu verwechseln mit der Partei) fassen | |
Freiheit eher „negativ“ als Freiheit von Zwang: Sie wollen, dass sich der | |
Staat möglichst wenig ins Privatleben und die Wirtschaft einmischt. | |
Linke (ebenfalls nicht zu verwechseln mit der Partei) sehen Freiheit eher | |
„positiv“ als Autonomie und verbinden das mit Fürsorge: Sie wollen, dass | |
der Staat die freie Entfaltung besonders der Schwachen und Benachteiligten | |
schützt. Mehr noch: Wir alle stimmen darin überein, dass die Freiheit | |
eingeschränkt werden darf, um einen „Schaden“ abzuwehren, wie schon John | |
Stuart Mill ausgeführt hat, einer der Begründer des Liberalismus. | |
Aber worin genau besteht ein Schaden, und wer sollte am ehesten geschützt | |
werden? Schäden sind selten genau zu berechnen, wie letzthin die | |
schwierigen Abwägungen in der Coronapandemie gezeigt haben: Schränkt man | |
die [3][Freiheit des Handels ein] und nimmt Schäden wie Arbeitslosigkeit, | |
Pleiten und Verarmung in Kauf? Oder lässt man ihm seine Freiheit, riskiert | |
aber mehr Kranke und Tote durch Infektionen? | |
Wir haben feine Sensoren für beide Spielarten der Freiheit. Unser Mitgefühl | |
macht uns geneigt, unsere Interessen zum Wohle der Schwachen | |
zurückzustellen. Gleichzeitig reagieren wir aber auch empfindlich auf | |
Dominanzverhalten und autoritäres Gebaren. Unter Frauen ist die erste | |
Neigung etwas stärker ausgeprägt, unter Männern die zweite, was im | |
Extremfall zu Trotz führt: „Wenn mir jemand etwas verbieten will, dann | |
mache ich es erst recht!“ Auch Sprachkritik kommt oft autoritär daher. Kein | |
Wunder also, dass sie bei einigen starke Gegenreaktionen auslöst. | |
Freiheit muss nicht nur gegen Autoritäre durchgesetzt werden, sondern auch | |
gegen den „Käfig der Normen“, also die engstirnige Moral der Gemeinschaft. | |
[4][Im Iran sagen die Frauen] „Ich, ich, ich“, um sich gegen kollektive | |
Zwänge zu wehren. Gäbe es eine iranische Floskelwolke, hätte sie | |
getwittert: „Religion, Religion, Religion! Der Gemeinschaftsbegriff wird | |
entwürdigt von Fanatikern, die im Namen der Gemeinschaft die Freiheit | |
beschneiden – alles für den eigenen Vorteil.“ | |
Kritisiert werden sollten die fragwürdigen moralischen Absichten der | |
Menschen und nicht die Wörter, mit denen sie sie verhehlen. Wir müssen uns | |
immer aufs Neue die Frage stellen: Wo wird im Namen der Freiheit und wo im | |
Namen der Gemeinschaft zu viel verlangt? Um die Balance zu finden, sollten | |
wir lieber offen und leidenschaftlich über Werte streiten statt über Worte. | |
Gerade diese Auseinandersetzung macht unsere Freiheit in der Demokratie | |
aus, positiv wie negativ. | |
9 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rechte-Linke-und-Widersprueche/!5822255 | |
[2] /Rundgang-durch-Hostomel/!5901190 | |
[3] /Coronapandemie-in-China/!5906064 | |
[4] /Aufstand-in-Iran/!5900654 | |
## AUTOREN | |
Philipp Hübl | |
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einschläft. |