# taz.de -- Rechte, Linke und Widersprüche: Nazis für die „Freiheit“ | |
> Die Rechten sind radikal, aber auf depperte Weise. Die Linken sind | |
> gescheit, aber hasenfüßig und so vernünftig, dass man vor Langeweile | |
> einschläft. | |
Bild: „Querdenker“ fordern oftmals Freiheit ein ohne selbst andere Meinunge… | |
Dauernd ist jetzt von „Freiheit“ die Rede, und oft wird der Begriff auf | |
haarsträubende Weise missbraucht. Da wird von Leuten „Freiheit“ | |
eingefordert, die zugleich proklamieren, alle, die nicht ihrer Meinung | |
wären, gehörten an die Wand gestellt. Die gleichen Leute haben kein Problem | |
damit, Schutzsuchenden den Grenzübertritt zu verwehren und sie erfrieren | |
oder ertrinken zu lassen. Die [1][neue „Nazis für die Freiheit“-Bewegung] | |
ist skurril, und dabei könnte man es belassen. | |
Aber vielleicht tritt hier auf verquere, perverse Form ein echtes Problem | |
zutage. Nicht nur für die gemäßigte, auch für die radikale Linke war und | |
ist Freiheit immer das höchste Gut. Jedenfalls, wenn man nicht im | |
Brackwasser von Stalinismus, Proto- oder Poststalinismus oder sonstiger | |
Erziehungsdiktatur dümpelt. | |
Marx verkündete die frohe Botschaft, dass alle Verhältnisse umzuwerfen | |
sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein | |
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. [2][Im „Manifest“ proklamierte | |
er], dass „die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie | |
Entwicklung Aller ist“. | |
Das „Gleichheitsideal“ ist die Schwester des „Freiheitsideals“. Alle so… | |
frei darin sein, ihr Leben nach ihrem Gutdünken zu führen, ihre Talente zu | |
entwickeln, und weder durch Repression, Konvention und Konformismus, Zwang | |
oder krasses Elend behindert zu sein. Deswegen konnte sich der Sozialismus | |
so leicht mit dem Individualismus verbünden, deswegen hatten schon in | |
frühesten Tagen die kommunistischen Revolutionäre so viel | |
Ausstrahlungskraft auf die eigensinnigen Milieus von Künstlern, | |
Künstlerinnen, Dandys. | |
## Niemand ist „frei“ wie Robinson | |
Die „Freiheit“ ist aber eine Schimäre in hochkomplexen Gesellschaften, in | |
denen niemand „frei“ ist wie Robinson, weil alle miteinander verbunden | |
sind. | |
Die Vorstellung, dass es zum Kern individueller Freiheit gehört, sich bei | |
einer ansteckenden Krankheit nicht impfen zu lassen, kann man gern | |
hochhalten, wenn man als Eremit im Wald haust – aber nicht, wenn man im | |
Notfall dann doch ein Intensivbett in einem Krankenhaus belegt, das durch | |
den Sozialstaat finanziert wird und in dem Ärztinnen und Pfleger | |
Sonderschichten fahren müssen. Meine „Freiheit“, mit dem Auto zu fahren, | |
ist auch abhängig davon, dass alle zusammen für mich die Straßen bezahlen. | |
Allerdings: Bleibt dann in hochkomplexen Gesellschaften eigentlich gar | |
nichts mehr von der „Freiheit“ und dem „Eigensinn“ der Individuen, weil | |
diese nur eine Einbildung ist, an der sich romantische Gemüter wärmen? Das | |
ist die interessante und bedrückende Frage. | |
Geht etwas grob schief, das die gesamte Gesellschaft durchschüttelt, ist es | |
mit der Freiheit nicht weit her, unser Leben nach unserem Gutdünken zu | |
gestalten. Die steht plötzlich auf wankendem Boden, wenn der Nachbar | |
hustet. Komplexe Gesellschaften sind durchreglementiert, was die Freiheit, | |
das Leben nach eigenen Präferenzen zu gestalten, einschränkt. | |
## Die Vernünftigkeit des Einerseits-Andererseits | |
Nun kann man diese Widersprüche mit Vernunft auflösen, in dieser | |
Einerseits-Andererseits-Vernünftigkeit, die an jedem Problem herumkaut wie | |
an einem Eislutscher, bis nichts mehr übrig bleibt. Das ist das Talent | |
gescheiter Leute, aber leider auch ihr Fehler. Da ich gerade in | |
sorgenvoller Stimmung bin, mache ich mir sogleich auch über diesen Fehler | |
Sorgen. | |
Es braucht auch die Unvernünftigkeit, die Radikalität, das Beginnergefühl, | |
das Berserkerhafte, die Zerstörungswut, denn nur so wurden in der | |
Vergangenheit Konventionen und das Übliche, das Überlebte weggefegt. | |
Heute hat man manchmal das Gefühl, die Rechten sind radikal, aber auf | |
depperte Weise, die Linken sind gescheit, aber hasenfüßig und so | |
vernünftig, dass man vor Langeweile einschläft. Gut, stimmt schon, ein paar | |
Linke sind auch radikal und bescheuert, und dann ist es mir auch wieder | |
nicht recht. | |
Ich weiß nicht genau, aber das ist so ein flüchtiger Eindruck, das Gespür | |
einer Atmosphäre, dieses wabernde deprimierende Etwas, was man den | |
„Zeitgeist“ nennt. Radikal, aber auf vernünftige Weise, das wäre was. Oder | |
[3][wie Walter Benjamin einmal schrieb], „immer radikal, niemals konsequent | |
…“ | |
30 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Verschwoerungsmythen-und-Corona/!t5015225 | |
[2] https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/marx_manifestws_1848?p=16 | |
[3] /Neue-Biografie-ueber-Walter-Benjamin/!5728844 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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