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# taz.de -- Analyse der Coronaproteste: Virus gegen Geschichtsbewusstsein
> Die Pandemie verwirrt den Sinn für Geschichte. Das zumindest lassen die
> Coronaproteste vermuten. Sie zeigen auch schräge Allianzen.
Bild: In Osnabrück protestierte diese Demo gegen Coronamaßnahmen am 11. Dez…
Die jüngsten Berichte bestätigen es: Spätestens seit den Morddrohungen
gegen die sächsische [1][Gesundheitsministerin Petra Köpping] sowie den
[2][Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer], ist es
unübersehbar, dass die Szene der Impfgegner sich zu einer in der Geschichte
der Bundesrepublik bisher unbekannten rechtsradikalen Massenbewegung
entwickelt. Das ist verwunderlich, weil die Impfgegnerinnen einem ganz
anderen Milieu entstammten. So jedenfalls die von Oliver Nachtwey und
Nadine Frei erstellte empirische Untersuchung [3][„Quellen des
Querdenkertums. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in
Baden-Württemberg“].
Dieser nicht streng repräsentativen, aber auf einer zureichenden Fülle von
Interviews beruhenden Studie ist zu entnehmen, dass die typischen
QuerdenkerInnen gerade keine abgehängten, politisch eher rechts
eingestellten Provinzler sind. Im Gegenteil, die Studie ergab, dass es sich
um den Idealtyp der grünen Wählerin handelte: in aller Regel um eher
weibliche, höher gebildete, der gehobenen Mittelschicht zugehörige
Personen.
Zudem wurden vier mögliche Herkunftsmilieus dieses Personenkreises
untersucht: 1. das Alternativmilieu, 2. das anthroposophische Milieu, 3.
das christlich-evangelikale Milieu sowie 4. das bürgerliche Protestmilieu,
das in den Auseinandersetzungen um „Stuttgart 21“ führend war. Tatsächlich
gab es kaum Überschneidungen mit dem evangelikalen beziehungsweise dem
bürgerlichen Protestmilieu, nein, die meisten Befragten ordneten sich dem
alternativen oder anthroposophischen Milieu zu.
Gleichwohl habe man – so Oliver Nachtwey bei der Vorstellung der Studie –
eher vernünftige Personen erreicht und keine harten
Verschwörungstheoretiker oder gar Reichsbürger. Vor allem aber seien im
Südwesten doppelt so viele ehemalige Grünen- und Linke-Wähler unter den
Protestlern wie im Osten, wo – zum Beispiel in Sachsen – die Proteste
stärker von der extremen Rechten und deutlich weniger esoterisch geprägt
seien.
## Linke und rechte Eckpunkte
Nun fragt sich, ob man es hier mit Phänomenen zu tun hat, die sich am
besten mit der von Politologen gering geschätzten Hufeisentheorie erklären
lassen: einer Theorie, die die politische Landschaft nicht als horizontale
Gerade, sondern als hufeisenförmig darstellt: ein unvollständiger Kreis mit
einander naheliegenden rechten und linken Endpunkten. Aber sogar, wenn
diese Theorie zu schlicht ist, bleibt dennoch die Frage, warum in der
Impfgegnerschaft Menschen und Milieus zusammenfinden, die ansonsten weiter
entfernt nicht sein könnten.
[4][Manfred Kriener hat in der taz vom 13. 12.] darauf hingewiesen, dass
Epidemien seit jeher Verschwörungstheorien und Antisemitismus provoziert
haben – wie der tschechische Historiker František Graus mit seiner bereits
1994 erschienenen Studie „Pest, Geißler, Judenmorde. Das 14. Jahrhundert
als Krisenzeit“ penibel belegt hat.
Und tatsächlich ist die Szene der Impfgegner und Querdenker – auch dort, wo
sie nicht der extremen Rechten zuzurechnen ist – keineswegs frei von
Antisemitismus. So berichtet der Direktor der Frankfurter Bildungsstätte
Anne Frank, Meron Mendel: „In ein Seminar mit 30 von mir geschätzten
Teilnehmern kam ein Student sichtlich aufgebracht. Ihn störte die Uni-Regel
mit zwei Bändchen, einem für 3G und einem weiteren, länger gültigen für
Studierende, die freiwillig mehr Angaben machen. Das Bändchen sei ‚wie der
Judenstern in der Nazizeit‘. Es ist etwas anderes, ob das jemand denkt oder
das selbstsicher vor einer Gruppe ausspricht. Das hatte ich noch nicht
erlebt.“
Andere – nicht zuletzt junge, gebildete Frauen – verweigerten die Impfung
und verglichen sich sogar mit Anne Frank oder Sophie Scholl. Tatsächlich
belegen diese anekdotischen Mitteilungen die Stimmigkeit der Untersuchung
von Oliver Nachtwey. Ist doch nicht davon auszugehen, dass sich
Reichsbürger und Neonazis mit Anne Frank oder Sophie Scholl vergleichen.
## Judenhass als Chiffre für alle Übel der Welt
Die empirische Forschung zum Geschichtsbewusstein hat gezeigt, dass die in
einer Bevölkerung vorhandene Erinnerung an historische Ereignisse in dem
Ausmaß schwindet, in dem das Ereignis weiter zurückliegt. So auch die
deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Judenmord, die ohnehin
frühestens mit dem Frankfurter Auschwitzprozess in den 1960er Jahren
begann.
Seither sind bald sechzig Jahre vergangen und der Nationalsozialismus
mitsamt seinem Judenhass inzwischen zu einer Chiffre für alle Übel der Welt
geworden. Daher ernennt sich – wer auch immer gegen ein Übel wähnt
protestieren zu müssen – damit auch zur Widerstandskämpferin gegen den
Nationalsozialismus.
## Mangel an strukturellem Denken
Damit hat die Coronakrise nicht nur Folgen für überlastete Pflege- und
Gesundheitsinstitutionen, sondern auch für das gesamtgesellschaftliche
historische Gedächtnis. Denn: Tatsächlich schließen sich
Verschwörungstheorien stets solche Personen an, die weder willens noch in
der Lage sind, strukturell zu denken, sondern stattdessen auf der Suche
nach Akteuren und ihnen persönlich zurechenbaren Taten sind.
Offensichtlich sind viele Angehörige der alternativen und
anthroposophischen Milieus weder willens noch in der Lage, die Umwelt- und
Gesundheitskrise strukturell zu beurteilen.
Hinzu kommt ein in diesen Milieus seit jeher weit verbreitetes Unbehagen –
nicht an einzelnen staatlichen Gesetzen und Maßnahmen, sondern am Staat
selbst als Inbegriff von Macht und Unterdrückung. Und so berühren sich am
Ende denn doch Rechte und Linke: während jene den bundesrepublikanischen
Staat und sein Recht im Geiste einer völkischen Gemeinschaftsvorstellung
überwinden wollen, sehen diese in einem geradezu anarchistisch gesinnten
Individualismus im Staat nichts anderes als eine Unterdrückungsmaschine.
Hie radikaler Individualismus, dort völkische Gemeinschaft – in diesem
Falle trifft es eben doch zu: Les extrêmes se touchent … Nicht trotz,
sondern wegen fehlender Gemeinsamkeiten.
17 Dec 2021
## LINKS
[1] /Opferberater-ueber-Corona-Angriffe/!5817191
[2] /Mutmassliche-Drohungen-auf-Telegram/!5822460
[3] https://boell-bw.de/sites/default/files/2021-11/Studie_Quellen%20des%20Quer…
[4] /Pandemien-und-Paranoia/!5818929
## AUTOREN
Micha Brumlik
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