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# taz.de -- Herkunft der Impfgegner und Querdenker: Antimoderner Reflex mit Tra…
> Die noch immer als links-alternativ geltenden Lebensreformbewegungen und
> die neuen „Querdenker“ haben mehr gemeinsam als gemeinhin bekannt.
Bild: Bloß gekapert von den Rechten? Nein, Irrationalität und Verschwörungst…
Das anfängliche Erstaunen in Politik und Medien, wer ab Frühjahr 2020 die
Proteste gegen die Pandemiemaßnahmen organisiert hat, überrascht. Auf
der Straße versammelten sich Anhänger des alternativen Spektrums und der
rechten Szene. Ihre teilweise Herkunft aus der Mitte der Gesellschaft kann
aber keine Überraschung sein.
Bereits in der [1][ersten Lebensreformbewegung] war die Tendenz zu weit
rechten Positionen evident. Ihre Protagonisten teilten schon vor über 150
Jahren die Sehnsucht nach einem „ganzheitlichen Dasein“ in einer
„organischen Ordnung“. Ihr romantisierender Blick zurück galt der
vermeintlich natürlichen, harmonischen Vormoderne. Die gegenwärtige Kritik
an den staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie geht erneut mit einer
Ablehnung der Moderne einher.
Als Reflex auf die ökonomischen Krisen war in den 2000er Jahren eine
Gegenbewegung aufgekommen, beginnend mit der Finanzkrise 2008 und den
ökologischen Folgen des anhaltenden Wachstums von Markt und Waren. Die
Globalisierung ohne staatliche Regulierung löste in weiten Teilen der
Gesellschaft Abwehr aus. Ein Weiter-so in der Waren- und Finanzwelt, in der
Besitz und Dinge den Kern des Lebens ausmachen, stieß mehr und mehr auf
Ablehnung.
Der Klimawandel sorgte für ein Gefühl der Endzeitstimmung. Oliver Nachtwey,
Nadine Frei und Robert Schäfer nehmen die „Querdenken“-Proteste daher auch
als „Ausdruck einer fundamentalen Legitimationskrise der modernen
Gesellschaft“ wahr.
## Entfremdung in der Hypermoderne
Schon 1980 mahnte Jürgen Habermas, die „Moderne“ sei ein „unvollendetes
Projekt“. Die Versprechen der Aufklärung, mit Logik und Ratio eine
universelle Grundlage für Moral und Recht für eine humanistische Welt zu
erreichen, seien nicht erfüllt. 40 Jahre später ist dieses Projekt für die
„Querdenker“ und Coronaleugner:innen endgültig gescheitert.
Die Entfremdung von der durchrationalisierten Hypermoderne spiegele
sich nicht nur in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen wie Parteien,
Parlamenten oder Presse, sondern auch, so Nachtwey und Co-Autoren, in
„einer romantisch inspirierten Hinwendung zu ganzheitlichen,
anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die natürlichen
Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen nach mehr spirituellem Denken
und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleichzustellen.“
Die der Aufklärung eingeschriebenen Kategorien Ratio und Logik werden für
Industrialisierung und Urbanisierung verantwortlich gemacht. Der
„Entzauberung der Welt“ wird eine Verzauberung durch Remythologisierung und
Respiritualität entgegengestellt. Von der „Erlösung vom Intellektualismus
der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt
zurückzukommen“, schrieb Max Weber bereits 1919.
Die technologische Entwicklung der Arbeit, so Karl Marx, entfremde den
Menschen von sich selbst, seiner Gattung und der Natur. Der entfremdete
Mensch steht inmitten der entfesselten Moderne.
## Die Verzauberung suchen
Die Auswirkungen einer Ratio, allein genutzt für eine ökonomische Realität,
waren damals wie heute sicht- und spürbar. Die erste Gegen- und
Suchbewegung propagierte unterschiedlichste Verzauberungen der entzauberten
Welt: von alternativen Siedlungen und ökologischer Landwirtschaft über
vegetarische Ernährung und ganzheitliche Medizin bis hin zu spirituellen
Praktiken und pädagogischen Ideen.
Erste Organisationen wie der 1889 gegründete Deutsche Bund der Vereine für
naturgemäße Lebens- und Heilweise entstanden. Aus Sorge um die Gesundheit
des Individuums und des „Volkskörpers“ wurde 1886 der Homöopathische Vere…
in Heidenheim aufgebaut. Im Zuge des 1874 beschlossenen Reichsimpfgesetzes
begründeten Impfgegner erste Organisationen, unter ihnen der Arzt und
Naturheilkundler Eugen Bilfinger.
Er erklärte: „Nicht Impfungen, sondern nur gesunde Lebensbedingungen und
gesunde Lebensgewohnheiten verschaffen und erhalten uns die Gesundheit. Die
Natur hat immer recht.“ Die Natur solle nicht gemeistert werden, man habe
von ihr zu lernen und „ihre Gesetze zu verstehen“.
Der damals deutschlandweit bekannte Impfgegner, Tierrechtler, Veganer und
Antisemit Paul Förster stritt ebenso gegen die Impfpflicht. Er sah keinen
Widerspruch zwischen seinem gesundheits- und tierrechtspolitischen
Engagement und seinen völkisch-nationalistischen Aktivitäten. In seinem
Denkkosmos griff alles ineinander. Hier flackerte die Verschwörung auf,
dass die moderne Welt eine „jüdische Welt“ sei.
Förster denunzierte Humanismus, Rationalismus, Universalismus und
Egalitarismus als „fremde Formen“. Sie widersprächen dem deutschen Wesen
und seien dafür verantwortlich, dass dem „Menschen die Unmittelbarkeit des
Gefühls und der Einklang mit der Natur“ verloren gegangen sei. Ein rechter
Antimodernismus, der nicht bloß den Materialismus abwehren wollte, sondern
auch Liberalismus und Humanität.
## Atomkrieg und Selbstverwirklichung
Die Krisen der 1970er Jahre ließen erneut eine Gegenbewegung entstehen –
die zweite Lebensreformbewegung. Der Wirtschaftsboom ging zu Ende, die
Nachrüstung offenbarte die Gefahr eines Atomkriegs, die zerstörerischen
Auswirkungen des Kapitalismus wurden wieder erkannt.
Endzeit- und Aufbruchstimmung lagen erneut eng beieinander.
Industrialisierung und Urbanisierung, Wirtschaftswachstum und Konsum waren
nicht mehr mit Glücksversprechen verbunden. Der Ruf nach Umkehr wurde laut.
Das linksalternative Milieu löste nicht bloß ein kritisches
Staatsverständnis aus, es trieb auch die Selbstsuche an.
Selbstverwirklichung, Authentizität, Autonomie und Ganzheitlichkeit der
Erfahrung waren die Leitideen. Die von [2][Rudolf Steiner (1861–1925)
begründete Anthroposophie], der ihr nahestehende biologisch-dynamische
Landbau wie auch waldorfpädagogische Einrichtungen fanden Zulauf.
Als „Partei der Bewegung“ gründeten sich die Grünen – mit weit rechts
stehenden Akteuren, was harte Richtungskämpfe und personellen Konsequenzen
auslöste.
## Patrioten und Rebellen
In diesem Kontext betonte der neurechte Publizist Karlheinz Weißmann 1991,
dass „völkisch-religiöse Ideologien“ durch das „Einsickern einer Mischu…
grüner, alternativer, okkulter und neuheidnischer Vorstellungen“ Platz
greifen könnten. Der [3][Mitbegründer des Instituts für Staatspolitik]
wollte keine Warnung aussprechen, sondern einen Weg weisen. Jahre später
ruft Martin Sellner, führender Kader der rechtsextremen Identitären
Bewegung, im Compact Magazin „die Patrioten“ auf, sich den
„Corona-Rebellen“ anzunähern.
Auch die ungezügelte Globalisierung und die Digitalisierung der Lebens- und
Arbeitswelt wecken Sehnsüchte nach Entschleunigung und Einfachheit. Neben
den Folgen des Klimawandels hat vor allem die Coronapandemie das
Mensch-Natur-Verhältnis verstärkt in das gesellschaftliche Bewusstsein
gebracht. Covid-19 offenbarte, dass die Natur den Menschen beherrschen
kann.
Diese Gemütslagen treiben „Querdenker“ und Coronaleugner:innen an, die
versichern, sie stünden weder links noch rechts. Die Tendenzen zum
Spirituellen und Irrationalen gehen aber nicht nur von Wissenschaftskritik
in Wissenschaftsfeindlichkeit über. Sie begründen ebenso Sympathien für
Verschwörungsnarrative. Der den Lebensreformbewegungen immanente Kampf
gegen die Moderne hat bereits den Weg zur Radikalisierung bereitet.
Schon 1952 betonte Georg Lukács zu den ideologischen Vorläufern des
Nationalsozialismus, dass die Option einer „aggressiven reaktionären
Ideologie in jeder philosophischen Regung des Irrationalismus sachlich
enthalten ist“, bis hin zu einer faschistischen. Der Mythos, die
Lebensreformbewegung sei per se links-alternativ, verhindert die Reflexion
der Ambivalenzen und das Erkennen einer wenig überraschenden Nähe zu
rechtem Gedankengut.
27 Nov 2021
## LINKS
[1] /Alternatives-Leben-um-1900/!5458122
[2] /Kritik-an-Thesen-von-Rudolf-Steiner/!vn5805626
[3] /Kubitscheks-Institut-fuer-Staatspolitik/!5801552
## AUTOREN
Andreas Speit
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