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# taz.de -- Anthroposophie in der Kritik: Zu wenig Anschauung
> Die Anthroposophie steht zurzeit heftig unter Beschuss. Aber wie
> überzeugend sind die Argumente ihrer Gegner? Eine kleine Gegenkritik.
Bild: Globuli: Besteht die Welt aus mehr als stofflichen Wirkungen?
Für Anthroposoph*innen kommt es im Moment ziemlich dicke. Innerhalb
weniger Tage nimmt sie erst [1][Jan Böhmermann aufs Korn] (ZDFMagazin
Royale) und dann noch Jochen Breyer in einer weiteren ZDF-Produktion:
[2][„Anthroposophie – gut oder gefährlich?“] Zeitgleich, wie konzertiert,
noch mehrere kritische Internet-Publikationen etwa von Krautreporter.
Die [3][Welt von Waldorf und Demeter] – das sei doch „gefühlt irgendwie
gut“. So beginnt Breyer, und man hört das Aber schon mit. Denn was er und
Böhmermann vor ihrem Publikum ausbreiten, ist eine vermeintlich [4][bizarre
Weltanschauung], in der eine Vielzahl geistiger Wesen, sogar Engel, eine
Rolle spielen, alles durch und durch unwissenschaftlich und zudem noch von
autoritären Lehrer*innen schulisch praktiziert.
Kann man Schulen auf dieser weltanschaulichen Grundlage überhaupt dulden?
Böhmermann, der sich satirisch als Waldorf-Fan inszeniert, wedelt mehrfach
mit dem Grundgesetz und versichert: Wenn die Schulen staatlich genehmigt
seien, dann müsse ja wohl alles okay sein. Subtext: Man müsste nur mal
genauer prüfen, dann fiele das Ergebnis anders aus.
Beginnen wir der Einfachheit halber mit den Engeln. Wenn die ein
Genehmigungshindernis wären, müsste man auch eine Debatte über
konfessionelle Schulen führen, spielen doch Engel in der Bibel keine
geringe Rolle. Und Jesu Auferstehung ist wahrlich kein kleines Wunder und
wissenschaftlich nur schwach belegt. Sind diese Widersprüche niemandem in
den Redaktionen aufgefallen?
Dass die Lehrer*innen an den Waldorfschulen eine starke, autonome
Stellung haben, ist wahr. Und gewiss kann dies auch autoritäre Blüten
treiben (die es indes auch an Staatsschulen gibt, wie ich als deren
Absolvent bezeugen kann). Komplett verschwiegen wird in den Sendungen der
Hintergrund solcher Besonderheiten. Rudolf Steiner, der Begründer der
Anthroposophie, war überzeugt, dass Lernen maßgeblich über Beziehung, übers
Persönliche gelingt. Daher auch seine unbequeme Forderung ans pädagogische
Personal: Jede Erziehung bedeute zunächst einmal „Selbsterziehung“. Und war
nicht eben dies das Ergebnis der riesigen Meta-Studie des Bildungsforschers
John Hattie, die vor einigen Jahren Furore machte: dass unter allen
pädagogischen Faktoren, vom Schulsystem bis zum Lehrplan, der Wichtigste
die „Lehrperson“ ist? Steiner, der „Hellseher“, wie ihn Böhmermann und
Breyer ständig sarkastisch nennen, wusste das irgendwie schon vor hundert
Jahren. Die Fixierung auf „Programme“ hielt er für einen mechanistischen
Aberglauben unserer Epoche, das eigentlich Wirksame vollziehe sich immer
geistig und individuell.
Dann [5][Corona]. Mit Recht thematisieren Kritiker und auch die beiden
Sendungen die Corona-Konfusion in Teilen der Anthro-Szene. Kaum geringer
ist allerdings die eigene intellektuelle Konfusion. Ihm sei, so Böhmermann,
der Klassenbrief eines Waldorf-Lehrers zum [6][Thema Impfen] „gesteckt“
worden. Darin schreibt der Lehrer: Diese Frage müssten die Eltern
entscheiden. Und die Kinder sollten keine Covid-Angst haben, „weil Kinder
fast nie ernsthaft krank daran werden“. Wo ist der Skandal? Das sind völlig
richtige Aussagen. Sollte er Kinder, die ohnehin einer halb panischen,
maskentragenden Erwachsenenwelt ausgesetzt waren, zusätzlich beunruhigen?
Natürlich, es hat Gründe, dass die Anthroposophie vielfach irritierend
wirkt. Sie komme, so Steiner, „als ungeladener Gast in das moderne Leben
hinein“, versucht sie doch einen neuen Zugang zu Fragen zu finden, die
heute fast verstummt sind. Und tatsächlich verficht sie die (über
Jahrtausende selbstverständliche) Anschauung, dass es [7][nicht nur
materiell fassbare Wirklichkeiten] gibt, sondern auch immaterielle,
geistige.
Die Unfähigkeit, sich einem solchen Gedanken überhaupt noch ernsthaft zu
nähern, lässt sich in Breyers Sendung in mehreren denkwürdigen Szenen
beobachten. Etwa als er mit eisiger Miene einen Demeter-Bauern daraufhin
befragt, wie er dazu komme, auf seinem Acker außer mit irdischen auch mit
kosmischen Einflüssen zu rechnen. Das Verhör endet mit dem Geständnis des
Mannes, er gehe eben davon aus, dass die Welt „aus mehr als aus stofflichen
Wirkungen besteht“.
Ein Fall von Wahnsinn oder doch eher Ausdruck dessen, was wir im Alltag
ständig voraussetzen? Kann sich Breyer etwa die Liebe nur rein stofflich,
als hormonellen Vorgang vorstellen? Aber er fährt ungerührt fort: Solch
wissenschaftsfeindliche Einstellungen seien eben das Gefährliche an der
Anthroposophie.
Weiß er nicht, dass Steiner die moderne Naturwissenschaft für hoch
bedeutend hielt? Er war allerdings überzeugt, dass sie quasi nur die
Außenseite der Wirklichkeit erfassen kann und durch eine Wissenschaft vom
Geistigen zu ergänzen sei. Die werde selbstverständlich andere Methoden
haben und nicht jene fingerzeigenden Nachweise bieten können, auf die man
heute fixiert ist.
Nichts davon erfährt man in den Sendungen. Nicht deren kritische
Grundhaltung ist das Problem. Sehr wohl aber eine Haltung, die nicht den
geringsten Versuch unternimmt, Anschauungen, die in der Tat vom heute
Üblichen abweichen, wenigstens ansatzweise zu verstehen. Aber vielleicht
ist die Oberflächlichkeit auch kein Zufall.
Jan Böhmermann weist am Ende seiner Sendung auch auf die Website von
Krautreporter und deren Artikel hin. Deren Waldorf-Autor hat inzwischen
eingeräumt, dass er nie eine solche Schule von innen gesehen hat. Ein sehr
eigenes Verständnis von Reportage also. Nicht so viel besser steht es bei
dem [8][Anti-Anthroposophie-Blogger Rautenberg], der in den Sendungen viel
zitiert wird. Er soll Steiner auch in entstellender Form zitiert haben.
Eigentlich möchte man über all das nur sagen: traurig. Aber weil es so
großspurig auftritt, passt doch besser: dreist und am Ende unseriös.
1 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=MaYdgxXmM4s
[2] https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-anthroposophie-gut-oder-ge…
[3] /Waldorf-Weleda-Demeter-und-Co/!5638891
[4] /Lamberty-und-Nocun-ueber-Esoterik/!5885366
[5] /Waldorfpaedagogik-und-Maskenpflicht/!5846025
[6] /Antroposophie-und-das-Impfen/!5818077
[7] /Herkunft-der-Impfgegner-und-Querdenker/!5815438
[8] https://anthroposophie.blog/author/anthroposophieblog/
## AUTOREN
Wolfgang Müller
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