# taz.de -- Gefühl der Ungerechtigkeit: Waldorfs Demokratieverständnis | |
> Eine Pianistin spielte im Unterricht, es gab Bioessen. Doch unsere | |
> Autorin fühlte sich als Waldorfschülerin benachteiligt. Heute weiß sie es | |
> besser. | |
Bild: Demonstration von Waldorfschülern für einen gerechten Umgang mit Förde… | |
Es war Aufruhr in der Schulgemeinschaft. Man plante politische Aktionen. | |
Ich weiß nicht mehr, um was es genau ging. Aber ich spürte deutlich, dass | |
man sich als Waldorfschulgemeinschaft in der Existenz bedroht sah. | |
Dass es ein ganz starkes Gefühl von Unrecht gab, weil man weniger Geld | |
bekam als vergleichbare öffentliche Schulen. Ich habe mich mit vollster | |
Überzeugung benachteiligt gefühlt. Vermutlich ganz ähnlich wie die | |
demonstrierenden Berliner Waldorfkinder, die am 19. 9. 2023 vors Rote | |
Rathaus zogen. | |
Meine [1][ersten Erinnerungen an Politik] hängen also mit der Finanzierung | |
meiner Waldorfschule zusammen. Das hat dazu beigetragen, dass mein | |
Vertrauen in den Staat und in demokratische Prozesse bereits als Kind | |
unterminiert wurden. Ich habe durch solche Argumentationslinien verstanden: | |
Der Staat ist böse und gängelt uns unrechtmäßig – nicht nur über das Gel… | |
sondern beispielsweise auch über die Regelungen für Schulabschlüsse. | |
## Ein starkes Gefühl von Unrecht | |
Worüber damals niemand mit mir geredet hat, waren die unfairen Vorteile, | |
die Waldorfschulen haben: Sie können sich die Kinder aussuchen, die „zu | |
ihnen passen“ und sie können Schulverträge wieder kündigen, wenn Kinder | |
„unbeschulbar“ werden oder das „Vertrauensverhältnis zu den Eltern“ | |
zerrüttet ist. | |
An meiner Waldorfschule gab es kaum Kinder, die nicht [2][Deutsch als | |
Erstsprache] hatten. An den umliegenden Grundschulen waren es teils über 90 | |
Prozent, deren Zweitsprache es war. Zudem ist ein christlicher | |
Religionsunterricht an nahezu allen Waldorfschulen verpflichtend. | |
Durch bewusste Selektion bestimmter Kinder kreieren Waldorfschulen eine | |
sehr spezifische Gemeinschaft, die viele ressourcenstarke Eltern bindet und | |
Kinder die mehr Ressourcen bräuchten, nicht aufnimmt oder später abstößt. | |
Wir haben damals auch nie über den Reichtum gesprochen, in dem wir | |
aufwuchsen. Wir hatten einen Eurythmiesaal mit Parkett und eine Pianistin, | |
die täglich für den Unterricht spielte. Wir haben an Vollholztischen | |
gesessen, frisch gekochtes Bioessen bekommen und mit qualitativ sehr | |
hochwertigen Materialien gemalt, musiziert, gestrickt und gewerkt. Ich | |
dachte wirklich, das käme einfach nur weil „uns“ Bildung nun mal wichtig | |
wäre und dass jedes Kind auf die Waldorfschule gehen könne, wenn die Eltern | |
es nur wollten. | |
## Eine Pianistin, frisches Bioessen, teures Werkzeug | |
Wir haben uns eher arm gefühlt, weil irgendwie immer zu wenig Geld da war | |
und wir nach jeder Aufführung mit Hut oder Geigenkasten an den Ausgängen | |
standen. Und Schulgeld wäre ja auch gar nicht nötig, wenn die | |
Waldorfschulen voll finanziert würden. So dachte ich auch noch, nachdem ich | |
meine Schule längst verlassen hatte. | |
Heute bringe ich meine Kinder morgens in eine unterfinanzierte öffentliche | |
Grundschule und frage mich: Was wäre, wenn das praktische, politische und | |
finanzielle Engagement der „Waldorfkohorte“ bei Regelschulen und | |
Kiezinitiativen ankommen würde, weil sie einfach Teil davon wären? Wenn | |
Holzwerkstatt und Malatelier inklusiv wären? | |
[3][Bildungsgerechtigkeit] kann doch nicht dadurch entstehen, dass | |
ressourcenstarke Familien sich in eine scheinbar geborgene | |
Parallelgemeinschaft zurückziehen, wo Kinder fast unkontrolliert nach einem | |
problematischen Lehrplan unterrichtet werden und dann vielleicht, so wie | |
ich, mit einem verzerrten Demokratieverständnis in die Welt gehen? | |
6 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Waldorfschule-als-Gemeinschaft/!5956552 | |
[2] /Schulen-in-Deutschland/!5796061 | |
[3] /Ampelplaene-fuer-Bildungsgerechtigkeit/!5895419 | |
## AUTOREN | |
Frau Lea | |
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