# taz.de -- Waldorfpädagogik und Maskenpflicht: Das Ringen um den Einzelnen | |
> Freie Waldorfschulen hatten beim Umgang mit Corona oft Probleme mit ihrer | |
> Klientel und Lehrerschaft. Zwei Ulmer Schulen gehen unterschiedliche | |
> Wege. | |
Bild: Ein Findling als Namensschild auf dem Gelände einer Freien Waldorfschule… | |
Es war im Frühjahr 2020, die Welt wusste noch nicht viel über das | |
Coronavirus. Wilfried K. glaubte genug zu wissen. Am 27. Mai tritt der | |
Lehrer aus Ulm im baden-württembergischen Biberach an ein Rednerpult. Mit | |
dem „Kunstgriff eines Virus“ sei ein „die Menschen bestimmender, | |
bedrohlicher Raum geschaffen“ worden, ruft er den versammelten Gegnern der | |
Pandemiepolitk zu. Mittels einer „gewaltigen Zensur, Hetz- und | |
Diffamierungskampagne der Regierung und der Hofmedien (…)“ solle „jeglich… | |
eigenständige Denken“ ausgemerzt werden. Die Bundesregierung müsse deshalb | |
vor Gericht gestellt werden – „national und international“. | |
K. ist Lehrer in Ulm. Wohl nirgendwo in Deutschland ist die | |
Waldorfschulen-Dichte höher als im Süden der schwäbischen Stadt: Die Freie | |
Waldorfschule an der Römerstraße und die Waldorfschule am Illerblick liegen | |
keine 300 Meter voneinander entfernt. K. unterrichtete damals an beiden das | |
Fach Theater in der Oberstufe. | |
An keiner Schule in Deutschland ging die Debatte um Sinnhaftigkeit der | |
Coronamaßnahmen vorbei. [1][In manchen der bundesweit 254 Waldorfschulen | |
mit ihren rund 90.000 Schüler:innen aber fiel sie schärfer aus.] Es gab | |
Berichte über ungewöhnlich viele Covid-Ausbrüche, wie etwa in Müllheim, | |
über falsche Maskenatteste wie in Freiburg, über Drohungen gegen die | |
Schulleitung wegen der Maskenpflicht wie in Göppingen, eskalierte | |
Coronaproteste wie in Rottweil, über Testverweigerung wie in Prien. Und | |
über Querdenker-Lehrer – wie Wilfried K. aus Ulm. | |
Der Bund der Freien Waldorfschulen versuchte schon im Oktober 2020, all dem | |
entgegenzutreten: „Wir distanzieren uns ausdrücklich von simplifizierenden, | |
mystifizierenden, diskriminierenden sowie demokratie- und staatsfeindlichen | |
Aussagen“, schrieb der Verband. Er verurteile, wenn diese unter Berufung | |
auf die Waldorfpädagogik oder die Anthroposophie verbreitet werden. | |
Doch wie kommt es, dass sich die Coronakonflikte an Waldorfschulen oft | |
stärker zugespitzt haben als anderswo? Der Illerblick-Schulleiter Roland | |
Zeller aus Ulm drückt es so aus: An Waldorfschulen sei „im Gegensatz zu | |
staatlichen Schulen eine wesentlich freiere und breitere Grundhaltung zu | |
vielen Themen gegeben.“ Und manche Eltern, die eben das anziehe, „möchten | |
auch ein anderes Gesundheitssystem für sich auswählen“. | |
Doch das sind nicht alle. Andere Waldorf-Eltern ziehen Biontech Bachblüten | |
vor und können auch sonst nicht viel mit Esoterik anfangen. Vor Corona fiel | |
das oft nicht weiter ins Gewicht. Doch die Pandemie ließ die teils weit | |
auseinander fallenden Weltsichten kollidieren. Der Fall des Lehrers K. ist | |
dabei exemplarisch für die Konfliktlage. Er zeigt aber auch, wie | |
unterschiedliche Wege die Schulen in diesem Konflikt gehen können. | |
## Klar positioniert | |
Die Waldorfschule Römerstraße macht einen Schnitt: Sie führt einen | |
Rechtsstreit, trennt sich von K., was den Abgang weiterer Lehrer nach sich | |
zieht. Einige enttäuschte Eltern melden ihre Kinder ab. „Wir haben uns in | |
der Coronafrage glasklar positioniert“, sagt Vorständin Gerlinde Koch | |
heute. „Viele Diskussionen, die andere Schulen heute haben, haben wir nicht | |
mehr.“ | |
Bei der Waldorfschule am Illerblick ist K. hingegen bis heute weiter | |
beschäftigt. „Die Gemeinschaft ringt um jeden Einzelnen und das ist etwas | |
Schönes“, sagt der Schulleiter Zeller heute. K. habe zu Corona „seine | |
Position und steht dazu. Und das darf auch so sein.“ | |
Die „eigene Position“ tut K. nicht nur auf Demos wie in Biberach und auf | |
anderen Querdenker-Veranstaltungen kund. Er hatte auch über den | |
Schulverteiler der Römerstraße „Aufklärungsvideos“ des Querdenker-Arztes | |
Wolfgang Wodarg geschickt – und kassiert dafür eine Abmahnung. Wenige | |
Wochen später taucht ein von K. verfasstes Flugblatt auf. Darin rückt er | |
die am 24. März 2020 verhängten Coronamaßnahmen in die Nähe von Hitlers | |
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Maskentragen nennt er darin | |
„Freiheitsberaubung“, Menschen würden „sklavisch geknechtet“. K. schli… | |
mit einem Zitat der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“: „Nichts ist eines | |
Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer | |
verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique regieren | |
zu lassen.“ Konsequenterweise weigert K. sich, eine Maske zu tragen – auch | |
in der Schule. | |
„Für mich absolut indiskutabel“, sagt Gerlinde Koch, damals im Elternrat, | |
heute im Vorstand der Waldorfschule. | |
Doch was tun? | |
Das ockergelbe Schulgebäude der Römerstraße liegt am Fuß des Unteren | |
Kuhbergs, am Rand eines alten Forts des Deutschen Bundes. Geleitet wird sie | |
von Hartmut Semar. An den Tag, an dem K.s Flugblatt auftauchte, kann er | |
sich noch gut erinnern. „Ich hab die Nachricht an der Kasse gelesen und bin | |
fast umgefallen“, sagt er. Er sei sofort an die Schule gegangen und habe | |
nachgeschaut, ob das Flugblatt auch dort verteilt wurde. K. hatte das | |
Pamphlet zwar nur außerhalb verteilt, unter anderem aber an | |
Geschwisterkinder der Schule. „Da fing die Ebene an, wo wir sehr stark im | |
Gespräch waren“, sagt Semar. Er habe vorher geahnt, wie K. Corona sehe. | |
„Aber wir hätten nie gedacht, dass es so auf die Spitze läuft.“ | |
Von K. selbst ist nicht zu erfahren, wie er heute über die Pandemie denkt. | |
Seine Frau wehrt Fragen am Telefon ab. Man wolle nichts dazu sagen, sagt | |
sie. Auch sie war, wie ihr Mann, an der Waldorfschule Römerstraße | |
beschäftigt und zog ihren Ruhestand im vergangenen Sommer vor. | |
K. legt Semar ein Attest vor, laut dem er keine Maske tragen könne. Die | |
Schule verlangt in solchen Fällen das Tragen eines Gesichts-Visiers. K. | |
lehnt auch das ab. „Es macht einen Unterschied, ob er sagt, ‚ich kann das | |
aus medizinischen Gründen nicht tragen, trage aber ansonsten die Maßnahmen | |
mit‘,“ sagt die Eltern-Vorständin Gerlinde Koch. „Das ist etwas anderes, | |
als wenn er als Lehrer auf Demos solche Flugblätter verteilt.“ | |
Das Schulamt hatte zu jener Zeit längst beschlossen, dass jene, die ein | |
Maskenattest vorlegen, stattdessen ein Gesichtsvisier tragen müssen. Doch | |
K. kommt ohne Visier in die Schule. „Im Dezember haben wir gekündigt,“ sagt | |
Semar. K.s öffentliche Auftritte seien dabei nicht entscheidend gewesen. | |
„Wichtig ist, was im Inneren passiert. Letztendlich mussten wir den Schnitt | |
machen, weil er die Hygienemaßnahmen nicht mitgemacht hat. Das geht nicht.“ | |
K. spricht indes von „Mobbing“ – und klagt gegen die Kündigung. Vertreten | |
wird er von Markus Haintz, einem Ulmer Rechtsanwalt und führenden Kopf der | |
baden-württembergischen Querdenker-Szene, der gern berichtet, dass er | |
„politische“ Mandate von Corona-Gegnern gratis übernimmt. | |
Im März 2021 steht ein Gütetermin am Arbeitsgericht an. K. lehnt eine | |
Abfindung von 27.500 Euro plus unangetasteter Betriebsrente zunächst ab. | |
„Wir hätten den Prozess durchziehen können, vielleicht hätten wir die | |
Abfindung am Ende nicht zahlen müssen“, sagt der Schulleiter Semar. Aber | |
das sei nicht im Sinne der Schule gewesen. „Wir sind ein Organismus von 600 | |
Elternhäusern, mit den Kindern sind es 2.000 Menschen. Man braucht Ruhe. | |
Wir wollten so schnell wie möglich aus der Nummer raus.“ Ein sich womöglich | |
über zwei Jahre hinziehender Prozess wäre das Gegenteil davon. Und: „Der | |
Kollege war 30 Jahre hier, der hat echt gute Sachen gemacht. Wir sehen auch | |
die Verdienste von ihm.“ Im April 2021 stimmt K. schließlich dem Vergleich | |
zu. | |
## Jede:r Fünfte ging | |
Ruhe eingekehrt war damit nicht. Denn es gab drei weitere Lehrer:innen, | |
die versuchten, sich der Maskenpflicht zu entziehen, wenn auch nicht so | |
konsequent wie K. Und einige kündigten. „Sie sind dann mal weg: Zehn Lehrer | |
verlassen die Waldorfschule“, schrieb die Südwestpresse im Juli 2021. | |
Freilich: Nicht alle gingen wegen der Corona-Maßnahmen. „Das war teils | |
normale Fluktuation“, sagt der Schulleiter Semar. Eine Kollegin sei | |
„dezidiert wegen des Umgangs mit Maßnahmen und mit Herrn K. gegangen, sie | |
wollte das nicht mittragen.“ Andere hingegen hatten eine Stelle an einer | |
staatlichen Schule angenommen, waren umgezogen oder früher in Rente | |
gegangen. „Das gibt es jedes Jahr,“ sagt Semar. „Das hatte vielleicht dam… | |
zu tun, dass die unsere Coronalinie nicht gut fanden, es wurde aber nicht | |
so formuliert.“ So oder so: Jede:r fünfte Lehrer:in verließ die Schule. | |
„Wir legen keinen Wert darauf, das jedes Jahr machen zu müssen“, sagt | |
Semar, der alle Mühe hatte, an Ausbildungsinstituten Ersatz zu beschaffen. | |
Doch es sind nicht nur Lehrer wie K., sondern auch manche Eltern, deren | |
Ansichten zur Coronapandemie die Schule vor Probleme stellten. Drei | |
Elternpaare der Römerstraße weigern sich, ihre Kinder in den Unterricht zu | |
schicken, wenn diese dort eine Maske tragen sollen. Sie wollen weder ein | |
ärztliches Attest bringen noch dass ihre Kinder Gesichtsvisier tragen, sagt | |
Semar damals der Lokalzeitung Südwestpresse. Er habe versucht, mit ihnen zu | |
reden. „Aber nur ein Elternpaar war bereit dazu.“ | |
Im Oktober 2020 meldet sich das Ordnungsamt bei Semar: Eltern haben eine | |
„Mahnwache gegen die Maskenpflicht“ angekündigt – vor der Schule. Die zi… | |
daraufhin den Beginn der Herbstferien um einige Stunden vor – die Schüler | |
sollen mit der Aktion möglichst nicht konfrontiert werden. | |
Einer der Protestierenden ist Martin F.. Er betreibt eine Lackiererei im | |
Ulmer Umland. Für die Aktion hat er sich ein weißes T-Shirt mit der | |
Aufschrift „Maskenmahnwache“ angezogen. Er protestiere bereits „seit | |
mehreren Wochen“, sagt der Vater von vier Söhnen damals einer Reporterin | |
der Südwestpresse. Meist allein. Seine Kinder nähmen derzeit nicht am | |
Unterricht teil, weil sie die Masken nicht tragen. Auch Plastikschilder als | |
Alternative lehnt Färber ab: „Das ist diskriminierend für die Kinder, denn | |
es zeichnet sie als Maskengegner aus.“ Er und die anderen Eltern hätten | |
„Angst um die Gesundheit ihrer Kinder“, fürchten „neurologische und | |
kardiologische Schäden bis zum Tod“ durch das Maskentragen. | |
Heute will K. mit der Sache nicht mehr in Verbindung gebracht werden. „Das | |
war eine spontane Aktion, wir wollten unsere Kinder schützen“, sagt seine | |
Frau der taz am Telefon. Mit der Schule habe die Familie nichts mehr zu | |
tun. „Auf keinen Fall wollen wir unseren Namen in der Zeitung lesen.“ | |
Groß war die Gruppe der protestierenden Eltern nicht. „Vier oder fünf | |
Familien“, sagt Schulleiter Semar. Am Ende sei klar gewesen, dass „nicht | |
alle Eltern unsern Weg mitgehen“, sagt Semar. Es habe drei oder vier | |
Abmeldungen gegeben, die mit der Coronapolitik der Schule begründet worden | |
seien. Er habe mit mehr gerechnet. Tatsächlich seien aber 30 neue | |
Anmeldungen hinzugekommen. „Etliche haben gesagt, wir kommen zu Euch, weil | |
ihr da so klar wart.“ | |
Angelika Ott ist seit Jahrzehnten Förderlehrerin an der Römerstraße. Dass | |
sich die Coronadebatte derartig zuspitzen würde, hat sie so nicht kommen | |
sehen. „Im ersten Jahr war das ja auch alles neu.“ Das manche ein Attest | |
vorlegen würden, „ist ja auch klar.“ Letztlich habe aber die Mehrheit an | |
der Schule die Maßnahmen mitgetragen. | |
Entschieden hatte sich dies kurz vor den Sommerferien 2021, bei einer | |
Mitgliederversammlung der Schule, am 13. Juli. Es war auch eine Abstimmung | |
über den Kurs der Schulleitung pro Corona-Maßnahmen. Die Elternvertreterin | |
Koch wurde als neuer Vorstand gewählt. „Es gab auch andere Kandidaten, aber | |
man hat gemerkt, dass der Rückhalt für den Kurs die breite Mehrheit ist“, | |
sagt die Lehrerin Ott. Bis dahin sei sie sich nicht so sicher gewesen. | |
„Doch sonst wäre die Kollegin nicht wiedergewählt worden.“ | |
Die Waldorfschule am Illerblick liegt nur wenige Meter den Berg hinauf, auf | |
einem ummauerten Gelände voller Backsteingebäude. Bis 1990 waren darin | |
Kasernen der Bundeswehr. Damals war die Nachfrage nach Waldorfplätzen unter | |
Ulmer Eltern groß, auf dem Gelände an der Römerstraße aber kein Platz mehr. | |
Eine Gruppe von Lehrer:innen gründete die neue Schule in einem Teil der | |
verlassenen Kasernen. An der Römerstraße sah man das kritisch. „Es war | |
immer die Frage: Ist Ulm groß genug für zwei Waldorfschulen?“ sagt Dietmar | |
Schlecht-Nimrich, der seit der Schulgründung 1989 am Illerblick als Lehrer | |
arbeitet und heute im Vorstand der Schule ist. „Eine zeitlang ging es ganz | |
gut, dann mal wieder schwierig.“ | |
## Gut arrangiert | |
Heute sei in Ulm sogar noch Platz für zwei weitere Freie Schulen, sagt | |
Schlecht-Nimrich. Auch in Zukunft wird es wohl genug Schüler:innen für | |
beide geben: Das Bahnprojekt Stuttgart 21 verkürzt die Fahrzeit in die | |
Landeshauptstadt auf 20 Minuten, schon jetzt sind Grundstückspreise und | |
Mieten in Ulm deutlich gestiegen. Die Stadt erwartet die Ansiedlung vieler | |
neuer Familien. „Man spürt, dass da was kommt“, sagt Roland Zeller, der | |
Illerblick-Schulleiter, ein Verwaltungswirt. „Das wird auch ein Wandel. Die | |
neuen Eltern, die wollen ja auch was.“ Mehr Digitalisierung zum Beispiel. | |
Die Frage sei allerdings, inwieweit eine Waldorfschule „das einbringen | |
will, muss und kann.“ | |
Die beiden Schulen haben eine etwas unterschiedliche Zielgruppe: Am | |
Illerblick ist man konservativer, was die Steinersche Lehre angeht. So oder | |
so: „Mittlerweile sind wir ganz gut arrangiert“, sagt Schlecht-Nimrich über | |
das Verhältnis der Nachbarn. „Es gibt punktuell ganz gute Zusammenarbeit. | |
Wir benutzen deren Schmiede und die kommen zu uns zum Kupfertreiben.“ | |
Sein Chef Zeller kam erst während der Pandemie an die Schule, ist aber | |
schon seit seiner Kindheit begeisterter Antroposoph. „Mein Vetter hat vor | |
über 40 Jahren den elterlichen Bauernhof in einen Demeter-Hof umgewandelt“, | |
sagt er. „Die Leute im Ort haben gesagt, 'der bringt den Hof ‚runter‘, ab… | |
es ist einer der besten Höfe im Hohenlohischen geworden.“ Schon als | |
Jugendlicher sei er, Zeller, „fasziniert von der Waldorfbewegung“ gewesen. | |
„Was ist da mit dem Steiner, das wollte ich wissen, ich habe Bücher | |
gekauft.“ | |
Für Zeller ist es vor allem die Gemeinschaft, die die Waldorfschulen | |
ausmacht. Früher hätten sich die Gründer dieser Schule „jedes Wochenende | |
getroffen“, sagt er. Dieses „Ringen um den Einzelnen“, das sei noch | |
spürbar, es ziehe sich durch „bis zu den Schülern“. Und daran will er | |
festhalten. | |
Am 16. September 2021 verschärfte die Landesregierung von Baden-Württemberg | |
die Coronaverordnung. Seitdem galt „2G“ – ein Test reichte nicht mehr, | |
Veranstaltungen wie etwa Theateraufführungen durfte nur noch besuchen, wer | |
geimpft oder genesen war. Am Illerblick entschied man sich dafür, sie | |
lieber ausfallen als ohne die Ungeimpften stattfinden zu lassen. Man muss | |
dazu wissen, dass die Theateraufführungen zu den wichtigsten Dingen an den | |
Waldorfschulen überhaupt gehören. „Das ist ein ganz schöner Verlust. Da | |
haben einige ganz schön geschluckt“, sagt der Lehrer Schlecht-Nimrich. | |
Solange Ungeimpfte nicht zuschauen dürfen, sollte es am Illerblick kein | |
Theater mehr geben. „Die Gemeinschaft versucht immer, alle mitzunehmen“, so | |
sieht Zeller das. „Das erfordert eine gewisse Anstrengung, das kostet | |
Energie.“ | |
Dabei seien es nur „einige wenige“, die etwa mit dem Impfen Schwierigkeiten | |
hätten, sagt Zeller, wie in anderen Schulen und Behörden auch. | |
[2][„Impfskeptiker“ seien dies, keine Verweigerer.] Es gebe „einen | |
Prozentsatz, der andere Gesundheitsgrundsätze zur Immunisierung und eine | |
andere Beziehung zum eigenen Körper definiert,“ das sei rechtens, das wolle | |
er betonen. Freiheitsrechte dürften schließlich nicht einfach so | |
eingeschränkt werden. Alles andere führe nicht dazu, dass die Gesellschaft | |
„gesundet“, sondern dazu, dass sie radikaler wird. | |
Etwa die Randale in der Stuttgarter Innenstadt im Juli 2020, als Hunderte | |
Jugendliche unter Missachtung der Corona-Auflagen feiern und die Polizei | |
einschreitet. Solche „Anzeichen von Radikalität“ sehe er mit Sorge, sagt | |
Zeller. An seiner Schule wolle er so etwas vermeiden. „Der Friedenswille | |
ist einfach da. Jede Aggression würde einfach nur stören.“ Entsprechend | |
unruhig sei man angesichts einer möglichen Impfpflicht gewesen. Ungeimpfte | |
hätten sich gefragt, ob sie dann noch an der Schule arbeiten dürften. „Ich | |
bin gottfroh, dass dieser Kelch der Impfpflicht an uns vorüber gegangen | |
ist,“ sagt Zeller. | |
Man habe den Willen des Einzelnen zu respektieren, Impfskepsis inklusive, | |
solange es rechtlich erlaubt ist, so sieht er das. Gewiss, auch am | |
Illerblick hätten viele Mitarbeiter*innen hoch betagte Eltern, auch in | |
Pflegeheimen, und entsprechend Angst, dass diese an Corona sterben, ohne | |
begleitet werden zu dürfen. Es gebe Kinder „die mit dem Asthmaspray in der | |
Tasche zur Schule kommen“, wie Zeller sagt. Oder Familien mit älteren | |
Angehörigen in häuslicher Gemeinschaft – schließlich werde | |
„Familientradition in Waldorfgemeinschaften gut gepflegt“. | |
All diese hätten natürlich Sorgen, dass die Ansteckung über „Außenkontakte | |
in den Haushalt kommen kann“, sagt Zeller. Deshalb gehe die Schule, was das | |
Testen angehe, heute über die staatlichen Vorgaben hinaus. Und gleichzeitig | |
besteht er darauf, dass Mitarbeiter*innen und Eltern, die „zum Thema | |
Impfen eine kritische Meinung haben“, respektiert werden müssen. „Eine | |
Gesellschaft muss das tolerieren und Massnahmen ergreifen, damit es bei den | |
Betroffenen keine Gefährdung für sich selbst und keine für andere gibt.“ | |
Und für Zellers Schule hieß das eben: Keine Theateraufführungen mehr, „weil | |
wir nicht wollten, dass eine Minderheit ausgegrenzt ist“. | |
Nun ist es so, dass einer der Hauptverantwortlichen für die | |
Theateraufführungen der Lehrer Wilfried K. ist, den die Nachbarschule an | |
der Römerstraße entlassen hatte. Am Illerblick durfte er bleiben. „Er ist | |
eine wichtige Persönlichkeit in der Schule und ordnet sich bei uns dem | |
unter, was wir an Spielregeln haben,“ sagt Zeller. Soll heißen: Hier trägt | |
er Maske oder Visier. Zeller lobt ihn: „Er lebt für die Bühne, er brennt | |
für die Kultur und macht mit den Schüler*innen eine tolle Arbeit“, sagt | |
Zeller. Das sei bei seiner Darstellung in der Öffentlichkeit zu kurz | |
gekommen. | |
Zeller verweist auf Länder wie China, in denen „keine Meinungsfreiheit“ | |
herrsche. An seiner Schule sei das anders. Und deshalb darf K. auch nach | |
seiner Flugblattaktion weiter in der Abiturklasse Theater unterrichten. Die | |
habe er so weit gebracht, dass es die Aufführung hätte geben können. „Die | |
Pandemiebestimmungen haben das verhindert.“ | |
So fällt der Konsens in Sachen Corona am Illerblick sehr anders aus als | |
nebenan in der Römerstraße. „Wir haben hier auch eine Bandbreite von denen, | |
die sich Sorgen machen und denen, die das nicht so tun“, sagt der Lehrer | |
Schlecht-Nimrich. Doch er findet gut, dass an seiner Schule auch jene | |
integriert werden, die denken wie K. „Bei der Römerstraße hat man in der | |
Zeitung gesehen, was dort passiert ist. Da war das Tischtuch dann | |
zerschnitten.“ | |
K.s Klasse, die ihre Abitur-Theateraufführung nicht machen konnte, schrieb | |
im Mai 2021 ihre Klausuren. Eigentlich hätten alle vorher einen Coronatest | |
machen sollen. Wer dabei positiv war, hätte in Isolation gemusst und | |
entsprechend nicht mitschreiben können. „Es gab die Sorge, dass dann einige | |
mit dem Nachholtermin schwierigere Aufgaben bekommen“, sagt | |
Schlecht-Nimrich. „Also hat die Klasse beschlossen, dass sich niemand | |
testet.“ | |
Alle wollten gemeinsam zur Prüfung gehen, auch wenn sie sich gegenseitig | |
dabei anstecken. Zeller wertet das als Beleg für den Erfolg der | |
Erziehungsarbeit. „Es ist interessant, was in den Köpfen von Abiturienten | |
passiert, die in der Pandemie Gewissensentscheidungen treffen müssen. Der | |
Zusammenhalt in der Klasse, den sie hier 13 Jahre mitbekommen haben, zeigt | |
sich dann in der gezeigten, gelebten Solidarität,“ sagt Zeller. „Umgedrehte | |
Demokratie“ – die Mehrheit habe sich „der Minderheit gebeugt, um sie | |
mitzunehmen.“ | |
8 Apr 2022 | |
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Christian Jakob | |
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