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# taz.de -- Anthroposophisches Krankenhaus Havelhöhe: Alternativer Umgang mit …
> Ein schwurbelnder Chef und Tricksereien bei der Impfpflicht: eine
> taz-Recherche in der Klinik Havelhöhe in Berlin.
Bild: Ein Gebäude des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin
Nach zwei Jahren Pandemie stellt Prof. Dr. Harald Matthes seinem Haus ein
hervorragendes Zeugnis aus: „Gemessen an den Betten, an der Größe des
Krankenhauses haben wir eine überdurchschnittliche Versorgung
durchgeführt“, sagt er. Das Drei- bis Vierfache im Vergleich zu anderen
Schwerpunktkrankenhäusern. Und im hauseigenen Impfzentrum hätten sie
zeitweise mehr Impfungen durchgeführt als die großen Zentren der Stadt.
Matthes ist der Ärztliche Leiter des Krankenhauses im Berliner Südwesten,
gerade ist er im Urlaub, eine Woche Ski fahren, und nimmt sich trotzdem
Zeit für ein Gespräch. Matthes sitzt vor seinem Laptop in einem modernen
Hotelzimmer in Österreich und hält einen Monolog. Der Berliner Senat, die
Nachbarschaft, ganz Westberlin habe sich bei der Havelhöhe für die Arbeit
während der Pandemie bedankt.
Als im Herbst die Booster-Termine knapp wurden, konnte man in Havelhöhe
problemlos geimpft werden. Das sprach sich herum. Havelhöhe wurde in Berlin
zum Place to Booster. Ausgerechnet ein Krankenhaus der Anthroposophie, die
in der Pandemie [1][besonders in der Kritik stand und für die niedrige
Impfquote in Deutschland verantwortlich gemacht wurde].
Das Krankenhaus ist in der Pandemie in den Medien sehr präsent. TV-Teams
filmten auf der Intensivstation, Patient:innen wurden für
Zeitungsreportagen begleitet, Ärzt:innen auf Krankenhausfluren
interviewt. Man sei beim Zutritt nicht so streng gewesen wie andere Häuser,
gibt Matthes zu. Und so sind nun oft Bilder aus Havelhöhe zu sehen, wenn es
um Corona im Krankenhaus geht.
## Keine Kontrollen
Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe mit seinen 400 Betten hat eine
Doppelfunktion: Es ist ein gewöhnliches Akutkrankenhaus für die Menschen
der Gegend und zugleich eine von drei großen anthroposophischen Kliniken in
Deutschland. Besonders beliebt ist es bei Berliner Eltern, die ihren
Nachwuchs in einer angenehmen Atmosphäre zur Welt bringen möchten und dafür
weite Wege auf sich nehmen. Und jetzt wurde über Havelhöhe bundesweit
berichtet, als ein Ort, an dem die Coronapandemie besonders intensiv
bekämpft wird.
Ob das Krankenhaus Havelhöhe tatsächlich mehr geleistet hat als andere,
lässt sich nicht nachvollziehen, laut der Senatsverwaltung für Gesundheit
gibt es da keine Statistik. Der Umgang mit der Pandemie ist in dem
Krankenhaus jedenfalls längst nicht so vorbildlich, wie es bislang den
Anschein hatte. Mehrere Krankenhausmitarbeitende haben sich unabhängig
voneinander bei der taz gemeldet und gesagt: Hier läuft etwas schief. Sie
berichten von leitenden Ärzt:innen, die als [2][Impfgegner:innen]
auffallen, und einem schludrigen Umgang mit Coronaschutzmaßnahmen. Und von
einem Chef, der bei seinen Wutausbrüchen gegen die Politik fragwürdige
Vergleiche macht.
Wir haben in den vergangenen Wochen mit vielen weiteren aktuellen und
ehemaligen Mitarbeitenden des Krankenhauses – unter anderem Ärzt:innen
und Pflegepersonal – und Patient:innen gesprochen. Wir haben frei
verfügbare und interne Dokumente ausgewertet, an Veranstaltungen
teilgenommen und das Krankenhaus besucht. Die Recherche zeigt, dass der
Umgang mit Corona auch in der Klinik selbst auf Unverständnis stößt. Und es
wird ein systematisches Problem deutlich: Um die Einhaltung von zentralen
Schutzvorschriften muss sich jedes Krankenhaus selbst kümmern. Doch wenn
die Leitung eines Hauses offenbar manche Dinge für unwichtig erachtet,
scheint auch die zuständige Gesundheitsbehörde machtlos zu sein.
Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe liegt in Berlin-Kladow, am Rand der
Hauptstadt. Golfclub, Felder, eine Kaserne – gefühlt ist man schon in
Brandenburg. Ein weitläufiges Gelände direkt oberhalb des Steilufers der
Havel, viele Bäume, Parkplätze. In der NS-Zeit war in den Gebäuden eine
Luftwaffenakademie untergebracht.
Das Krankenhausgelände kann man einfach durch den Haupteingang betreten, es
gibt keine Kontrolle, niemand fragt nach einem Besuchsgrund oder einem
Coronatest. Direkt am Eingang sind die „HavelWolle“, ein Kleidungsgeschäft,
und ein Demeter-Hofladen samt Café. Auch eine kleine Buchhandlung gibt es
hier. Die Verkäuferin, die gerade mit einer Kundin spricht, hat keine Maske
auf, die Kundin auch nicht. Die beiden unterhalten sich über die Tochter
der Verkäuferin, ungeimpft, 11. Klasse, die nun in Quarantäne müsse, weil
jemand aus der Klasse infiziert war. „Was ein Zirkus.“
In der Buchhandlung stehen neben Pippi Langstrumpf und aktuellen
Bestsellern auch Bücher zur Coronapandemie im Regal. Etwa das schmale Werk
einer Anthroposophin, die behauptet, die Wundmale Jesu Christi zu tragen
und jahrelang keine Nahrung zu sich genommen zu haben. Ein Kapitel ihres
Buches heißt: „Die Impfungen gegen Sars-CoV-2 und der Plan der Schwarzen
Logen“.
In der Theorie gelten auch in Havelhöhe strenge Regeln: Besucher:innen
müssen eine FFP2-Maske tragen und einen tagesaktuellen Test vorweisen,
unabhängig vom Impfstatus. Maximal eine Stunde Besuch am Tag ist erlaubt.
Bei unserem nicht angekündigten Besuch im Krankenhaus Mitte Januar können
wir aber überall herumlaufen. In Haus 11, 1. Stock, Gynäkologie, sitzt eine
Frau ohne Maske am Empfang, dabei steht keine Plexiglasscheibe zwischen ihr
und den Besucher:innen. Auch in Haus 12 tragen die Frauen am Empfang keine
Maske, sie schauen nicht mal. Wir können durch die Gänge laufen, könnten
Patient:innenzimmer betreten. Eine Pflegerin eilt den Flur entlang
und verschwindet durch die nächste Tür. Wir können – in einem anderen Haus
– einfach so in die Station 15 laufen, die Entgiftungsstation. Hier bilden
die Patient:innen eine sogenannte Kohorte, müssen untereinander also
nicht auf Abstand achten oder Maske tragen und dürfen deshalb im Gebäude
gar keinen Besuch empfangen.
Beim Rundgang hält uns niemand auf. Niemand bittet uns, Daten in eine
Besuchsliste einzutragen. Niemand will einen Test oder Impfstatus sehen.
Dass man einfach so in ein Krankenhaus reinlaufen kann: „Das geht gar
nicht“, sagt Gudrun Widders, die Leiterin des zuständigen Gesundheitsamtes
Berlin-Spandau.
Krankenhauschef Harald Matthes versucht, sich rauszureden: Der freie Zugang
zu den Häusern sei nötig, weil es dort auch ambulante Praxen gebe. Drinnen
werde dann schon kontrolliert, von den Pflegenden oder Ärzt:innen. Das
passiert allerdings, wenn überhaupt, nur teilweise und sehr oberflächlich.
Eine Pflegekraft berichtet, es gebe von der Krankenhausleitung die
Anweisung, die Testergebnisse der Besucher:innen sporadisch zu
kontrollieren. Aber faktisch sei dafür gar keine Zeit.
Nicht nur bei den Zugangsregeln, auch bei der Behandlung von Covid-19 haben
sie in Havelhöhe eigene Vorstellungen. Zusätzlich zur normalen Behandlung
werden anthroposophische Mittel eingesetzt. In einem Behandlungskonzept
werden warme Ingwer- oder Senfwickel erwähnt. Und für
Risikopatient:innen wird als Therapie die Injektion von Meteorischem
Eisen in Kombination mit einem Präparat empfohlen, das Eisenphosphat und
Rinderlunge enthält – extrem verdünnt.
Einen wissenschaftlichen Beleg, dass diese Mittel helfen, gibt es nicht.
Die Anthroposophen berufen sich auf das, was der Esoteriker Rudolf Steiner
sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausgedacht hat.
Harald Matthes behauptet in Interviews, dass man auch wegen der
anthroposophischen Methoden solche Erfolge bei der Coronabekämpfung zu
verzeichnen habe. Aber sollte es im Krankenhaus Havelhöhe wirklich besser
laufen, dürfte das daran liegen, dass hier weniger schwere Fälle landen als
etwa in der Charité.
Matthes, Jahrgang 1961, hat das Krankenhaus 1995 mit gegründet. Inzwischen
ist der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie auch Professor,
an der Charité bekleidet er eine Stiftungsprofessur für Anthroposophische
und Integrative Medizin. Manche halten ihn für einen Visionär.
Nicht wenige auf der Havelhöhe sind der Meinung: Matthes ist ein Despot. Er
sei überheblich, cholerisch und persönlich beleidigend. Auch Mitarbeitende,
die ihn sehr schätzen, sagen: Der Chef polarisiert. Besonders mit den
Assistenzärzt:innen hat es immer wieder Ärger gegeben.
Dass Matthes gerne einmal mit Verve seine Meinung äußert, zeigt sich [3][in
einem Mitarbeiterrundbrief aus dem November 2021]. Darin lässt er sich
über angebliches Medienbashing aus und macht einen Vergleich mit der
NS-Zeit auf: „Die Projektion eigenen Versagens und Defizite auf elitäre
gesellschaftliche Gruppen hat in Deutschland Tradition und darf uns daher
als Anthroposoph*innen nicht verwundern.“ Die Coronamaßnahmen hat er
schon mehrfach öffentlich als überzogen bezeichnet. Im Brief kritisiert er
nun die Politik, die bei der Pandemiebekämpfung nur auf die Impfung setze
und alle Schuld bei den Impfverweigerern sehe. „Mit in der
Nachkriegsgeschichte nie gelebter Brutalität“, schreibt Matthes, „wird der
Frust der Gesellschaft auf eine Gruppe gelenkt, die nun für alles Leid
stehen soll. Diskriminierung in einer Deutlichkeit, die bei Gender- und
Ethnienfragen undenkbar wäre.“
In der Belegschaft kam dieser Rundbrief bei manchen nicht gut an. „Das war
ein Schlag ins Gesicht“, sagt eine Ärztin, die aus Angst vor beruflichen
Folgen wie auch andere Krankenhausbeschäftigte anonym bleiben möchte.
Es gibt eine Konfliktlinie im Krankenhaus. Die Leitungsebene besteht vor
allem aus überzeugten Anthroposoph:innen, aber weiter unten in der
Hierarchie arbeiten viele, für die es ein normaler Job ist, die mit der
Anthroposophie fremdeln. Diese Konfliktlinie war wohl noch nie so deutlich
wie jetzt, in der Pandemie. „Wir reißen uns den Arsch auf, und dann gibt es
eben viele Ärzte auf der Leitungsebene, die schwurbeln und sich nicht
impfen lassen“, sagt die Ärztin. Die Chef:innen würden ihrer
Vorbildfunktion nicht gerecht.
Matthes sagt, ihm sei nur ein leitender Arzt bekannt, der nicht geimpft
sei, der sei aber genesen. Dann sagt er aber auch, dass es noch nicht von
allen eine Rückmeldung gebe.
Er selbst sei geimpft und kein Impfverweigerer, sagt er, aber er hält eine
Impfung in vielen Fällen nicht für nötig. Bei Kindern, Jugendlichen und
jungen Erwachsenen spricht er sich im Prinzip für eine Durchseuchung aus.
Und es klingt auch etwas widerwillig, wie er in einer Mail seinem Personal
im Herbst eine Boosterimpfung ermöglicht.
Dass sich überzeugte Anthroposoph:innen impfkritisch äußern,
überrascht nicht. Es basiert auf der anthroposophischen Heilslehre:
Krankheiten soll man durchmachen, das ist wichtig für Körper und Seele,
weil dabei das Karma von Verfehlungen im vorherigen Leben gereinigt wird.
Dass ausgerechnet die anthroposophische Klinik Havelhöhe für ihr
Impfzentrum bekannt wurde, ist vor diesem Hintergrund überraschend. Matthes
betont, „dass die Impfung für Risikogruppen ganz klar eine positive
Wirksamkeit hat“. Insider vermuten, das Impfzentrum sei auch eine PR-Aktion
gewesen. Und eine willkommene Einnahmequelle. Inzwischen ist das
Impfzentrum geschlossen.
Nun wird die Frage, ob das Klinikpersonal selbst geimpft ist, drängend. Sie
hat Auswirkungen auf den Arbeitsalltag – und womöglich auf die
Arbeitsfähigkeit des Krankenhauses. Der Bundestag hat Ende vergangenen
Jahres eine [4][einrichtungsbezogene Impfpflicht] beschlossen. Alle
Beschäftigten in Pflegeheimen und Krankenhäusern müssen ab Mitte März gegen
Corona geimpft sein – sonst dürfen sie dort nicht mehr arbeiten.
Nur wollen sich aber nicht alle in Havelhöhe impfen lassen. Das betrifft
auch andere Kliniken, aber hier ist alles etwas komplizierter, weil eben
auch der Chef kein Impffan ist. Eine Impfpflicht lehnt er ab, auch die für
sein Personal.
Am 15. Januar erinnert Matthes seine Belegschaft in einer Rundmail, dass
das Krankenhaus den Impfstatus aller Beschäftigten erheben müsse, insgesamt
sind das gut 900 Personen. „Leider fehlen noch ca. 300 Meldungen, so dass
wir dringend bitten, dieses in den nächsten Tagen schnellstens
nachzuholen.“ Er bedankt sich für das Engagement und appelliert an aller
Solidarität.
Was er nicht schreibt: Lassen Sie sich halt bitte impfen.
Dafür lädt er zu einer Versammlung ein, die ausdrücklich jenen
Mitarbeitenden vorbehalten ist, die keinen Impf- oder Genesenennachweis
vorlegen können. Man wolle sich austauschen, „über die verschiedenen
Handlungsstränge, die in den nächsten Wochen möglich sind und welche
Konsequenzen diese jeweils haben“. Es sei das Anliegen der
Krankenhausleitung, keine Mitarbeitenden zu verlieren, man sei deshalb sehr
bemüht, „Lösungswege für jede/n Mitarbeiter:in auch in Einzelgesprächen
zu erreichen“.
Was soll das heißen?
Am 19. Januar kommen nach Schilderung von Teilnehmenden an die 80 Personen
in den großen Saal im Haus 28, direkt neben der Cafeteria. Es sind in der
Havelhöhe nicht unbedingt weniger Mitarbeitende geimpft als in anderen
Krankenhäusern; auch anderswo gibt es solche Versammlungen. Die Frage ist,
was sie erzählt bekommen. Statt, wie in anderen Krankenhäusern, die
ungeimpften Mitarbeiter:innen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen,
gibt es hier einen anderen Fokus: Es gibt Möglichkeiten, der Impfung erst
mal aus dem Weg zu gehen, Pflicht hin oder her.
Der taz liegt die Präsentation vor, die Matthes an diesem Tag hält. Auf 33
Folien gibt er einen Überblick über die rechtliche Grundlage der
einrichtungsbezogenen Impfpflicht und „Handlungsoptionen“. Von Pflegenden
wird er gefragt, wann sie denn kündigen müssten, um nicht von der
Impfpflicht betroffen zu sein.
Matthes nennt die Impfung nur als eine Möglichkeit von mehreren, etwa mit
dem neu zugelassenen Novavax-Impfstoff. Und er stellt die Option einer
„besonderen Impfung“ vor. Das könne ein „Dosissplitting mit
Frequenzerhöhung“ sein; es soll also weniger Wirkstoff geimpft werden,
dafür öfter.
Matthes behauptet im taz-Gespräch, das sei ein normales Vorgehen, er habe
das auch mit der Leiterin des Gesundheitsamtes besprochen. Gudrun Widders,
die auch Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist, bestreitet das.
„Es gibt keinen Impfstoff, der dafür zugelassen ist, und es entspricht in
keiner Weise der Stiko-Empfehlung“, sagt sie. „Mir sträuben sich die Haare,
wenn ich das höre.“
Es passiert nicht das erste Mal, dass sie sich auf der Havelhöhe offenbar
ihr eigenes Impfschema ausdenken. Einem auswärtigen Arzt war aufgefallen,
dass einem 15-Jährigen dort nur die halbe Menge der zugelassenen Dosis
geimpft wurde. Darüber hatte im Oktober [5][die Berliner Zeitung
berichtet]. Solche Off-Label-Impfungen sind prinzipiell möglich, aber nur
mit ausdrücklicher Einwilligung der Eltern. Die gab es hier offenbar nicht.
Die Havelhöhe entgegnet, dass keine Minderjährigen ohne Einverständnis der
Erziehungsberechtigten mit reduzierter Dosis geimpft worden seien. Es habe
stets einen medizinischen Grund gegeben.
Matthes stellt bei der Versammlung noch andere Optionen vor: Es sei
möglich, einen Genesenenstatus zu erlangen oder gegen die Impfpflicht zu
klagen, diesen Weg erklärt er ausführlich. Es gebe mit dem Beginn der
Impfpflicht im Krankenhaus auch kein automatisches Betretungs- oder
Tätigkeitsverbot für die Beschäftigten. Da müsse sich erst mal das
Gesundheitsamt melden.
Eine weitere Möglichkeit: ein Attest als Bescheinigung, dass man gegen
einen der Hilfsstoffe der Vakzine allergisch sei, sich deshalb nicht
impfen lassen könne und somit weiter beschäftigt werden dürfe. Ein
einfaches Attest ohne Verweis auf eine anerkannte Kontraindikation reiche
aber nicht aus, heißt es in der Präsentation, gleichsam als Warnung. Und:
Die Atteste würden vom Gesundheitsamt geprüft.
Es lässt sich anhand der schriftlichen Präsentation nicht schildern, was
genau bei der Versammlung gesagt wurde. Der Berliner Kinder- und
Jugendmediziner Martin Terhardt, der auch Mitglied der Stiko ist, hat sich
die fraglichen Folien angeschaut und meint: „Ich habe einige Zweifel, dass
Ungeimpfte korrekt informiert wurden.“
Derzeit hat das Krankenhaus Havelhöhe das Problem, dass in der aktuellen
Omikron-Welle viele Mitarbeitende von Corona betroffen sind. Ende Januar
waren bereits gut ein Viertel der Pflegekräfte in Quarantäne, wie die
Klinik mitteilte. Es mussten schon Betten auf verschiedenen Stationen
geschlossen werden. „Wenn die Impflicht kommt, haben wir akuten
Personalmangel“, sagt ein Oberarzt. Seine Station musste schon 2020 wegen
eines Corona-Ausbruchs geschlossen werden. Er wisse von vier oder fünf
Pfleger:innen auf seiner Station, die sich nicht impfen lassen wollten.
Wie sollten sie dann bitte schön noch arbeiten? Jetzt schon könnten sie nur
18 von 30 Betten belegen, sagt er.
In den vergangenen zwei Pandemiejahren wurden in der Klinik immer wieder
Stationen wegen Corona-Ausbrüchen geschlossen, zuletzt wohl im Herbst.
Stationsschließungen gab es auch in anderen Krankenhäusern. In Havelhöhe
sehen manche Mitarbeitende als Grund für die Schließungen, dass die
Coronaschutzregeln nicht eingehalten wurden. So hätten etwa viele
Mitarbeitende einen eher laxen Umgang mit Masken, besonders wenn sie in
Pausen in engen Räumen zusammensäßen.
Eine Pflegefachkraft hat nach eigenen Angaben schon vor Monaten telefonisch
das Gesundheitsamt über die Zustände informiert, nachdem sie bei ihren
Vorgesetzten kein Gehör gefunden habe. Krankenhaus-Chef Matthes sagt: „Ich
kann nur etwas sagen, wenn ich jemanden sehe. Und ich sehe keinen bei mir
im Krankenhaus, der ohne Maske rumläuft.“
Andere Krankenhäuser in Berlin, etwa die Charité oder das Virchow-Klinikum,
nehmen die Sache ernster. Auch hier machen wir einen Testbesuch. Viele
Eingänge sind geschlossen, um die Zugangsmöglichkeiten übersichtlich zu
halten. An jedem einzelnen Hauseingang steht Sicherheitspersonal. Die
Charité hat zuletzt ein komplettes Besuchsverbot verhängt, das sogar im
Freien gilt.
Im Krankenhaus Havelhöhe hingegen: Livemusik. An einem Sonntagmorgen im
Januar findet ein Neujahrskonzert statt. Spanische Klassik und
argentinischer Tango. Patient:innen sind gekommen und auch
Besucher:innen von außerhalb. Bei der Sieben-Tage-Inzidenz gibt es fast
täglich neue Rekorde, in Berlin liegt sie gerade bei 1.024. Seit dem Vortag
gelten daher strengere Maßnahmen: Bei Veranstaltungen ab zehn Personen im
Innenraum gilt 2G+ und Maskenpflicht – auch am Platz.
Mit flüchtigem Blick überprüfen drei ältere Damen am Eingang des Saals die
negativen Testergebnisse. Sie sind dabei nicht ganz so streng und erlauben
auch einer ungetesteten Frau, sich an den Rand zu setzen. Bei der Begrüßung
teilte die Organisatorin des Konzerts mit, dass die Masken am Platz gerne
abgenommen werden dürfen. Eine Stunde lang spielen die zwei Musiker:innen,
Geige und Flamencogitarre. Von den 33 Anwesenden tragen nur drei ihre
Maske während des Konzerts über Mund und Nase.
Zur Erinnerung: Wir sind in einem Krankenhaus, in dem sich viele Menschen
aufhalten, für die eine Covid-19-Erkrankung besonders schwere Folgen hätte.
Gudrun Widders ans Telefon zu bekommen ist in diesen Tagen nicht leicht.
Aber dann erklärt die Leiterin des Gesundheitsamts Spandau gerne
ausführlich, dass sie gerade völlig überlastet sind.
Zu der Beschwerde der Pflegekraft gebe es keinen schriftlichen Vorgang. Das
sei bei telefonischen Hinweisen auch nicht üblich. Ihnen werde aber stets
nachgegangen, sagt Widders. Überhaupt sei erst mal der Krankenhausbetreiber
verantwortlich. Für die täglichen Tests des Personals etwa seien die
Vorgesetzten zuständig, da werde nichts an das Gesundheitsamt gemeldet.
Auch bei der kommenden Impfpflicht für Krankenhauspersonal sei zunächst der
Arbeitgeber in der Verpflichtung. Ungeimpfte Personen sollen ans
Gesundheitsamt gemeldet werden, dort soll das dann überprüft werden. Es
wird auf die Ämter abgewälzt, so sieht es Widders. Sie hätten gar keine
Kapazitäten dafür.
Im Herbst, berichtet Widders, hätten sie nach einem Jahr pandemiebedingter
Pause endlich wieder die jährliche Krankenhausbegehung in Havelhöhe machen
können. Zwei bis drei Mitarbeitende aus dem Gesundheitsamt, der Ärztliche
Leiter, Vertreter:innen der Krankenhaushygiene. Es ging nicht speziell
um Corona, sondern allgemein um die Frage: Werden hier alle Vorschriften
eingehalten? Sie seien drei Tage vor Ort gewesen und hätten sich alles
zeigen lassen, sagt Widders. Es habe keine gravierenden Beanstandungen
gegeben.
4 Feb 2022
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Sebastian Erb
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