# taz.de -- Anthroposophische Medizin an der Charité: Die gekaufte Professur | |
> Warum hat die Berliner Charité eine Professur für Anthroposophie? Interne | |
> Unterlagen zeigen, wie sich die Pseudomedizin an der Uniklinik einkaufte. | |
Bild: An einer der renommiertesten Universitätskliniken hat sich die Anthropos… | |
Wer sich über die „Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische | |
Medizin“ an der Berliner Charité informieren will, dem lächelt ein | |
grauhaariger Mann im Poloshirt [1][von der Website der Universitätsklinik] | |
entgegen. Er heißt Harald Matthes, leitet das Gemeinschaftskrankenhaus | |
Havelhöhe und forscht zur Behandlung von Krebs mit Mistelpräparaten. Er ist | |
auch Präsident der Deutschen Akademie für Homöopathie und Naturheilkunde, | |
heißt es auf der Webseite. Was dort nicht steht: wer die Stiftungsprofessur | |
eigentlich mit wie viel Geld finanziert. In anderen Fällen listet die | |
Charité diese Informationen detailliert auf. Und selbst auf Nachfrage | |
macht die Charité um diese Professur ein großes Geheimnis. | |
Die Anthroposophie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Rudolf Steiner | |
erfunden. Der spirituelle Lehrer war der Überzeugung, dass Krankheiten in | |
vorherigen Leben ausgelöst werden und Pflanzen durch ihre Wesenskraft | |
heilen. Die Wirksamkeit von anthroposophischen Mitteln ist wissenschaftlich | |
bis heute nicht belegt. Die Charité hingegen ist eine der renommiertesten | |
Universitätskliniken Europas, viele deutsche Nobelpreisträger:innen | |
haben an ihr geforscht. Warum gibt es hier überhaupt eine Professur für | |
„Anthroposophische Medizin“? | |
Der taz liegen interne Unterlagen über die Einrichtung und Verlängerung der | |
Stiftungsprofessur vor, darunter Verträge, Briefe, E-Mails und | |
Sitzungsprotokolle. Diese wollte die Charité lange nicht herausrücken, die | |
taz hat den Antrag auf Einsicht auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes | |
bereits im März 2022 gestellt. Die Charité gab erst klein bei, als die taz | |
vor Gericht zog. Auch wenn vieles in den Dokumenten geschwärzt ist, lässt | |
sich nachzeichnen, wie sich die Anthroposophie in eine der angesehensten | |
Unikliniken eingekauft hat – und damit einen Haken auf der To-do-Liste | |
ihres „Masterplans“ machen konnte. Dieser sieht vor, die Anthroposophie | |
durch Lehrstühle an Universitäten zu legitimieren. | |
Es war schon bekannt, dass die anthroposophische Software-AG-Stiftung aus | |
Darmstadt die Professur finanziert. Was bisher verschwiegen wurde: Anfang | |
2022 hat die Charité die Professur um fünf Jahre verlängert. Das wurde nie | |
öffentlich kommuniziert und passierte ausgerechnet zu einer Zeit, [2][als | |
die taz eine Recherche über Missstände in Matthes’ Krankenhaus | |
veröffentlichte] und der Professor an einer Studie über Impfschäden durch | |
die Corona-Impfung arbeitete, von der sich die Charité kurz darauf | |
distanzierte. | |
Am Dienstag vergangener Woche hat die taz der Pressestelle der Charité | |
Nachfragen zu der Angelegenheit geschickt. Die Pressestelle hat diese | |
Fragen nach mehrfacher Bitte um Fristverlängerung nicht beantwortet. Sie | |
verweist auf eine angebliche Vertraulichkeit und betont, dass alle Regeln | |
eingehalten wurden. Matthes reagierte überhaupt nicht auf eine taz-Anfrage. | |
## Die Stiftung hatte Geld und Geduld | |
Die Einrichtung der Stiftungsprofessur hatte einen langen Vorlauf: Im | |
Dezember 2010 bietet die Software-AG-Stiftung der Charité nach einem | |
Gespräch an, eine anthroposophische Professur zu finanzieren, so steht es | |
in den der taz vorliegenden Dokumenten. Die Stiftung schreibt auf ihrer | |
Internetseite, mit ihrem Geld die „Akademisierung der Anthroposophischen | |
Medizin“ voranbringen zu wollen. Eine Professur an einer berühmten | |
Institution wie der Charité erscheint da wohl wie ein Hauptgewinn. 250.000 | |
Euro pro Jahr stellt die Stiftung der Charité dafür in Aussicht. | |
Dieses Geld zu investieren ist der Stiftung offenbar so wichtig, dass sie | |
über fünf Jahre bei der Charité um die Professur wirbt. Als es ihnen nicht | |
schnell genug geht, schreibt die Projektleiterin im Dezember 2016 scharfe | |
Mails an die Charité: Sie seien „ziemlich irritiert und entsprechend | |
verärgert“. Man würde sich freuen, „wenn diese unendliche Geschichte | |
endlich einen positiven Abschluss finden kann“. | |
Eine Vorstellung, wer diese Professur antreten könnte, hat die Stiftung | |
offenbar schon früh – obwohl Professuren eigentlich nicht „ad personam“, | |
also auf eine Person zugeschnitten, ausgeschrieben werden dürfen. Im Mai | |
2012 schlägt sie vor, das anthroposophische Krankenhaus Havelhöhe in Berlin | |
mit einzubeziehen. Es würde dafür einen klinischen Bereich zur Verfügung | |
stellen. Darüber hatte man sich offenbar schon ausgetauscht. | |
Der Vertrag über die „Einrichtung einer W2-Stiftungsprofessur auf Zeit für | |
fünf Jahre“ ist auf den 15. April 2015 datiert. Darin ist auch | |
festgehalten, dass die Charité darauf hinweisen muss, dass die Professur | |
von der Software-AG-Stiftung finanziert wird. Was sie dann aber nicht | |
macht. | |
Zu diesem Zeitpunkt ist die Professur bereits öffentlich ausgeschrieben. In | |
der Ausschreibung sind sehr spezielle Anforderungen formuliert: Gewünscht | |
sind unter anderem Expertise in der Gastroenterologie und Onkologie sowie | |
Forschungsinteresse für chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Das sind | |
zufälligerweise die Spezialisierungen, die der ärztliche Leiter des | |
Krankenhauses Havelhöhe vorzuweisen hat: Harald Matthes. | |
Matthes landet als „primo et unico loco“ auf der Berufungsliste, also als | |
erstplatzierter und einziger Kandidat. Ob sich überhaupt noch jemand | |
anderes auf die Professur beworben hat, möchte die Charité nicht | |
beantworten. Normalerweise stehen auf einer Berufungsliste drei Personen, | |
es sei denn, die Anforderungen an die Professur sind zu nischig. Als im | |
Fakultätsrat über die Besetzung der Professur abgestimmt wird, braucht es | |
zwei Wahlgänge, weil die nötige Mehrheit bei der ersten Abstimmung nicht | |
erreicht wird. Im März 2017 wird Matthes schließlich als Professor an die | |
Charité berufen. Für die Anthroposoph:innen hat das historische | |
Bedeutung: „Es kommt einem Ritterschlag für die Anthroposophische Medizin | |
gleich“, heißt es in einer Chronologie des Dachverbandes. | |
## Ein Professor mit Sonderwünschen | |
Vor seiner Berufung hat Harald Matthes sich noch eine Besonderheit | |
ausgehandelt: Er möchte Chefarzt in Havelhöhe bleiben, weshalb er sich | |
formal am ersten Tag seiner Professorenkarriere an der Charité für fünf | |
Jahre beurlauben lässt. Dieses Konzept nennt sich „Jülicher Modell“. Hara… | |
Matthes ist nicht der Erste, der seine Professur in dieser Form ausübt. | |
Unüblich aber ist die Kooperation mit einem privaten Krankenhaus, | |
normalerweise wird die Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen | |
vereinbart. | |
Matthes’ Arbeitgeber, das Krankenhaus Havelhöhe, profitiert dadurch auch | |
finanziell von dem Deal. Die Charité überweist nämlich einen großen Teil | |
des Stiftungsgeldes nach Havelhöhe – in den Unterlagen ist die Rede von | |
einem Betrag in Höhe eines W2-Gehaltes. Der damalige Dekan der Charité, | |
Axel Radlach Pries, nennt Matthes’ Wünsche in einem Schreiben „ungewöhnli… | |
und über bisherige Modelle von Stiftungsprofessuren an der Charité | |
hinausgehend“. | |
Auch unüblich ist, dass Harald Matthes laut dem internen | |
Lehrveranstaltungsverzeichnis keine Kurse an der Charité gibt, obwohl der | |
der taz vorliegende Vertrag neun Semesterwochenstunden Lehre festschreibt. | |
Beim Jülicher Modell sind zwei Stunden Lehre pro Woche die Regel. | |
Harald Matthes ist also bei der Sache der große Gewinner: Er bekommt einen | |
Professorentitel ohne viele Verpflichtungen, während gleichzeitig Geld an | |
sein Krankenhaus fließt. | |
Was hat aber die Charité davon? Im Vertrag über die Einrichtung der | |
Professur heißt es, dass so neue Aspekte in die Forschung, Lehre und | |
Krankenversorgung fließen sollen. Matthes selbst gibt sich überzeugt, dass | |
er zum wissenschaftlichen Fortschritt der Institution beiträgt. Bevor seine | |
Professur nach fünf Jahren ausläuft, bittet er im August 2021 um | |
Verlängerung. „Ich möchte darauf hinweisen, dass meine Arbeiten und | |
Ergebnisse in Forschung, Lehre und klinischer Versorgung zu internationaler | |
Anerkennung geführt und zur Reputation der Charité beigetragen haben“, | |
schreibt er. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er an der sogenannten | |
ImpfSurv-Studie, für die Menschen mit einem Onlinefragebogen zu möglichen | |
Nebenwirkungen durch die Corona-Impfung befragt werden. Er bekommt dafür | |
viel Aufmerksamkeit in den Medien. | |
## Mangelhafte Forschung | |
Im April 2022 etwa taucht Matthes im MDR-Fernsehen auf, sein Name wird | |
eingeblendet, darunter „Charité Berlin“. Er präsentiert die | |
Zwischenergebnisse seiner Studie: Die schweren Nebenwirkungen seien viel | |
häufiger, als das für Impfstoffe zuständige Paul-Ehrlich-Institut angeben | |
würde. Nur: Das kann man so gar nicht sagen. | |
[3][Die Studie hat methodische Mängel, die Charité distanziert sich von den | |
Aussagen ihres Professors]. Personen hätten doppelt an der Befragung | |
teilgenommen, und ohne die Beurteilung einer Ärzt:in auf einen | |
Zusammenhang zwischen Symptomen und Impfung zu schließen sei nicht | |
wissenschaftlich. Die Studie wird abgebrochen. | |
Davor, als die Studie noch lief, hat sich die Evaluierungskommission | |
mehrmals getroffen, um über die Verlängerung der Stiftungsprofessur zu | |
beraten. Sie hat dabei „alle Leistungen Prof. Matthes eingehend geprüft“. | |
Was genau die Kommission festgehalten hat, ist nicht bekannt. Das der taz | |
herausgegebene Dokument ist großflächig geschwärzt. | |
Fest steht: Im Februar 2022 stimmt die Kommission für die Verlängerung um | |
weitere fünf Jahre. Die Anthroposophie darf ihre Professur an der Berliner | |
Charité bis mindestens 2027 behalten. Die anthroposophische Stiftung | |
überweist dafür nun 293.000 Euro im Jahr. | |
28 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://epidemiologie.charite.de/metas/person/person/address_detail/prof_dr… | |
[2] /Anthroposophisches-Krankenhaus-Havelhoehe/!5830435 | |
[3] /taz-Recherchen-2022/!5901146 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
Sophie Fichtner | |
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