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# taz.de -- Ende der telefonischen Krankschreibung: Hallo, einmal Attest bitte
> Lindner fordert die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung.
> Durchseuchte Wartezimmer sind aber eine größere Gefahr für die
> Volkswirtschaft.
Bild: Seit Dezember 2023 kann man sich telefonisch krankmelden
Die erst im Dezember 2023 eingeführte Möglichkeit der telefonischen
Krankschreibung unter bestimmten Voraussetzungen (leichte Symptome, kein
Neupatient) steht bereits wieder auf dem Prüfstand. Während Ärzte die
Maßnahme überwiegend als Entbürokratisierung begrüßen, wollen
Konjunkturexperten errechnet haben, dass die Wirtschaft ohne den in
Deutschland im internationalen Vergleich sehr hohen Krankenstand im
vergangenen Jahr [1][nicht um 0,3 Prozent geschrumpft wäre], sondern um 0,5
Prozent gewachsen.
Und wo Finanzminister Lindner (FDP) eine Zahl mit einem Plus davor sieht,
und sei diese auch noch so klein, fällt er sofort in hektische
Betriebsamkeit. [2][Missbrauch riechend], fordert er eine Abschaffung der
telefonischen Krankschreibung. Dabei wolle er „niemandem vorwerfen, die
Regelung auszunutzen“.
Doch, will er. Dabei gibt es so viele Krankheiten, die zwar den Gang zur
Arbeit nicht zulassen, aber eine ärztliche Diagnose nicht wirklich
erfordern: Erkältungen, Magen-Darm-Viren, all diese kleinen Malaisen, die
nichts außer Zwieback, Kamillentee und Bettruhe nötig machen.
Was niemandem nützt, ist jedoch ein Kriechgang auf dem Zahnfleisch ins
Büro, wo man dann den Rest der Belegschaft auch noch mit ins Verderben
zieht. Wenn die Pandemie zu etwas gut war, dann war es sicher eine erhöhte
Sensibilität für den Komplex „gesellschaftliche Verantwortung und
Ansteckungsgefahr“.
## Mehr Zeit für Pestpatienten
Und was ebenfalls niemand braucht, ist ein unnötiger Besuch bei der
Allgemeinärztin, die nichts ausrichten kann, außer besagte Teechen
anzuraten, und der nunmehr die Zeit für Krebs-, Pest- und
Magendurchbruchspatientinnen fehlt.
Sagen wir es, wie es ist: Lindner möchte anscheinend, dass diese Leute
sterben, da sie für die deutsche Wirtschaft ohnehin nicht mehr genügend
leisten. Doch was auf den ersten Blick in all seiner Perfidie doch immerhin
aus seiner Sicht wie ein kluger Schachzug wirkt, entpuppt sich auf den
zweiten als formidables Eigentor.
Denn nicht nur, dass echte Kranke, die ja keinen Termin machen können, und
daher in den mit Viren, Bakterien, Milben, Flöhen, Läusen und anderen
Patienten durchseuchten Wartezimmern umso länger warten müssen, durch diese
Tortur weiter geschwächt werden und damit den Heilungsverlauf verzögern,
was die Volkswirtschaft im Ausmaß eines kleineren Bürgerkriegs schädigt.
Nein, diese de facto Lazarettsituation zieht natürlich noch eine weitere
Negativspirale nach sich.
Denn so gestaltete sich der Kreislauf der Natur vor der telefonischen
Krankschreibung: Die echten Kranken steckten in der Arztpraxis die anderen
echten Kranken mit einer zweiten Krankheit an, und umgekehrt genau so die
anderen echten die ersten echten. Die unechten Kranken, die mit ihrer
unechten Krankheit nur einer Krankschreibung wegen gekommen waren, wurden
wiederum von den echten Kranken im Wartezimmer erst einmal mit einer echten
Krankheit infiziert. Lediglich die Kombination unechter Kranker versus
unechter Kranker blieb vergleichsweise folgenlos.
## Betrugsvorwürfe und Simulantenbashing
Die aber ist gar nicht mal so häufig, wie die Kritiker der Regelung zu
denken scheinen: „Die Unterstellungen, dass sich die Menschen mithilfe der
Telefon-AU einen schlanken Fuß machen, können wir aus unserer täglichen
Arbeit nicht bestätigen“, sagt die Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und
Hausärzteverbands, Nicola Buhlinger-Göpfarth. Auch der Präsident der
Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sieht keine Korrelation zwischen
erhöhten Krankenständen und der telefonischen Krankschreibung.
Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen
Arbeitgeberverbände, sieht hingegen „ungerechtfertigte Praktiken von
digitalen Geschäftemachern“ am Werk. Verschwörungsgeraune, Betrugsvorwürfe
und Simulantenbashing allerorten.
Doch wie stellen sich Lindner und Konsorten das eigentlich vor? Dass
Arbeitsunwilligen die Aussicht auf ein paar süße Tage der Frei(h/z)eit
nicht die paar Stunden Sitzfleischprobe wert sein wird? Oder dass der
weißbärtige Arzt (zwei Meter siebzehn, hundertzwanzig Kilo) mit einem
stechenden Blick irgendwo zwischen Zeus und Nikolaus den falschen Kranken
entlarvt, und mit donnernder Stimme zur Räson ruft, ein Appell an seine
Verantwortung als Dienstameise? Und der Ertappte daraufhin weinend gesteht
und auch die für diesen Termin geschwänzte Arbeitszeit nacharbeitet?
Und natürlich benötigt man kein Telefon für eine gefakte Krankheit. [3][Den
berühmten „Krankschreibearzt“] gab es auch vorher schon, entsprechende
Adressen laufen seit jeher unter der Hand. Ganz davon abgesehen, dass auch
die regulären Ärztinnen Besseres zu tun haben, als mit eventuell nicht ganz
so Kranken um den digitalen gelben Zettel zu ringen. Umso mehr, wenn ihre
Praxis von solchen Kandidaten in Zukunft wieder zunehmend überrannt wird.
28 Oct 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Uli Hannemann
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