# taz.de -- Coronamythen und Beziehung: Liebe in Zeiten der Desinformation | |
> Ein Mann hat in der Pandemie seine Frau an die Verschwörungsszene | |
> verloren. Was macht das mit der Liebe? | |
Simon* sieht müde aus. Zugleich wirkt er aufgekratzt, fahrig, zerstreut. Er | |
sitzt in einem kahlen Raum mit hohen Decken. Es zieht, die Luft ist kühl. | |
Es ist Ende Februar 2021, die 7-Tage-Inzidenz in Hessen liegt bei 57,3, | |
aber Simon hat einem persönlichen Treffen in den Räumlichkeiten seines | |
Arbeitgebers trotzdem zugestimmt. Weil es ihm nicht gut geht, weil er weiß, | |
dass er mit seinem Problem nicht alleine ist, und weil er anderen | |
Betroffenen gerne helfen würde, wie er sagt. | |
Die anderen Betroffenen sind wie er kaum gesehene Opfer der Pandemie. | |
Menschen, die in keiner Statistik auftauchen. Menschen, die enge Angehörige | |
nicht an das Coronavirus verloren haben, sondern an ein soziales Phänomen, | |
das man als gesellschaftlichen Kollateralschaden der Krise betrachten kann: | |
den Glauben an Verschwörungserzählungen. | |
Im Fall von Simon ist es seine Frau, die ihre gemeinsame Wirklichkeit | |
verließ und in die Welt der Verschwörungsideolog:innen eintrat. Weil | |
er an der Beziehung festhält und sie nicht gefährden will, hat er darum | |
gebeten, sie nicht zu befragen. Sie soll nicht erfahren, dass er mit einer | |
Journalistin spricht. Es kann deshalb nur seine Perspektive abgebildet | |
werden. Um die Anonymität des Paares zu wahren, ist sein Name in diesem | |
Text geändert. | |
Als Simon im Februar 2021 der taz zum ersten Mal die Geschichte von sich | |
und seiner Frau erzählt, sind sie seit sechs Jahren ein Paar. Mit Ende 20 | |
lernten sie sich über eine Partnerbörse kennen. Heute sind sie Mitte 30 und | |
leben in einem Einfamilienhaus in einer mittelgroßen Stadt in Hessen. Simon | |
hat eine Tochter aus erster Ehe, im Mai 2019 bekamen seine Partnerin und er | |
noch ein Kind. Er arbeitet im sozialen Bereich mit Jugendlichen, sie ist | |
Erzieherin für kleinere Kinder. | |
Wenn Simon von seiner Frau spricht, ist da kein Groll. Immer wieder betont | |
er, wie sehr ihm an der Beziehung zu ihr und ihrer kleinen Familie gelegen | |
ist. Aber ein Gefühl ist ihm bei dem ersten Treffen deutlich anzumerken: | |
Verzweiflung. | |
Damit ist Simon nicht allein. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der | |
Anfragen bei den Beratungsstellen enorm gestiegen, wie der taz von vier | |
angefragten Stellen bestätigt wird, darunter eine evangelische, zwei | |
staatliche und eine gemeinnützige Organisation. Laut der staatlichen | |
Sekten-Info NRW stellten im ersten Pandemiejahr 2020 viermal so viele | |
Menschen eine Anfrage zum Thema Verschwörungsglauben als davor, Stand | |
Februar 2021. Die Sekten-Info Berlin gab an, bei ihnen habe sich die Zahl | |
sogar versechsfacht, von sechs Anfragen 2019 zu 40 im Jahr 2020. | |
Auch Oliver Koch bekommt seit der Coronakrise mehr solcher Anrufe. Er ist | |
Pfarrer und Referent für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche. | |
Der taz erzählt er, zu Beginn seien es noch vermehrt Neugierige gewesen, | |
die im Netz auf Verschwörungserzählungen gestoßen sind und von den | |
Berater:innen wissen wollten, was es damit auf sich hat. | |
Doch mit der Zeit meldeten sich immer mehr Angehörige, die sich nicht mehr | |
zu helfen wussten. Weil jede Unterhaltung im Streit über Wahrheit und | |
Unwahrheit endet, weil die Nähe zur geliebten Person mit jeder neuen | |
Coronamaßnahme abnimmt. Simon ist einer dieser Angehörigen, die Pfarrer | |
Koch kontaktierten. | |
[1][Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021] hält fest, dass 5 | |
Prozent der Bevölkerung in Deutschland der Aussage: „Das Coronavirus ist | |
nur ein Vorwand, um Menschen zu unterdrücken“, komplett zustimmen, 9 | |
Prozent halten sie für „wahrscheinlich wahr“. Das entspricht | |
zusammengenommen etwa 11,2 Millionen Menschen. Nur ein Bruchteil von ihnen | |
nimmt Hilfe in Anspruch. Das könnte zum einen daran liegen, dass es | |
bundesweit mit [2][rund 40 kirchlichen und staatlichen Hilfsangeboten] in | |
Relation zur Zahl der Betroffenen nicht viele von ihnen gibt. Zum anderen | |
haben betroffene Verschwörungsgläubige selbst meist kein | |
Problembewusstsein, und ihre Angehörigen wiederum befürchten, ein Hilferuf | |
könne die Beziehung weiter belasten. | |
Auch Simon tut sich lange schwer damit, sich jemandem anzuvertrauen. Alles | |
beginnt an einem Tag im Jahr 2017, drei Jahre vor der Pandemie. Simon und | |
seine Freundin sitzen im Auto auf dem Weg nach Hause. Es ist Abend, sie | |
sprechen über das geplante gemeinsame Kind. Die Stimmung ist gut, erzählt | |
Simon, bis es um das Thema Impfen geht. | |
Simon sagt, seine Tochter aus erster Ehe sei als Säugling geimpft worden, | |
fragt seine Freundin, ob für sie etwas dagegenspreche. Sie behauptet, wenn | |
er ihr gemeinsames Kind ebenfalls impfen lassen wolle, nehme er dessen | |
Vergiftung in Kauf, Impfstoffe schädigten das Gehirn kleiner Kinder. Sie | |
werden sich an diesem Abend nicht einig. | |
In den nächsten Tagen und Wochen kommt das Thema immer wieder auf, sie | |
wirft ihm vor, er sei nicht informiert, und zeigt ihm eine Zeitschrift mit | |
dem Titel Impf-Report, die sie im Internet bestellt hat. „Das ist nicht | |
irgendwer, der das schreibt. Das ist ein Journalist, der sich auskennt“, | |
sagt sie, wie sich Simon später erinnert. | |
Urheber des Impf-Reports ist laut Impressum Hans U. P. Tolzin. Der in | |
Baden-Württemberg ansässige Autor veröffentlicht die Zeitschrift seit über | |
zehn Jahren im nach ihm benannten Selbstverlag und betreibt neben dem | |
Impf-Report-Magazin und der dazugehörigen Website die Seite impfkritik.de. | |
Er bezeichnet sich selbst als „Medizin-Journalisten“, der „unabhängige | |
Impfaufklärung“ betreibe, tatsächlich aber verbreitet er Desinformation | |
über alle möglichen Impfungen für Mensch und Tier. | |
Im Editorial der 129. Ausgabe im Mai 2021 schreibt Tolzin: „Liebe Leser, | |
eigentlich wissen wir schon eine ganze Menge über die neuen | |
Corona-Impfstoffe: Z. B., dass es sich nicht wirklich um Impfstoffe | |
handelt, sondern um eine völlig neuartige und ungetestete Therapieform, die | |
in das Genom des Menschen eingreift und dass alle Geimpften | |
Versuchskaninchen der Hersteller darstellen.“ Dass mRNA-Impfstoffe das | |
Erbgut verändern, ist insbesondere unter Verschwörungsgläubigen eine weit | |
verbreitete Behauptung, [3][für die es keine wissenschaftliche Grundlage | |
gibt.] | |
## Sie mag Netflix gucken, er Spiegel TV | |
Schon damals, als es darum geht, ob das zukünftige Kind geimpft werden | |
soll, versucht Simon dagegenzuhalten, doch er fühlt sich seiner Partnerin | |
oft unterlegen. Zu viele vermeintliche Informationen prasseln auf ihn ein, | |
die er spontan nicht widerlegen kann. Er ist gekränkt von ihrem Vorwurf, er | |
wolle wissentlich ihrem zukünftigen Kind schaden. Gleichzeitig sieht er in | |
ihr eine verunsicherte Mutter in spe, die ihm leidtut. Irgendwann einigen | |
sie sich darauf, dass das Kind im ersten Lebensjahr nicht geimpft wird, und | |
das Thema ist erst mal „aufgeschoben“, wie Simon sagt. | |
Dass die Impfskepsis seiner Freundin etwas mit Verschwörungserzählungen zu | |
tun haben könnte, sei ihm damals gar nicht in den Sinn gekommen. Dann kommt | |
das Jahr 2020 und mit ihm die Pandemie. Sie haben inzwischen geheiratet, | |
ihr gemeinsames Kind ist zwei Jahre alt. Zu der Impfskepsis seiner | |
Partnerin gesellt sich Angst. Sie möchte wegen des neuen Virus nicht mehr | |
in den Supermarkt. Simon erledigt nun alle Einkäufe allein, auch er ist | |
verunsichert. Trotzdem hätten sie gut zusammengehalten während des ersten | |
Lockdowns, sagt Simon. | |
Sie verbringen, wie die meisten Menschen in diesen Tagen, viel Zeit zu | |
Hause. Simon in Videokonferenzen, seine Frau mit dem Kind. Abends schauen | |
sie fern, getrennt voneinander. Sie mag Netflix, er Spiegel TV. Dort werden | |
die ersten Dokumentationen von den zu diesem Zeitpunkt noch als | |
Hygienedemos bezeichneten Coronaprotesten gezeigt. Simon denkt, die sind ja | |
wie die Pegida-Leute, „irgendwelche Spinner“. | |
Dann sei es auch bei ihnen zu Hause losgegangen, erinnert sich Simon. | |
Zunächst mit Kleinigkeiten. Hier mal eine Bemerkung darüber, dass Masken ja | |
gar nichts brächten und für Kinder sogar schädlich seien, weil ihr Gehirn | |
so zu wenig Sauerstoff bekäme, da mal ein Video von einer polizeilich | |
gestürmten Geburtstagsparty während des Lockdowns, bei dem sie Partei für | |
die Feiernden ergreift. | |
Immer öfter zeigt sie ihm nun solche Videos auf Youtube, immer unwilliger | |
lässt sich Simon darauf ein. „Es war eh schon alles so anstrengend, ich war | |
froh, wenn es mal nicht um Corona ging“, erzählt er, aber sie habe das | |
Thema nicht wie er ausblenden wollen oder können. Mit wachsendem Unbehagen | |
merkt Simon, dass sich seine Frau verändert. Aus der Unsicherheit wird | |
Empörung, aus der Angst wird Wut. Sie sagt, „der Staat“ nutze seine Macht | |
aus, um die Menschen zu unterdrücken. Die Beschränkungen würden nie wieder | |
aufgehoben werden. Gleichzeitig behauptet sie, „die Politiker“ wüssten ja | |
gar nicht, was sie da täten. | |
Seine Frau, die sich vor der Pandemie nicht sonderlich für Politik | |
interessiert hatte, wollte plötzlich über jede Maßnahmendebatte im | |
Bundestag diskutieren. Simon sagt: „Allein schon an den Worten habe ich es | |
gemerkt: ‚Der Staat‘, ‚die Politiker‘, das hatte sie so noch nie gesagt. | |
Ich habe sie dann gefragt: Wen oder was meinst du denn damit genau?“ | |
Simon fängt zu recherchieren an, von wem die Videos kommen, die seine Frau | |
ihm zeigt. Er stößt auf Bodo Schiffmann und Samuel Eckert. Beide sind im | |
ersten Pandemiesommer schnell zu Promis der Coronaleugnerszene avanciert, | |
HNO-Arzt Schiffmann als Bühnenredner auf Coronademos, Eckert als | |
Youtube-Streamer und Kommentator der Proteste. Simon merkt, dass seine Frau | |
jenen „Spinnern“ Glauben schenkt, die er zuvor bei Spiegel TV belächelt | |
hat. | |
Simon ist ernüchtert, in Erinnerung an diesen Moment sagt er: „Ich hätte | |
nie gedacht, dass meine Frau – ich sage es mal, wie es sich damals für mich | |
angefühlt hat – so dumm ist, auf diese Leute reinzufallen. Und so waren | |
unsere ersten Gespräche dann auch, und das war natürlich ein Problem.“ | |
Denn noch etwas verändert sich: Simon und seine Frau streiten – immer | |
öfter, immer hitziger. Zu Beginn ist Simon noch derjenige, der sich | |
unterlegen fühlt, der wieder mal nicht hinterherkommt mit der Recherche, um | |
ihrer Desinformationswut Fakten entgegenzusetzen. Als Simon aber merkt, | |
dass selbst Fakten nichts nützen, wird auch er wütend: „Irgendwann habe ich | |
gesagt, ich bin derjenige, der weiß, wie es richtig ist. Und du bist die, | |
die da unten ist, die darauf reinfällt. Und da fühlte sie sich natürlich in | |
die Enge getrieben.“ Das Paar verliert die Augenhöhe und mit ihr das | |
Gleichgewicht. | |
Wenn Simon von dieser Zeit erzählt, flüchtet sein Blick oft nach unten, auf | |
die Hände, auf die Tischplatte. Er wirkt beschämt. | |
Scham ist es auch, die Simon wochenlang davon abhält, sich jemandem | |
anzuvertrauen. „In gewisser Weise war es mir peinlich, dass meine Frau | |
diese Dinge glaubt. Aber ich habe gemerkt, dass ich mit jemandem darüber | |
reden muss, weil ich selber nicht mehr klarkomme“, sagt er. Gemeinsame | |
Freund:innen kommen nicht infrage, er möchte nicht, dass sie | |
stigmatisiert wird. | |
Irgendwann offenbart Simon sich einer vertrauten Kollegin, mit der er seit | |
Jahren eng zusammenarbeitet. Doch sie geht nicht auf ihn ein, springt | |
schnell weiter zu einem anderen Thema. Das Gespräch zieht ihn runter, er | |
fühlt sich isoliert, allein mit einem Problem, das er nicht einmal richtig | |
benennen kann. | |
Simon fängt an zu googeln. Er stößt auf [4][die Seite der gemeinnützigen | |
Initiative „Goldener Aluhut“], dort und [5][auf anderen Seiten] findet er | |
Tipps, wie man mit verschwörungsgläubigen Personen am besten kommuniziert: | |
Nicht auf Nebenschauplätze leiten lassen, sondern beim Thema bleiben. Denn | |
viele Verschwörungsideolog:innen bedienten sich – meist unbewusst – | |
des sogenannten Gish-Galopps. Bei dieser Debattiermethode wird das | |
Gegenüber mit einer Flut von Falschaussagen, Halbwahrheiten und Fragen in | |
einem ständigen Erklärungszwang gehalten. So bekommt es keine Gelegenheit | |
dazu, die vorgebrachten Argumente einzeln zu entkräften. Zusammen | |
recherchieren. Hinterfragen, welche Rolle die persönliche Vergangenheit und | |
Biografie im Zusammenhang mit dem Verschwörungsglauben spielt. | |
Simon erklärt sich das im Fall seiner Frau so: Allgemein fühle sie sich | |
eher unsicher. Als Kind sei sie Opfer von sexualisierter Gewalt geworden, | |
der Täter ein Mitglied der Familie. In ihrer Verunsicherung suche sie nach | |
einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die ihr das bisschen | |
Grundsicherheit zurückgeben, das sie in der Pandemie verloren hat. Sie | |
findet Trost in der Verschwörungsszene, weil diese so klar benennt, wer die | |
vermeintlichen Schuldigen sind. Schuldige, gegen die sie ihre Wut und | |
Verzweiflung richten könne. | |
Eine Wirklichkeit auszuhalten, die für manches keine eindeutigen | |
Verantwortlichen bereithält, die in ihrer Komplexität Widersprüche | |
hervorbringt, fällt Verschwörungsgläubigen schwer. Ambiguitätsintoleranz | |
nennt die Psychologie dieses Phänomen. | |
[6][In zwei Studien von 2021 haben Psycholog:innen der Universität | |
Osnabrück] und der Fernuniversität Hagen untersucht, ob Betroffenen ihr | |
Glaube an Verschwörungsmythen tatsächlich dabei hilft, sich besser zu | |
fühlen, Ängste zu reduzieren oder Ungewissheit besser auszuhalten. Sie | |
kamen zu dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Negative | |
Empfindungen wie Ängste oder Unsicherheit würden kurzfristig sogar | |
verstärkt. | |
Simon fühlt sich nach seiner Internetrecherche bald selbst wie verheddert | |
in einem Gewirr aus Widersprüchen. Einerseits wird ihm empfohlen, die | |
Diskussion mit seiner Partnerin abzubrechen, wenn sie sich zu einem Streit | |
entwickelt. | |
An anderer Stelle liest er wiederum: „Denken Sie daran, dass Sie | |
möglicherweise der einzige Mensch sind, dem die Person vertraut. Seien Sie | |
froh, dass Sie mit Ihnen redet. Halten Sie die Gespräche am Laufen. Blocken | |
Sie sie nicht ab.“ Aber auch: „Achten Sie auf sich selbst. Werden Sie nicht | |
laut, werden Sie nicht hitzig.“ – „Was ich dann aber geworden bin, als es | |
in Richtung Holocaustverharmlosung ging“, sagt Simon. | |
Als seine Frau die Gegenwart „schlimmer als zur Nazizeit“ nennt, ist für | |
ihn eine Schwelle überschritten. Er resigniert, zieht sich zurück. Die | |
gemeinsamen Aktivitäten werden weniger, er schaut viel fern, „um | |
abzuschalten“, wie er sagt. Auch auf der Arbeit habe er „nichts mehr | |
hingekriegt“. „Über allem lag so eine Traurigkeit. Ich bin ein depressiver | |
Mensch geworden und habe alles buchstäblich in mich reingefressen.“ | |
Simon nimmt elf Kilo zu, fühlt sich antriebslos, ohnmächtig. Als er von | |
dieser Zeit erzählt, sackt er ein Stück in sich zusammen. „Mir liegt so | |
viel an dieser Frau, aber sie ist wie gefangen in dieser Gedankenwelt, und | |
ich weiß nicht, wie ich sie dort rausholen kann.“ Als hätte etwas Macht von | |
ihr ergriffen. Er meine das nicht diabolisch, spirituell oder krankhaft, | |
aber irgendwas halte sie fest. „Dort“ meint den Ort, an dem er nicht ist. | |
Einen Ort, an dem der einst geteilte „Glaube an das Positive im Menschen“ | |
keinen Platz zu haben scheint. | |
Irgendwann im Juni 2020 rafft sich Simon dazu auf, nochmals nach Hilfe zu | |
suchen. Die Tipps im Netz hatten nur teilweise geholfen, dank ihnen hatte | |
er sich kurz nicht mehr so alleine damit gefühlt, aber sie kratzten doch | |
nur an der Oberfläche. Und: Sie seien zu wenig auf die Probleme in | |
Paarbeziehungen zugeschnitten. „Im Internet liest man von Tanten, dem Opa | |
oder Freunden, aber sorry, das ist nicht dasselbe wie in einer Ehe. Wir | |
leben zusammen, wir haben ein Kind, wir verbringen viel Zeit miteinander.“ | |
Simon durchforstet das Internet nach Beratungsstellen und findet auf den | |
Seiten der evangelischen Landeskirchen in Hessen den Pfarrer und Referenten | |
für Weltanschauungsfragen Oliver Koch. Weil der aber all die Anfragen schon | |
nicht mehr bewältigen kann, vermittelt er Simon an einen Arzt, dessen Frau | |
Impfungen ebenfalls ablehnt, erzählt Simon. | |
Sie verabreden sich zum Telefonat. Heimlich, von Simons Büro aus, ruft er | |
den Arzt an, damit seine Frau nichts davon erfährt. Der Betroffene rät ihm: | |
„Überlegen Sie sich, ob Sie es ihr sagen wollen. Und dann sagen Sie es | |
vielleicht so: ‚Es geht hier nicht um dich, sondern um mich. Ich hole mir | |
Hilfe, weil ich mit der Situation nicht klarkomme.‘ “ So spiele er mit | |
offenen Karten und signalisiere ihr, dass das Problem nicht ausschließlich | |
bei ihr liege. Und dass er aktiv nach einer Lösung suche, für beide. Simon | |
entscheidet sich dagegen, zu groß ist die Angst vor einem Konflikt. | |
## Einen Strich drunter ziehen | |
Fünf, sechs Mal noch telefonieren sie wöchentlich für eine Stunde. Der Arzt | |
gibt ihm noch einen Rat: Wenn seine Frau wieder eine Behauptung aufstelle, | |
die in Simons Augen ein Bauteil eines Verschwörungskonstrukts sei, solle er | |
sich Zettel und Stift nehmen und seine Frau darum bitten, ihm in Ruhe zu | |
erklären, wie sie zu ihrer Ansicht komme. Simon solle ihr nur zuhören und | |
alles mitschreiben. „Am Ende sollte ich sie fragen: War das alles? Und | |
einen Strich drunter ziehen. Er meinte: ‚Sie werden merken, das wird Ihnen | |
und Ihrer Frau richtig guttun‘“, erinnert sich Simon. | |
Und plötzlich schimmert ein bisschen Hoffnung durch, als er mit lauterer | |
Stimme anfügt: „Und das war wirklich so! Sie hat geredet. Und ich habe fast | |
zweieinhalb Seiten vollgeschrieben. Ich habe weder zugestimmt noch | |
widersprochen, sondern ihr einfach zugehört. Sie fand das sehr positiv.“ | |
Später habe er die Stichpunkte mit dem Arzt besprochen und selbst noch mal | |
nachrecherchiert. Im nächsten Gespräch hätten er und seine Frau so wieder | |
auf die Sachebene gefunden, wieder gemeinsamen Boden unter den Füßen | |
gespürt. | |
Eine Weile reden sie nicht mehr über Corona, über das Impfen. „Das tat gut. | |
Natürlich ist da dann dieser Elefant im Raum und keiner spricht ihn an, | |
weil sie ja trotzdem noch regelmäßig auf ihrem Handy Videos schaut, aber | |
wir fühlten uns einander wieder näher“, sagt Simon. | |
Im Herbst 2020 kommt das Impfthema wieder auf. Ihr Kind, ein Jahr und drei | |
Monate alt, soll ab Januar in die Kita. Aber es ist nicht gegen Masern | |
geimpft, und eine Masernimpfung ist seit dem 1. März für den Besuch von | |
Kindergärten und Schulen Pflicht. Simon und seine Frau streiten, sie droht | |
damit auszuziehen, er fühlt sich erpresst. Sie machen einen Termin bei der | |
Eheberatung und einigen sich darauf, dass das Kind bis zu seinem dritten | |
Geburtstag zu Hause bleibt und sie zwischen dem zweiten und dritten | |
Lebensjahr eine Lösung für das Impfproblem finden. Wieder aufgeschoben, um | |
den Frieden zu wahren. | |
Simon sagt: „Wahrscheinlich wird es noch lange dauern, bis wir normal über | |
das Thema reden können. Aber das wäre mein großer Traum – dass es ein | |
Danach gibt.“ Er hoffe darauf, dass das Thema und all die | |
Verschwörungserzählungen drumherum irgendwann durch ein anderes Thema | |
ersetzt würden, durch einen neuen Lebenszusammenhang, durch Dinge, die dann | |
wieder wichtiger wären. | |
Es ist die Zeit, in der auch die Zulassung des Corona-Impfstoffs kurz | |
bevorsteht. In der Verschwörungsszene geht bereits die Angst vor einer | |
allgemeinen Impfpflicht um. Simons Frau macht sich Gedanken darüber, wie | |
sie dann noch Geld verdienen kann: Mit einem Putzjob oder privater | |
Kinderbetreuung bei ungeimpften Familien? Ende November fällt Simons Frau | |
eine Entscheidung für sich, die Simon überrascht – und hoffen lässt. Sie | |
sagt, sie möchte sich ein zweites Handy zulegen, um Telegram und Youtube | |
darauf auslagern zu können. Damit die Welten nicht mehr so miteinander | |
verschwimmen, damit sie wieder mehr Kontrolle darüber bekommt, wann sie was | |
in den sozialen Medien konsumiert. | |
„Das war so einer der Momente, wo ich vorsichtig optimistisch geworden | |
bin“, sagt Simon. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Gerät, mit dem man | |
mithilfe von Licht eine angebliche Strahlung aus dem Wasser filtern kann. | |
Es kostet 50 Euro im Onlineversand, Simon glaubt nicht an seine Wirkung, | |
zähneknirschend bestellt er es trotzdem für sie. | |
So richten sie es sich ein in der neuen Normalität ihrer Beziehung, geprägt | |
von Höhen und Tiefen, größeren und kleineren Konflikten. Trotzdem bleibt | |
sie da, die Hoffnung auf das „Danach“, und so nimmt Simon noch einmal | |
Anlauf und sucht sich im Frühjahr 2021 Hilfe, diesmal bei einem „Coach für | |
Beziehungsfragen“, diesmal nicht mehr heimlich. In den ersten Monaten hat | |
er alle zwei Wochen einen Termin, dann alle drei bis vier Wochen. Er lerne | |
dort, „gelassener“ zu sein. „Wenn ich immer alles so schlimm finde, dann | |
ist auch alles schlimm“, wird zu einem Satz, den er sich immer wieder in | |
Erinnerung ruft. | |
So erzählt er es bei einem Telefonat im Herbst 2021. Und es scheint zu | |
helfen. Als die Corona-Impfung für ihre Altersgruppe naht und Simon sagt, | |
er wolle sich impfen lassen, findet sie das nicht gut. Aber er schafft es, | |
das Thema kleinzuhalten, „es nicht größer zu machen, als es ist“. Als sie | |
in den Urlaub nach Süddeutschland fahren, überzeugt er sie, sich | |
ausnahmsweise in einem Testzentrum testen zu lassen, wegen der 3G-Regel, | |
damit sie in das Hotel einchecken können. Auch zum Tragen einer FFP2-Maske | |
– zuvor für sie „undenkbar“ – kann er sie bewegen, denn die ist | |
mittlerweile Pflicht. Der Familienurlaub ist gerettet. | |
Dann ist der Impfstoff da und mit ihm der Stoff für neue Konflikte. Simons | |
Frau bringt das Kind zum Kinderturnen. Auf einmal fragt die Leiterin ab, | |
wer geimpft, genesen oder getestet ist, mit einer Liste steht sie vor den | |
Eltern und hakt ab. Simons Frau fühlt sich von den anderen Eltern | |
beobachtet und von der Leiterin bloßgestellt. Aufgewühlt kommt sie nach | |
Hause und erzählt ihrem Mann davon. | |
Simon hält kurz inne, atmet durch, dann setzt er sich mit ihr hin und sie | |
formulieren gemeinsam einen Text, den sie der Turngruppenleiterin schicken | |
wollen, mit der Bitte, in Zukunft einen anderen, nichtöffentlichen Weg für | |
die Anwendung der 3G-Regel zu finden. „Ich habe gemerkt, dass so etwas | |
unserer Beziehung besser tut, als immer wieder Druck zu machen, sie | |
auflaufen zu lassen oder zurückzuweisen – auch wenn ich mir manches anders | |
wünschen würde oder eigentlich nicht in Ordnung finde.“ | |
Auch das Masernthema kommt wieder auf. Das Kind hatte seinen zweiten | |
Geburtstag, laut ihrer Verabredung haben sie nun ein Jahr Zeit, sich auf | |
etwas zu einigen. Simon wird ungeduldig, er findet, sein Kind solle mehr | |
Kontakt zu gleichaltrigen Kindern haben, mit anderen spielen lernen, | |
Freund:innen finden. | |
In einer Beziehung gehört es dazu, auch abseitige Interessen, Eigenarten, | |
Marotten des anderen zu akzeptieren. Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn | |
davon die Gesundheit des eigenen Kindes berührt wird? | |
Simons Frau recherchiert und findet heraus, dass man in der Schweiz die | |
Masernimpfung als Einzelimpfstoff spritzt, nicht wie in Deutschland in | |
Kombination mit Impfstoffen gegen Mumps und Röteln. Die MMR-Kombi-Impfung | |
ist in der impfkritischen Szene besonders verschrien. Denn die Studie eines | |
britischen Arztes, an der zwölf Kinder teilgenommen haben, belege, dass die | |
Impfung Autismus auslösen könne. Spätere Studien mit Tausenden von Kindern | |
konnten hingegen keinen Zusammenhang feststellen. Simons Frau möchte | |
trotzdem lieber eine Einzeldosis des Impfstoffs importieren lassen. Für | |
Simon ist das ein guter Kompromiss. | |
Als Simon sich gegen Covid-19 impfen lässt, möchte sie ihn zwei Wochen lang | |
nicht küssen und einen Monat keinen Sex ohne Kondom haben, obwohl er | |
sterilisiert ist. Zu groß ist die Angst davor, dass über den Austausch von | |
Körperflüssigkeiten etwas von dem Impfstoff in ihren Körper gelangen | |
könnte. Simon macht es traurig, dass der neue Glaube seiner Frau bis in die | |
intimsten Sphären der Beziehung dringt. Aber das mit dem Küssen hält sie | |
selber nicht durch, sie brechen das Tabu, sie lachen darüber. | |
Als Simon im Oktober 2021 am Telefon davon erzählt, klingt er beinahe | |
fröhlich, aufgeräumter als noch im Februar, als er oft zwischen den Themen | |
hin und her gesprungen ist, sich in Sätzen verhedderte, zerstreut wirkte. | |
Da ist wieder mehr Leichtigkeit, sagt er. | |
Den Winter über, als vielerorts die 2G-Regel gilt, bittet Simons Frau ihn, | |
das Kind nun zum Turnen und zur Musikschule zu begleiten. Simon übernimmt. | |
Das zweite Coronaweihnachten fährt Simon allein mit dem Kind zu seinen | |
Eltern, um sie nicht zu gefährden. Auch das ein Vorschlag von ihr. Simon | |
gewöhnt sich daran, dass Pläne platzen können. Nicht mehr wegen hoher | |
Inzidenzen, sondern weil seine Frau nicht geimpft ist. | |
Für das Frühjahr buchen sie einen Urlaub am Meer, in der Gewissheit, dass | |
sie nicht fahren können, wenn bis dahin noch immer 2G gilt. Simon und seine | |
Frau üben sich in einem „unaufgeregten Umgang“ – „wir gehen die | |
Herausforderungen an, wenn sie wirklich da sind“, sagt Simon. | |
So halten sie es auch mit der allgemeinen Impflicht, über die in der ersten | |
Aprilwoche im Bundestag abgestimmt werden soll. Im Mai wird das Kind drei | |
und soll mit dem importierten Einzelimpfstoff gegen Masern geimpft werden | |
und dann in die Kita gehen. Geplant ist, dass Simons Frau wieder halbtags | |
arbeitet, als Erzieherin, ungeimpft. So sie denn die Mehrheit des | |
Bundestags auf ihrer Seite hat. | |
Das Paar hält aneinander fest und wird doch immer wieder getrennt: vom | |
Glauben an zwei Wirklichkeiten. Auch wenn seine Frau längst nicht mehr so | |
viel auf Telegram und Youtube unterwegs sei wie noch vor einem Jahr, kämen | |
immer wieder „Sachen hoch“, sagt Simon. Als der Krieg in der Ukraine | |
ausbrach, habe sie die Angst vor einem Atomkrieg, der in den einschlägigen | |
Gruppen und Kanälen besonders geschürt wird, dazu getrieben, Jodtabletten | |
zu kaufen und Wasservorräte anzulegen. Da habe er gemerkt, dass sie noch | |
immer „von der einseitigen Richtung geprägt“ sei. | |
Aber der Beziehungscoach habe ihm etwas Wichtiges mit auf den Weg gegeben: | |
„Sie werden das Thema nicht mehr los, also müssen Sie es akzeptieren oder | |
loslassen“ – die Hoffnung auf das „Danach“ loslassen, auf ein Leben ohne | |
Verschwörungsglauben. Simon sagt: „Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss. | |
Aber wir schaffen das schon.“ | |
* Simons Name ist zum Schutz des Paares geändert worden. Er ist der | |
Redaktion bekannt. | |
27 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kas.de/documents/252038/11055681/Conspiracy+in+Crisis.pdf/710b2… | |
[2] https://www.weltanschauungsfragen.de/beratung/beratungsstellen/gebiet/deuts… | |
[3] https://www.riffreporter.de/de/wissen/warum-corona-impfstoffe-nicht-das-erb… | |
[4] https://dergoldenealuhut.de/wp-content/uploads/2021/01/ONLINEVERSIION-VTs-u… | |
[5] https://www.xn--verschwrungstheorien-99b.info/ | |
[6] https://www.uni-osnabrueck.de/kommunikation/kommunikation-und-marketing-ang… | |
## AUTOREN | |
Nora Belghaus | |
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