| # taz.de -- Coronamythen und Beziehung: Liebe in Zeiten der Desinformation | |
| > Ein Mann hat in der Pandemie seine Frau an die Verschwörungsszene | |
| > verloren. Was macht das mit der Liebe? | |
| Simon* sieht müde aus. Zugleich wirkt er aufgekratzt, fahrig, zerstreut. Er | |
| sitzt in einem kahlen Raum mit hohen Decken. Es zieht, die Luft ist kühl. | |
| Es ist Ende Februar 2021, die 7-Tage-Inzidenz in Hessen liegt bei 57,3, | |
| aber Simon hat einem persönlichen Treffen in den Räumlichkeiten seines | |
| Arbeitgebers trotzdem zugestimmt. Weil es ihm nicht gut geht, weil er weiß, | |
| dass er mit seinem Problem nicht alleine ist, und weil er anderen | |
| Betroffenen gerne helfen würde, wie er sagt. | |
| Die anderen Betroffenen sind wie er kaum gesehene Opfer der Pandemie. | |
| Menschen, die in keiner Statistik auftauchen. Menschen, die enge Angehörige | |
| nicht an das Coronavirus verloren haben, sondern an ein soziales Phänomen, | |
| das man als gesellschaftlichen Kollateralschaden der Krise betrachten kann: | |
| den Glauben an Verschwörungserzählungen. | |
| Im Fall von Simon ist es seine Frau, die ihre gemeinsame Wirklichkeit | |
| verließ und in die Welt der Verschwörungsideolog:innen eintrat. Weil | |
| er an der Beziehung festhält und sie nicht gefährden will, hat er darum | |
| gebeten, sie nicht zu befragen. Sie soll nicht erfahren, dass er mit einer | |
| Journalistin spricht. Es kann deshalb nur seine Perspektive abgebildet | |
| werden. Um die Anonymität des Paares zu wahren, ist sein Name in diesem | |
| Text geändert. | |
| Als Simon im Februar 2021 der taz zum ersten Mal die Geschichte von sich | |
| und seiner Frau erzählt, sind sie seit sechs Jahren ein Paar. Mit Ende 20 | |
| lernten sie sich über eine Partnerbörse kennen. Heute sind sie Mitte 30 und | |
| leben in einem Einfamilienhaus in einer mittelgroßen Stadt in Hessen. Simon | |
| hat eine Tochter aus erster Ehe, im Mai 2019 bekamen seine Partnerin und er | |
| noch ein Kind. Er arbeitet im sozialen Bereich mit Jugendlichen, sie ist | |
| Erzieherin für kleinere Kinder. | |
| Wenn Simon von seiner Frau spricht, ist da kein Groll. Immer wieder betont | |
| er, wie sehr ihm an der Beziehung zu ihr und ihrer kleinen Familie gelegen | |
| ist. Aber ein Gefühl ist ihm bei dem ersten Treffen deutlich anzumerken: | |
| Verzweiflung. | |
| Damit ist Simon nicht allein. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der | |
| Anfragen bei den Beratungsstellen enorm gestiegen, wie der taz von vier | |
| angefragten Stellen bestätigt wird, darunter eine evangelische, zwei | |
| staatliche und eine gemeinnützige Organisation. Laut der staatlichen | |
| Sekten-Info NRW stellten im ersten Pandemiejahr 2020 viermal so viele | |
| Menschen eine Anfrage zum Thema Verschwörungsglauben als davor, Stand | |
| Februar 2021. Die Sekten-Info Berlin gab an, bei ihnen habe sich die Zahl | |
| sogar versechsfacht, von sechs Anfragen 2019 zu 40 im Jahr 2020. | |
| Auch Oliver Koch bekommt seit der Coronakrise mehr solcher Anrufe. Er ist | |
| Pfarrer und Referent für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche. | |
| Der taz erzählt er, zu Beginn seien es noch vermehrt Neugierige gewesen, | |
| die im Netz auf Verschwörungserzählungen gestoßen sind und von den | |
| Berater:innen wissen wollten, was es damit auf sich hat. | |
| Doch mit der Zeit meldeten sich immer mehr Angehörige, die sich nicht mehr | |
| zu helfen wussten. Weil jede Unterhaltung im Streit über Wahrheit und | |
| Unwahrheit endet, weil die Nähe zur geliebten Person mit jeder neuen | |
| Coronamaßnahme abnimmt. Simon ist einer dieser Angehörigen, die Pfarrer | |
| Koch kontaktierten. | |
| [1][Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021] hält fest, dass 5 | |
| Prozent der Bevölkerung in Deutschland der Aussage: „Das Coronavirus ist | |
| nur ein Vorwand, um Menschen zu unterdrücken“, komplett zustimmen, 9 | |
| Prozent halten sie für „wahrscheinlich wahr“. Das entspricht | |
| zusammengenommen etwa 11,2 Millionen Menschen. Nur ein Bruchteil von ihnen | |
| nimmt Hilfe in Anspruch. Das könnte zum einen daran liegen, dass es | |
| bundesweit mit [2][rund 40 kirchlichen und staatlichen Hilfsangeboten] in | |
| Relation zur Zahl der Betroffenen nicht viele von ihnen gibt. Zum anderen | |
| haben betroffene Verschwörungsgläubige selbst meist kein | |
| Problembewusstsein, und ihre Angehörigen wiederum befürchten, ein Hilferuf | |
| könne die Beziehung weiter belasten. | |
| Auch Simon tut sich lange schwer damit, sich jemandem anzuvertrauen. Alles | |
| beginnt an einem Tag im Jahr 2017, drei Jahre vor der Pandemie. Simon und | |
| seine Freundin sitzen im Auto auf dem Weg nach Hause. Es ist Abend, sie | |
| sprechen über das geplante gemeinsame Kind. Die Stimmung ist gut, erzählt | |
| Simon, bis es um das Thema Impfen geht. | |
| Simon sagt, seine Tochter aus erster Ehe sei als Säugling geimpft worden, | |
| fragt seine Freundin, ob für sie etwas dagegenspreche. Sie behauptet, wenn | |
| er ihr gemeinsames Kind ebenfalls impfen lassen wolle, nehme er dessen | |
| Vergiftung in Kauf, Impfstoffe schädigten das Gehirn kleiner Kinder. Sie | |
| werden sich an diesem Abend nicht einig. | |
| In den nächsten Tagen und Wochen kommt das Thema immer wieder auf, sie | |
| wirft ihm vor, er sei nicht informiert, und zeigt ihm eine Zeitschrift mit | |
| dem Titel Impf-Report, die sie im Internet bestellt hat. „Das ist nicht | |
| irgendwer, der das schreibt. Das ist ein Journalist, der sich auskennt“, | |
| sagt sie, wie sich Simon später erinnert. | |
| Urheber des Impf-Reports ist laut Impressum Hans U. P. Tolzin. Der in | |
| Baden-Württemberg ansässige Autor veröffentlicht die Zeitschrift seit über | |
| zehn Jahren im nach ihm benannten Selbstverlag und betreibt neben dem | |
| Impf-Report-Magazin und der dazugehörigen Website die Seite impfkritik.de. | |
| Er bezeichnet sich selbst als „Medizin-Journalisten“, der „unabhängige | |
| Impfaufklärung“ betreibe, tatsächlich aber verbreitet er Desinformation | |
| über alle möglichen Impfungen für Mensch und Tier. | |
| Im Editorial der 129. Ausgabe im Mai 2021 schreibt Tolzin: „Liebe Leser, | |
| eigentlich wissen wir schon eine ganze Menge über die neuen | |
| Corona-Impfstoffe: Z. B., dass es sich nicht wirklich um Impfstoffe | |
| handelt, sondern um eine völlig neuartige und ungetestete Therapieform, die | |
| in das Genom des Menschen eingreift und dass alle Geimpften | |
| Versuchskaninchen der Hersteller darstellen.“ Dass mRNA-Impfstoffe das | |
| Erbgut verändern, ist insbesondere unter Verschwörungsgläubigen eine weit | |
| verbreitete Behauptung, [3][für die es keine wissenschaftliche Grundlage | |
| gibt.] | |
| ## Sie mag Netflix gucken, er Spiegel TV | |
| Schon damals, als es darum geht, ob das zukünftige Kind geimpft werden | |
| soll, versucht Simon dagegenzuhalten, doch er fühlt sich seiner Partnerin | |
| oft unterlegen. Zu viele vermeintliche Informationen prasseln auf ihn ein, | |
| die er spontan nicht widerlegen kann. Er ist gekränkt von ihrem Vorwurf, er | |
| wolle wissentlich ihrem zukünftigen Kind schaden. Gleichzeitig sieht er in | |
| ihr eine verunsicherte Mutter in spe, die ihm leidtut. Irgendwann einigen | |
| sie sich darauf, dass das Kind im ersten Lebensjahr nicht geimpft wird, und | |
| das Thema ist erst mal „aufgeschoben“, wie Simon sagt. | |
| Dass die Impfskepsis seiner Freundin etwas mit Verschwörungserzählungen zu | |
| tun haben könnte, sei ihm damals gar nicht in den Sinn gekommen. Dann kommt | |
| das Jahr 2020 und mit ihm die Pandemie. Sie haben inzwischen geheiratet, | |
| ihr gemeinsames Kind ist zwei Jahre alt. Zu der Impfskepsis seiner | |
| Partnerin gesellt sich Angst. Sie möchte wegen des neuen Virus nicht mehr | |
| in den Supermarkt. Simon erledigt nun alle Einkäufe allein, auch er ist | |
| verunsichert. Trotzdem hätten sie gut zusammengehalten während des ersten | |
| Lockdowns, sagt Simon. | |
| Sie verbringen, wie die meisten Menschen in diesen Tagen, viel Zeit zu | |
| Hause. Simon in Videokonferenzen, seine Frau mit dem Kind. Abends schauen | |
| sie fern, getrennt voneinander. Sie mag Netflix, er Spiegel TV. Dort werden | |
| die ersten Dokumentationen von den zu diesem Zeitpunkt noch als | |
| Hygienedemos bezeichneten Coronaprotesten gezeigt. Simon denkt, die sind ja | |
| wie die Pegida-Leute, „irgendwelche Spinner“. | |
| Dann sei es auch bei ihnen zu Hause losgegangen, erinnert sich Simon. | |
| Zunächst mit Kleinigkeiten. Hier mal eine Bemerkung darüber, dass Masken ja | |
| gar nichts brächten und für Kinder sogar schädlich seien, weil ihr Gehirn | |
| so zu wenig Sauerstoff bekäme, da mal ein Video von einer polizeilich | |
| gestürmten Geburtstagsparty während des Lockdowns, bei dem sie Partei für | |
| die Feiernden ergreift. | |
| Immer öfter zeigt sie ihm nun solche Videos auf Youtube, immer unwilliger | |
| lässt sich Simon darauf ein. „Es war eh schon alles so anstrengend, ich war | |
| froh, wenn es mal nicht um Corona ging“, erzählt er, aber sie habe das | |
| Thema nicht wie er ausblenden wollen oder können. Mit wachsendem Unbehagen | |
| merkt Simon, dass sich seine Frau verändert. Aus der Unsicherheit wird | |
| Empörung, aus der Angst wird Wut. Sie sagt, „der Staat“ nutze seine Macht | |
| aus, um die Menschen zu unterdrücken. Die Beschränkungen würden nie wieder | |
| aufgehoben werden. Gleichzeitig behauptet sie, „die Politiker“ wüssten ja | |
| gar nicht, was sie da täten. | |
| Seine Frau, die sich vor der Pandemie nicht sonderlich für Politik | |
| interessiert hatte, wollte plötzlich über jede Maßnahmendebatte im | |
| Bundestag diskutieren. Simon sagt: „Allein schon an den Worten habe ich es | |
| gemerkt: ‚Der Staat‘, ‚die Politiker‘, das hatte sie so noch nie gesagt. | |
| Ich habe sie dann gefragt: Wen oder was meinst du denn damit genau?“ | |
| Simon fängt zu recherchieren an, von wem die Videos kommen, die seine Frau | |
| ihm zeigt. Er stößt auf Bodo Schiffmann und Samuel Eckert. Beide sind im | |
| ersten Pandemiesommer schnell zu Promis der Coronaleugnerszene avanciert, | |
| HNO-Arzt Schiffmann als Bühnenredner auf Coronademos, Eckert als | |
| Youtube-Streamer und Kommentator der Proteste. Simon merkt, dass seine Frau | |
| jenen „Spinnern“ Glauben schenkt, die er zuvor bei Spiegel TV belächelt | |
| hat. | |
| Simon ist ernüchtert, in Erinnerung an diesen Moment sagt er: „Ich hätte | |
| nie gedacht, dass meine Frau – ich sage es mal, wie es sich damals für mich | |
| angefühlt hat – so dumm ist, auf diese Leute reinzufallen. Und so waren | |
| unsere ersten Gespräche dann auch, und das war natürlich ein Problem.“ | |
| Denn noch etwas verändert sich: Simon und seine Frau streiten – immer | |
| öfter, immer hitziger. Zu Beginn ist Simon noch derjenige, der sich | |
| unterlegen fühlt, der wieder mal nicht hinterherkommt mit der Recherche, um | |
| ihrer Desinformationswut Fakten entgegenzusetzen. Als Simon aber merkt, | |
| dass selbst Fakten nichts nützen, wird auch er wütend: „Irgendwann habe ich | |
| gesagt, ich bin derjenige, der weiß, wie es richtig ist. Und du bist die, | |
| die da unten ist, die darauf reinfällt. Und da fühlte sie sich natürlich in | |
| die Enge getrieben.“ Das Paar verliert die Augenhöhe und mit ihr das | |
| Gleichgewicht. | |
| Wenn Simon von dieser Zeit erzählt, flüchtet sein Blick oft nach unten, auf | |
| die Hände, auf die Tischplatte. Er wirkt beschämt. | |
| Scham ist es auch, die Simon wochenlang davon abhält, sich jemandem | |
| anzuvertrauen. „In gewisser Weise war es mir peinlich, dass meine Frau | |
| diese Dinge glaubt. Aber ich habe gemerkt, dass ich mit jemandem darüber | |
| reden muss, weil ich selber nicht mehr klarkomme“, sagt er. Gemeinsame | |
| Freund:innen kommen nicht infrage, er möchte nicht, dass sie | |
| stigmatisiert wird. | |
| Irgendwann offenbart Simon sich einer vertrauten Kollegin, mit der er seit | |
| Jahren eng zusammenarbeitet. Doch sie geht nicht auf ihn ein, springt | |
| schnell weiter zu einem anderen Thema. Das Gespräch zieht ihn runter, er | |
| fühlt sich isoliert, allein mit einem Problem, das er nicht einmal richtig | |
| benennen kann. | |
| Simon fängt an zu googeln. Er stößt auf [4][die Seite der gemeinnützigen | |
| Initiative „Goldener Aluhut“], dort und [5][auf anderen Seiten] findet er | |
| Tipps, wie man mit verschwörungsgläubigen Personen am besten kommuniziert: | |
| Nicht auf Nebenschauplätze leiten lassen, sondern beim Thema bleiben. Denn | |
| viele Verschwörungsideolog:innen bedienten sich – meist unbewusst – | |
| des sogenannten Gish-Galopps. Bei dieser Debattiermethode wird das | |
| Gegenüber mit einer Flut von Falschaussagen, Halbwahrheiten und Fragen in | |
| einem ständigen Erklärungszwang gehalten. So bekommt es keine Gelegenheit | |
| dazu, die vorgebrachten Argumente einzeln zu entkräften. Zusammen | |
| recherchieren. Hinterfragen, welche Rolle die persönliche Vergangenheit und | |
| Biografie im Zusammenhang mit dem Verschwörungsglauben spielt. | |
| Simon erklärt sich das im Fall seiner Frau so: Allgemein fühle sie sich | |
| eher unsicher. Als Kind sei sie Opfer von sexualisierter Gewalt geworden, | |
| der Täter ein Mitglied der Familie. In ihrer Verunsicherung suche sie nach | |
| einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die ihr das bisschen | |
| Grundsicherheit zurückgeben, das sie in der Pandemie verloren hat. Sie | |
| findet Trost in der Verschwörungsszene, weil diese so klar benennt, wer die | |
| vermeintlichen Schuldigen sind. Schuldige, gegen die sie ihre Wut und | |
| Verzweiflung richten könne. | |
| Eine Wirklichkeit auszuhalten, die für manches keine eindeutigen | |
| Verantwortlichen bereithält, die in ihrer Komplexität Widersprüche | |
| hervorbringt, fällt Verschwörungsgläubigen schwer. Ambiguitätsintoleranz | |
| nennt die Psychologie dieses Phänomen. | |
| [6][In zwei Studien von 2021 haben Psycholog:innen der Universität | |
| Osnabrück] und der Fernuniversität Hagen untersucht, ob Betroffenen ihr | |
| Glaube an Verschwörungsmythen tatsächlich dabei hilft, sich besser zu | |
| fühlen, Ängste zu reduzieren oder Ungewissheit besser auszuhalten. Sie | |
| kamen zu dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Negative | |
| Empfindungen wie Ängste oder Unsicherheit würden kurzfristig sogar | |
| verstärkt. | |
| Simon fühlt sich nach seiner Internetrecherche bald selbst wie verheddert | |
| in einem Gewirr aus Widersprüchen. Einerseits wird ihm empfohlen, die | |
| Diskussion mit seiner Partnerin abzubrechen, wenn sie sich zu einem Streit | |
| entwickelt. | |
| An anderer Stelle liest er wiederum: „Denken Sie daran, dass Sie | |
| möglicherweise der einzige Mensch sind, dem die Person vertraut. Seien Sie | |
| froh, dass Sie mit Ihnen redet. Halten Sie die Gespräche am Laufen. Blocken | |
| Sie sie nicht ab.“ Aber auch: „Achten Sie auf sich selbst. Werden Sie nicht | |
| laut, werden Sie nicht hitzig.“ – „Was ich dann aber geworden bin, als es | |
| in Richtung Holocaustverharmlosung ging“, sagt Simon. | |
| Als seine Frau die Gegenwart „schlimmer als zur Nazizeit“ nennt, ist für | |
| ihn eine Schwelle überschritten. Er resigniert, zieht sich zurück. Die | |
| gemeinsamen Aktivitäten werden weniger, er schaut viel fern, „um | |
| abzuschalten“, wie er sagt. Auch auf der Arbeit habe er „nichts mehr | |
| hingekriegt“. „Über allem lag so eine Traurigkeit. Ich bin ein depressiver | |
| Mensch geworden und habe alles buchstäblich in mich reingefressen.“ | |
| Simon nimmt elf Kilo zu, fühlt sich antriebslos, ohnmächtig. Als er von | |
| dieser Zeit erzählt, sackt er ein Stück in sich zusammen. „Mir liegt so | |
| viel an dieser Frau, aber sie ist wie gefangen in dieser Gedankenwelt, und | |
| ich weiß nicht, wie ich sie dort rausholen kann.“ Als hätte etwas Macht von | |
| ihr ergriffen. Er meine das nicht diabolisch, spirituell oder krankhaft, | |
| aber irgendwas halte sie fest. „Dort“ meint den Ort, an dem er nicht ist. | |
| Einen Ort, an dem der einst geteilte „Glaube an das Positive im Menschen“ | |
| keinen Platz zu haben scheint. | |
| Irgendwann im Juni 2020 rafft sich Simon dazu auf, nochmals nach Hilfe zu | |
| suchen. Die Tipps im Netz hatten nur teilweise geholfen, dank ihnen hatte | |
| er sich kurz nicht mehr so alleine damit gefühlt, aber sie kratzten doch | |
| nur an der Oberfläche. Und: Sie seien zu wenig auf die Probleme in | |
| Paarbeziehungen zugeschnitten. „Im Internet liest man von Tanten, dem Opa | |
| oder Freunden, aber sorry, das ist nicht dasselbe wie in einer Ehe. Wir | |
| leben zusammen, wir haben ein Kind, wir verbringen viel Zeit miteinander.“ | |
| Simon durchforstet das Internet nach Beratungsstellen und findet auf den | |
| Seiten der evangelischen Landeskirchen in Hessen den Pfarrer und Referenten | |
| für Weltanschauungsfragen Oliver Koch. Weil der aber all die Anfragen schon | |
| nicht mehr bewältigen kann, vermittelt er Simon an einen Arzt, dessen Frau | |
| Impfungen ebenfalls ablehnt, erzählt Simon. | |
| Sie verabreden sich zum Telefonat. Heimlich, von Simons Büro aus, ruft er | |
| den Arzt an, damit seine Frau nichts davon erfährt. Der Betroffene rät ihm: | |
| „Überlegen Sie sich, ob Sie es ihr sagen wollen. Und dann sagen Sie es | |
| vielleicht so: ‚Es geht hier nicht um dich, sondern um mich. Ich hole mir | |
| Hilfe, weil ich mit der Situation nicht klarkomme.‘ “ So spiele er mit | |
| offenen Karten und signalisiere ihr, dass das Problem nicht ausschließlich | |
| bei ihr liege. Und dass er aktiv nach einer Lösung suche, für beide. Simon | |
| entscheidet sich dagegen, zu groß ist die Angst vor einem Konflikt. | |
| ## Einen Strich drunter ziehen | |
| Fünf, sechs Mal noch telefonieren sie wöchentlich für eine Stunde. Der Arzt | |
| gibt ihm noch einen Rat: Wenn seine Frau wieder eine Behauptung aufstelle, | |
| die in Simons Augen ein Bauteil eines Verschwörungskonstrukts sei, solle er | |
| sich Zettel und Stift nehmen und seine Frau darum bitten, ihm in Ruhe zu | |
| erklären, wie sie zu ihrer Ansicht komme. Simon solle ihr nur zuhören und | |
| alles mitschreiben. „Am Ende sollte ich sie fragen: War das alles? Und | |
| einen Strich drunter ziehen. Er meinte: ‚Sie werden merken, das wird Ihnen | |
| und Ihrer Frau richtig guttun‘“, erinnert sich Simon. | |
| Und plötzlich schimmert ein bisschen Hoffnung durch, als er mit lauterer | |
| Stimme anfügt: „Und das war wirklich so! Sie hat geredet. Und ich habe fast | |
| zweieinhalb Seiten vollgeschrieben. Ich habe weder zugestimmt noch | |
| widersprochen, sondern ihr einfach zugehört. Sie fand das sehr positiv.“ | |
| Später habe er die Stichpunkte mit dem Arzt besprochen und selbst noch mal | |
| nachrecherchiert. Im nächsten Gespräch hätten er und seine Frau so wieder | |
| auf die Sachebene gefunden, wieder gemeinsamen Boden unter den Füßen | |
| gespürt. | |
| Eine Weile reden sie nicht mehr über Corona, über das Impfen. „Das tat gut. | |
| Natürlich ist da dann dieser Elefant im Raum und keiner spricht ihn an, | |
| weil sie ja trotzdem noch regelmäßig auf ihrem Handy Videos schaut, aber | |
| wir fühlten uns einander wieder näher“, sagt Simon. | |
| Im Herbst 2020 kommt das Impfthema wieder auf. Ihr Kind, ein Jahr und drei | |
| Monate alt, soll ab Januar in die Kita. Aber es ist nicht gegen Masern | |
| geimpft, und eine Masernimpfung ist seit dem 1. März für den Besuch von | |
| Kindergärten und Schulen Pflicht. Simon und seine Frau streiten, sie droht | |
| damit auszuziehen, er fühlt sich erpresst. Sie machen einen Termin bei der | |
| Eheberatung und einigen sich darauf, dass das Kind bis zu seinem dritten | |
| Geburtstag zu Hause bleibt und sie zwischen dem zweiten und dritten | |
| Lebensjahr eine Lösung für das Impfproblem finden. Wieder aufgeschoben, um | |
| den Frieden zu wahren. | |
| Simon sagt: „Wahrscheinlich wird es noch lange dauern, bis wir normal über | |
| das Thema reden können. Aber das wäre mein großer Traum – dass es ein | |
| Danach gibt.“ Er hoffe darauf, dass das Thema und all die | |
| Verschwörungserzählungen drumherum irgendwann durch ein anderes Thema | |
| ersetzt würden, durch einen neuen Lebenszusammenhang, durch Dinge, die dann | |
| wieder wichtiger wären. | |
| Es ist die Zeit, in der auch die Zulassung des Corona-Impfstoffs kurz | |
| bevorsteht. In der Verschwörungsszene geht bereits die Angst vor einer | |
| allgemeinen Impfpflicht um. Simons Frau macht sich Gedanken darüber, wie | |
| sie dann noch Geld verdienen kann: Mit einem Putzjob oder privater | |
| Kinderbetreuung bei ungeimpften Familien? Ende November fällt Simons Frau | |
| eine Entscheidung für sich, die Simon überrascht – und hoffen lässt. Sie | |
| sagt, sie möchte sich ein zweites Handy zulegen, um Telegram und Youtube | |
| darauf auslagern zu können. Damit die Welten nicht mehr so miteinander | |
| verschwimmen, damit sie wieder mehr Kontrolle darüber bekommt, wann sie was | |
| in den sozialen Medien konsumiert. | |
| „Das war so einer der Momente, wo ich vorsichtig optimistisch geworden | |
| bin“, sagt Simon. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Gerät, mit dem man | |
| mithilfe von Licht eine angebliche Strahlung aus dem Wasser filtern kann. | |
| Es kostet 50 Euro im Onlineversand, Simon glaubt nicht an seine Wirkung, | |
| zähneknirschend bestellt er es trotzdem für sie. | |
| So richten sie es sich ein in der neuen Normalität ihrer Beziehung, geprägt | |
| von Höhen und Tiefen, größeren und kleineren Konflikten. Trotzdem bleibt | |
| sie da, die Hoffnung auf das „Danach“, und so nimmt Simon noch einmal | |
| Anlauf und sucht sich im Frühjahr 2021 Hilfe, diesmal bei einem „Coach für | |
| Beziehungsfragen“, diesmal nicht mehr heimlich. In den ersten Monaten hat | |
| er alle zwei Wochen einen Termin, dann alle drei bis vier Wochen. Er lerne | |
| dort, „gelassener“ zu sein. „Wenn ich immer alles so schlimm finde, dann | |
| ist auch alles schlimm“, wird zu einem Satz, den er sich immer wieder in | |
| Erinnerung ruft. | |
| So erzählt er es bei einem Telefonat im Herbst 2021. Und es scheint zu | |
| helfen. Als die Corona-Impfung für ihre Altersgruppe naht und Simon sagt, | |
| er wolle sich impfen lassen, findet sie das nicht gut. Aber er schafft es, | |
| das Thema kleinzuhalten, „es nicht größer zu machen, als es ist“. Als sie | |
| in den Urlaub nach Süddeutschland fahren, überzeugt er sie, sich | |
| ausnahmsweise in einem Testzentrum testen zu lassen, wegen der 3G-Regel, | |
| damit sie in das Hotel einchecken können. Auch zum Tragen einer FFP2-Maske | |
| – zuvor für sie „undenkbar“ – kann er sie bewegen, denn die ist | |
| mittlerweile Pflicht. Der Familienurlaub ist gerettet. | |
| Dann ist der Impfstoff da und mit ihm der Stoff für neue Konflikte. Simons | |
| Frau bringt das Kind zum Kinderturnen. Auf einmal fragt die Leiterin ab, | |
| wer geimpft, genesen oder getestet ist, mit einer Liste steht sie vor den | |
| Eltern und hakt ab. Simons Frau fühlt sich von den anderen Eltern | |
| beobachtet und von der Leiterin bloßgestellt. Aufgewühlt kommt sie nach | |
| Hause und erzählt ihrem Mann davon. | |
| Simon hält kurz inne, atmet durch, dann setzt er sich mit ihr hin und sie | |
| formulieren gemeinsam einen Text, den sie der Turngruppenleiterin schicken | |
| wollen, mit der Bitte, in Zukunft einen anderen, nichtöffentlichen Weg für | |
| die Anwendung der 3G-Regel zu finden. „Ich habe gemerkt, dass so etwas | |
| unserer Beziehung besser tut, als immer wieder Druck zu machen, sie | |
| auflaufen zu lassen oder zurückzuweisen – auch wenn ich mir manches anders | |
| wünschen würde oder eigentlich nicht in Ordnung finde.“ | |
| Auch das Masernthema kommt wieder auf. Das Kind hatte seinen zweiten | |
| Geburtstag, laut ihrer Verabredung haben sie nun ein Jahr Zeit, sich auf | |
| etwas zu einigen. Simon wird ungeduldig, er findet, sein Kind solle mehr | |
| Kontakt zu gleichaltrigen Kindern haben, mit anderen spielen lernen, | |
| Freund:innen finden. | |
| In einer Beziehung gehört es dazu, auch abseitige Interessen, Eigenarten, | |
| Marotten des anderen zu akzeptieren. Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn | |
| davon die Gesundheit des eigenen Kindes berührt wird? | |
| Simons Frau recherchiert und findet heraus, dass man in der Schweiz die | |
| Masernimpfung als Einzelimpfstoff spritzt, nicht wie in Deutschland in | |
| Kombination mit Impfstoffen gegen Mumps und Röteln. Die MMR-Kombi-Impfung | |
| ist in der impfkritischen Szene besonders verschrien. Denn die Studie eines | |
| britischen Arztes, an der zwölf Kinder teilgenommen haben, belege, dass die | |
| Impfung Autismus auslösen könne. Spätere Studien mit Tausenden von Kindern | |
| konnten hingegen keinen Zusammenhang feststellen. Simons Frau möchte | |
| trotzdem lieber eine Einzeldosis des Impfstoffs importieren lassen. Für | |
| Simon ist das ein guter Kompromiss. | |
| Als Simon sich gegen Covid-19 impfen lässt, möchte sie ihn zwei Wochen lang | |
| nicht küssen und einen Monat keinen Sex ohne Kondom haben, obwohl er | |
| sterilisiert ist. Zu groß ist die Angst davor, dass über den Austausch von | |
| Körperflüssigkeiten etwas von dem Impfstoff in ihren Körper gelangen | |
| könnte. Simon macht es traurig, dass der neue Glaube seiner Frau bis in die | |
| intimsten Sphären der Beziehung dringt. Aber das mit dem Küssen hält sie | |
| selber nicht durch, sie brechen das Tabu, sie lachen darüber. | |
| Als Simon im Oktober 2021 am Telefon davon erzählt, klingt er beinahe | |
| fröhlich, aufgeräumter als noch im Februar, als er oft zwischen den Themen | |
| hin und her gesprungen ist, sich in Sätzen verhedderte, zerstreut wirkte. | |
| Da ist wieder mehr Leichtigkeit, sagt er. | |
| Den Winter über, als vielerorts die 2G-Regel gilt, bittet Simons Frau ihn, | |
| das Kind nun zum Turnen und zur Musikschule zu begleiten. Simon übernimmt. | |
| Das zweite Coronaweihnachten fährt Simon allein mit dem Kind zu seinen | |
| Eltern, um sie nicht zu gefährden. Auch das ein Vorschlag von ihr. Simon | |
| gewöhnt sich daran, dass Pläne platzen können. Nicht mehr wegen hoher | |
| Inzidenzen, sondern weil seine Frau nicht geimpft ist. | |
| Für das Frühjahr buchen sie einen Urlaub am Meer, in der Gewissheit, dass | |
| sie nicht fahren können, wenn bis dahin noch immer 2G gilt. Simon und seine | |
| Frau üben sich in einem „unaufgeregten Umgang“ – „wir gehen die | |
| Herausforderungen an, wenn sie wirklich da sind“, sagt Simon. | |
| So halten sie es auch mit der allgemeinen Impflicht, über die in der ersten | |
| Aprilwoche im Bundestag abgestimmt werden soll. Im Mai wird das Kind drei | |
| und soll mit dem importierten Einzelimpfstoff gegen Masern geimpft werden | |
| und dann in die Kita gehen. Geplant ist, dass Simons Frau wieder halbtags | |
| arbeitet, als Erzieherin, ungeimpft. So sie denn die Mehrheit des | |
| Bundestags auf ihrer Seite hat. | |
| Das Paar hält aneinander fest und wird doch immer wieder getrennt: vom | |
| Glauben an zwei Wirklichkeiten. Auch wenn seine Frau längst nicht mehr so | |
| viel auf Telegram und Youtube unterwegs sei wie noch vor einem Jahr, kämen | |
| immer wieder „Sachen hoch“, sagt Simon. Als der Krieg in der Ukraine | |
| ausbrach, habe sie die Angst vor einem Atomkrieg, der in den einschlägigen | |
| Gruppen und Kanälen besonders geschürt wird, dazu getrieben, Jodtabletten | |
| zu kaufen und Wasservorräte anzulegen. Da habe er gemerkt, dass sie noch | |
| immer „von der einseitigen Richtung geprägt“ sei. | |
| Aber der Beziehungscoach habe ihm etwas Wichtiges mit auf den Weg gegeben: | |
| „Sie werden das Thema nicht mehr los, also müssen Sie es akzeptieren oder | |
| loslassen“ – die Hoffnung auf das „Danach“ loslassen, auf ein Leben ohne | |
| Verschwörungsglauben. Simon sagt: „Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss. | |
| Aber wir schaffen das schon.“ | |
| * Simons Name ist zum Schutz des Paares geändert worden. Er ist der | |
| Redaktion bekannt. | |
| 27 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.kas.de/documents/252038/11055681/Conspiracy+in+Crisis.pdf/710b2… | |
| [2] https://www.weltanschauungsfragen.de/beratung/beratungsstellen/gebiet/deuts… | |
| [3] https://www.riffreporter.de/de/wissen/warum-corona-impfstoffe-nicht-das-erb… | |
| [4] https://dergoldenealuhut.de/wp-content/uploads/2021/01/ONLINEVERSIION-VTs-u… | |
| [5] https://www.xn--verschwrungstheorien-99b.info/ | |
| [6] https://www.uni-osnabrueck.de/kommunikation/kommunikation-und-marketing-ang… | |
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| Depp gegen Heard vor Gericht: Hunger nach Happy End | |
| Der Prozess zwischen den Ex-Eheleuten Johnny Depp und Amber Heard erregt | |
| auf Social Media viel Aufmerksamkeit. Warum eigentlich? | |
| Debatte um eine Corona-Impfpflicht: Keine Zustimmung für den Kompromiss | |
| Für eine Corona-Impfpflicht hat noch kein Vorschlag eine Mehrheit im | |
| Bundestag. Eine Gruppe sucht nun den Kompromiss – und erntet Ablehnung. | |
| Coronaschutzregeln in Deutschland: Kampf um die Maske | |
| Gesundheitsminister Karl Lauterbach fordert die Länder auf, die | |
| Maskenpflicht beizubehalten. Am 2. April soll diese offiziell in vielen | |
| Ländern fallen. | |
| Historie des Impfens: Kampf der Weltbilder | |
| Beim Impfen ging es schon immer um gesellschaftliche Grundsatzfragen – eine | |
| kleine Problemgeschichte. | |
| Ursprünge der Impfskepsis: Eine deutsche Besonderheit | |
| In deutschsprachigen Ländern herrscht Misstrauen gegenüber der Impfung. Das | |
| ist auf die Romantik zurückzuführen – aber auch auf Politikversagen. | |
| Herkunft der Impfgegner und Querdenker: Antimoderner Reflex mit Tradition | |
| Die noch immer als links-alternativ geltenden Lebensreformbewegungen und | |
| die neuen „Querdenker“ haben mehr gemeinsam als gemeinhin bekannt. |