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# taz.de -- Coronamythen und Beziehung: Liebe in Zeiten der Desinformation
> Ein Mann hat in der Pandemie seine Frau an die Verschwörungsszene
> verloren. Was macht das mit der Liebe?
Simon* sieht müde aus. Zugleich wirkt er aufgekratzt, fahrig, zerstreut. Er
sitzt in einem kahlen Raum mit hohen Decken. Es zieht, die Luft ist kühl.
Es ist Ende Februar 2021, die 7-Tage-Inzidenz in Hessen liegt bei 57,3,
aber Simon hat einem persönlichen Treffen in den Räumlichkeiten seines
Arbeitgebers trotzdem zugestimmt. Weil es ihm nicht gut geht, weil er weiß,
dass er mit seinem Problem nicht alleine ist, und weil er anderen
Betroffenen gerne helfen würde, wie er sagt.
Die anderen Betroffenen sind wie er kaum gesehene Opfer der Pandemie.
Menschen, die in keiner Statistik auftauchen. Menschen, die enge Angehörige
nicht an das Coronavirus verloren haben, sondern an ein soziales Phänomen,
das man als gesellschaftlichen Kollateralschaden der Krise betrachten kann:
den Glauben an Verschwörungserzählungen.
Im Fall von Simon ist es seine Frau, die ihre gemeinsame Wirklichkeit
verließ und in die Welt der Verschwörungsideolog:innen eintrat. Weil
er an der Beziehung festhält und sie nicht gefährden will, hat er darum
gebeten, sie nicht zu befragen. Sie soll nicht erfahren, dass er mit einer
Journalistin spricht. Es kann deshalb nur seine Perspektive abgebildet
werden. Um die Anonymität des Paares zu wahren, ist sein Name in diesem
Text geändert.
Als Simon im Februar 2021 der taz zum ersten Mal die Geschichte von sich
und seiner Frau erzählt, sind sie seit sechs Jahren ein Paar. Mit Ende 20
lernten sie sich über eine Partnerbörse kennen. Heute sind sie Mitte 30 und
leben in einem Einfamilienhaus in einer mittelgroßen Stadt in Hessen. Simon
hat eine Tochter aus erster Ehe, im Mai 2019 bekamen seine Partnerin und er
noch ein Kind. Er arbeitet im sozialen Bereich mit Jugendlichen, sie ist
Erzieherin für kleinere Kinder.
Wenn Simon von seiner Frau spricht, ist da kein Groll. Immer wieder betont
er, wie sehr ihm an der Beziehung zu ihr und ihrer kleinen Familie gelegen
ist. Aber ein Gefühl ist ihm bei dem ersten Treffen deutlich anzumerken:
Verzweiflung.
Damit ist Simon nicht allein. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der
Anfragen bei den Beratungsstellen enorm gestiegen, wie der taz von vier
angefragten Stellen bestätigt wird, darunter eine evangelische, zwei
staatliche und eine gemeinnützige Organisation. Laut der staatlichen
Sekten-Info NRW stellten im ersten Pandemiejahr 2020 viermal so viele
Menschen eine Anfrage zum Thema Verschwörungsglauben als davor, Stand
Februar 2021. Die Sekten-Info Berlin gab an, bei ihnen habe sich die Zahl
sogar versechsfacht, von sechs Anfragen 2019 zu 40 im Jahr 2020.
Auch Oliver Koch bekommt seit der Coronakrise mehr solcher Anrufe. Er ist
Pfarrer und Referent für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche.
Der taz erzählt er, zu Beginn seien es noch vermehrt Neugierige gewesen,
die im Netz auf Verschwörungserzählungen gestoßen sind und von den
Berater:innen wissen wollten, was es damit auf sich hat.
Doch mit der Zeit meldeten sich immer mehr Angehörige, die sich nicht mehr
zu helfen wussten. Weil jede Unterhaltung im Streit über Wahrheit und
Unwahrheit endet, weil die Nähe zur geliebten Person mit jeder neuen
Coronamaßnahme abnimmt. Simon ist einer dieser Angehörigen, die Pfarrer
Koch kontaktierten.
[1][Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021] hält fest, dass 5
Prozent der Bevölkerung in Deutschland der Aussage: „Das Coronavirus ist
nur ein Vorwand, um Menschen zu unterdrücken“, komplett zustimmen, 9
Prozent halten sie für „wahrscheinlich wahr“. Das entspricht
zusammengenommen etwa 11,2 Millionen Menschen. Nur ein Bruchteil von ihnen
nimmt Hilfe in Anspruch. Das könnte zum einen daran liegen, dass es
bundesweit mit [2][rund 40 kirchlichen und staatlichen Hilfsangeboten] in
Relation zur Zahl der Betroffenen nicht viele von ihnen gibt. Zum anderen
haben betroffene Verschwörungsgläubige selbst meist kein
Problembewusstsein, und ihre Angehörigen wiederum befürchten, ein Hilferuf
könne die Beziehung weiter belasten.
Auch Simon tut sich lange schwer damit, sich jemandem anzuvertrauen. Alles
beginnt an einem Tag im Jahr 2017, drei Jahre vor der Pandemie. Simon und
seine Freundin sitzen im Auto auf dem Weg nach Hause. Es ist Abend, sie
sprechen über das geplante gemeinsame Kind. Die Stimmung ist gut, erzählt
Simon, bis es um das Thema Impfen geht.
Simon sagt, seine Tochter aus erster Ehe sei als Säugling geimpft worden,
fragt seine Freundin, ob für sie etwas dagegenspreche. Sie behauptet, wenn
er ihr gemeinsames Kind ebenfalls impfen lassen wolle, nehme er dessen
Vergiftung in Kauf, Impfstoffe schädigten das Gehirn kleiner Kinder. Sie
werden sich an diesem Abend nicht einig.
In den nächsten Tagen und Wochen kommt das Thema immer wieder auf, sie
wirft ihm vor, er sei nicht informiert, und zeigt ihm eine Zeitschrift mit
dem Titel Impf-Report, die sie im Internet bestellt hat. „Das ist nicht
irgendwer, der das schreibt. Das ist ein Journalist, der sich auskennt“,
sagt sie, wie sich Simon später erinnert.
Urheber des Impf-Reports ist laut Impressum Hans U. P. Tolzin. Der in
Baden-Württemberg ansässige Autor veröffentlicht die Zeitschrift seit über
zehn Jahren im nach ihm benannten Selbstverlag und betreibt neben dem
Impf-Report-Magazin und der dazugehörigen Website die Seite impfkritik.de.
Er bezeichnet sich selbst als „Medizin-Journalisten“, der „unabhängige
Impfaufklärung“ betreibe, tatsächlich aber verbreitet er Desinformation
über alle möglichen Impfungen für Mensch und Tier.
Im Editorial der 129. Ausgabe im Mai 2021 schreibt Tolzin: „Liebe Leser,
eigentlich wissen wir schon eine ganze Menge über die neuen
Corona-Impfstoffe: Z. B., dass es sich nicht wirklich um Impfstoffe
handelt, sondern um eine völlig neuartige und ungetestete Therapieform, die
in das Genom des Menschen eingreift und dass alle Geimpften
Versuchskaninchen der Hersteller darstellen.“ Dass mRNA-Impfstoffe das
Erbgut verändern, ist insbesondere unter Verschwörungsgläubigen eine weit
verbreitete Behauptung, [3][für die es keine wissenschaftliche Grundlage
gibt.]
## Sie mag Netflix gucken, er Spiegel TV
Schon damals, als es darum geht, ob das zukünftige Kind geimpft werden
soll, versucht Simon dagegenzuhalten, doch er fühlt sich seiner Partnerin
oft unterlegen. Zu viele vermeintliche Informationen prasseln auf ihn ein,
die er spontan nicht widerlegen kann. Er ist gekränkt von ihrem Vorwurf, er
wolle wissentlich ihrem zukünftigen Kind schaden. Gleichzeitig sieht er in
ihr eine verunsicherte Mutter in spe, die ihm leidtut. Irgendwann einigen
sie sich darauf, dass das Kind im ersten Lebensjahr nicht geimpft wird, und
das Thema ist erst mal „aufgeschoben“, wie Simon sagt.
Dass die Impfskepsis seiner Freundin etwas mit Verschwörungserzählungen zu
tun haben könnte, sei ihm damals gar nicht in den Sinn gekommen. Dann kommt
das Jahr 2020 und mit ihm die Pandemie. Sie haben inzwischen geheiratet,
ihr gemeinsames Kind ist zwei Jahre alt. Zu der Impfskepsis seiner
Partnerin gesellt sich Angst. Sie möchte wegen des neuen Virus nicht mehr
in den Supermarkt. Simon erledigt nun alle Einkäufe allein, auch er ist
verunsichert. Trotzdem hätten sie gut zusammengehalten während des ersten
Lockdowns, sagt Simon.
Sie verbringen, wie die meisten Menschen in diesen Tagen, viel Zeit zu
Hause. Simon in Videokonferenzen, seine Frau mit dem Kind. Abends schauen
sie fern, getrennt voneinander. Sie mag Netflix, er Spiegel TV. Dort werden
die ersten Dokumentationen von den zu diesem Zeitpunkt noch als
Hygienedemos bezeichneten Coronaprotesten gezeigt. Simon denkt, die sind ja
wie die Pegida-Leute, „irgendwelche Spinner“.
Dann sei es auch bei ihnen zu Hause losgegangen, erinnert sich Simon.
Zunächst mit Kleinigkeiten. Hier mal eine Bemerkung darüber, dass Masken ja
gar nichts brächten und für Kinder sogar schädlich seien, weil ihr Gehirn
so zu wenig Sauerstoff bekäme, da mal ein Video von einer polizeilich
gestürmten Geburtstagsparty während des Lockdowns, bei dem sie Partei für
die Feiernden ergreift.
Immer öfter zeigt sie ihm nun solche Videos auf Youtube, immer unwilliger
lässt sich Simon darauf ein. „Es war eh schon alles so anstrengend, ich war
froh, wenn es mal nicht um Corona ging“, erzählt er, aber sie habe das
Thema nicht wie er ausblenden wollen oder können. Mit wachsendem Unbehagen
merkt Simon, dass sich seine Frau verändert. Aus der Unsicherheit wird
Empörung, aus der Angst wird Wut. Sie sagt, „der Staat“ nutze seine Macht
aus, um die Menschen zu unterdrücken. Die Beschränkungen würden nie wieder
aufgehoben werden. Gleichzeitig behauptet sie, „die Politiker“ wüssten ja
gar nicht, was sie da täten.
Seine Frau, die sich vor der Pandemie nicht sonderlich für Politik
interessiert hatte, wollte plötzlich über jede Maßnahmendebatte im
Bundestag diskutieren. Simon sagt: „Allein schon an den Worten habe ich es
gemerkt: ‚Der Staat‘, ‚die Politiker‘, das hatte sie so noch nie gesagt.
Ich habe sie dann gefragt: Wen oder was meinst du denn damit genau?“
Simon fängt zu recherchieren an, von wem die Videos kommen, die seine Frau
ihm zeigt. Er stößt auf Bodo Schiffmann und Samuel Eckert. Beide sind im
ersten Pandemiesommer schnell zu Promis der Coronaleugnerszene avanciert,
HNO-Arzt Schiffmann als Bühnenredner auf Coronademos, Eckert als
Youtube-Streamer und Kommentator der Proteste. Simon merkt, dass seine Frau
jenen „Spinnern“ Glauben schenkt, die er zuvor bei Spiegel TV belächelt
hat.
Simon ist ernüchtert, in Erinnerung an diesen Moment sagt er: „Ich hätte
nie gedacht, dass meine Frau – ich sage es mal, wie es sich damals für mich
angefühlt hat – so dumm ist, auf diese Leute reinzufallen. Und so waren
unsere ersten Gespräche dann auch, und das war natürlich ein Problem.“
Denn noch etwas verändert sich: Simon und seine Frau streiten – immer
öfter, immer hitziger. Zu Beginn ist Simon noch derjenige, der sich
unterlegen fühlt, der wieder mal nicht hinterherkommt mit der Recherche, um
ihrer Desinformationswut Fakten entgegenzusetzen. Als Simon aber merkt,
dass selbst Fakten nichts nützen, wird auch er wütend: „Irgendwann habe ich
gesagt, ich bin derjenige, der weiß, wie es richtig ist. Und du bist die,
die da unten ist, die darauf reinfällt. Und da fühlte sie sich natürlich in
die Enge getrieben.“ Das Paar verliert die Augenhöhe und mit ihr das
Gleichgewicht.
Wenn Simon von dieser Zeit erzählt, flüchtet sein Blick oft nach unten, auf
die Hände, auf die Tischplatte. Er wirkt beschämt.
Scham ist es auch, die Simon wochenlang davon abhält, sich jemandem
anzuvertrauen. „In gewisser Weise war es mir peinlich, dass meine Frau
diese Dinge glaubt. Aber ich habe gemerkt, dass ich mit jemandem darüber
reden muss, weil ich selber nicht mehr klarkomme“, sagt er. Gemeinsame
Freund:innen kommen nicht infrage, er möchte nicht, dass sie
stigmatisiert wird.
Irgendwann offenbart Simon sich einer vertrauten Kollegin, mit der er seit
Jahren eng zusammenarbeitet. Doch sie geht nicht auf ihn ein, springt
schnell weiter zu einem anderen Thema. Das Gespräch zieht ihn runter, er
fühlt sich isoliert, allein mit einem Problem, das er nicht einmal richtig
benennen kann.
Simon fängt an zu googeln. Er stößt auf [4][die Seite der gemeinnützigen
Initiative „Goldener Aluhut“], dort und [5][auf anderen Seiten] findet er
Tipps, wie man mit verschwörungsgläubigen Personen am besten kommuniziert:
Nicht auf Nebenschauplätze leiten lassen, sondern beim Thema bleiben. Denn
viele Verschwörungsideolog:innen bedienten sich – meist unbewusst –
des sogenannten Gish-Galopps. Bei dieser Debattiermethode wird das
Gegenüber mit einer Flut von Falschaussagen, Halbwahrheiten und Fragen in
einem ständigen Erklärungszwang gehalten. So bekommt es keine Gelegenheit
dazu, die vorgebrachten Argumente einzeln zu entkräften. Zusammen
recherchieren. Hinterfragen, welche Rolle die persönliche Vergangenheit und
Biografie im Zusammenhang mit dem Verschwörungsglauben spielt.
Simon erklärt sich das im Fall seiner Frau so: Allgemein fühle sie sich
eher unsicher. Als Kind sei sie Opfer von sexualisierter Gewalt geworden,
der Täter ein Mitglied der Familie. In ihrer Verunsicherung suche sie nach
einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die ihr das bisschen
Grundsicherheit zurückgeben, das sie in der Pandemie verloren hat. Sie
findet Trost in der Verschwörungsszene, weil diese so klar benennt, wer die
vermeintlichen Schuldigen sind. Schuldige, gegen die sie ihre Wut und
Verzweiflung richten könne.
Eine Wirklichkeit auszuhalten, die für manches keine eindeutigen
Verantwortlichen bereithält, die in ihrer Komplexität Widersprüche
hervorbringt, fällt Verschwörungsgläubigen schwer. Ambiguitätsintoleranz
nennt die Psychologie dieses Phänomen.
[6][In zwei Studien von 2021 haben Psycholog:innen der Universität
Osnabrück] und der Fernuniversität Hagen untersucht, ob Betroffenen ihr
Glaube an Verschwörungsmythen tatsächlich dabei hilft, sich besser zu
fühlen, Ängste zu reduzieren oder Ungewissheit besser auszuhalten. Sie
kamen zu dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Negative
Empfindungen wie Ängste oder Unsicherheit würden kurzfristig sogar
verstärkt.
Simon fühlt sich nach seiner Internetrecherche bald selbst wie verheddert
in einem Gewirr aus Widersprüchen. Einerseits wird ihm empfohlen, die
Diskussion mit seiner Partnerin abzubrechen, wenn sie sich zu einem Streit
entwickelt.
An anderer Stelle liest er wiederum: „Denken Sie daran, dass Sie
möglicherweise der einzige Mensch sind, dem die Person vertraut. Seien Sie
froh, dass Sie mit Ihnen redet. Halten Sie die Gespräche am Laufen. Blocken
Sie sie nicht ab.“ Aber auch: „Achten Sie auf sich selbst. Werden Sie nicht
laut, werden Sie nicht hitzig.“ – „Was ich dann aber geworden bin, als es
in Richtung Holocaustverharmlosung ging“, sagt Simon.
Als seine Frau die Gegenwart „schlimmer als zur Nazizeit“ nennt, ist für
ihn eine Schwelle überschritten. Er resigniert, zieht sich zurück. Die
gemeinsamen Aktivitäten werden weniger, er schaut viel fern, „um
abzuschalten“, wie er sagt. Auch auf der Arbeit habe er „nichts mehr
hingekriegt“. „Über allem lag so eine Traurigkeit. Ich bin ein depressiver
Mensch geworden und habe alles buchstäblich in mich reingefressen.“
Simon nimmt elf Kilo zu, fühlt sich antriebslos, ohnmächtig. Als er von
dieser Zeit erzählt, sackt er ein Stück in sich zusammen. „Mir liegt so
viel an dieser Frau, aber sie ist wie gefangen in dieser Gedankenwelt, und
ich weiß nicht, wie ich sie dort rausholen kann.“ Als hätte etwas Macht von
ihr ergriffen. Er meine das nicht diabolisch, spirituell oder krankhaft,
aber irgendwas halte sie fest. „Dort“ meint den Ort, an dem er nicht ist.
Einen Ort, an dem der einst geteilte „Glaube an das Positive im Menschen“
keinen Platz zu haben scheint.
Irgendwann im Juni 2020 rafft sich Simon dazu auf, nochmals nach Hilfe zu
suchen. Die Tipps im Netz hatten nur teilweise geholfen, dank ihnen hatte
er sich kurz nicht mehr so alleine damit gefühlt, aber sie kratzten doch
nur an der Oberfläche. Und: Sie seien zu wenig auf die Probleme in
Paarbeziehungen zugeschnitten. „Im Internet liest man von Tanten, dem Opa
oder Freunden, aber sorry, das ist nicht dasselbe wie in einer Ehe. Wir
leben zusammen, wir haben ein Kind, wir verbringen viel Zeit miteinander.“
Simon durchforstet das Internet nach Beratungsstellen und findet auf den
Seiten der evangelischen Landeskirchen in Hessen den Pfarrer und Referenten
für Weltanschauungsfragen Oliver Koch. Weil der aber all die Anfragen schon
nicht mehr bewältigen kann, vermittelt er Simon an einen Arzt, dessen Frau
Impfungen ebenfalls ablehnt, erzählt Simon.
Sie verabreden sich zum Telefonat. Heimlich, von Simons Büro aus, ruft er
den Arzt an, damit seine Frau nichts davon erfährt. Der Betroffene rät ihm:
„Überlegen Sie sich, ob Sie es ihr sagen wollen. Und dann sagen Sie es
vielleicht so: ‚Es geht hier nicht um dich, sondern um mich. Ich hole mir
Hilfe, weil ich mit der Situation nicht klarkomme.‘ “ So spiele er mit
offenen Karten und signalisiere ihr, dass das Problem nicht ausschließlich
bei ihr liege. Und dass er aktiv nach einer Lösung suche, für beide. Simon
entscheidet sich dagegen, zu groß ist die Angst vor einem Konflikt.
## Einen Strich drunter ziehen
Fünf, sechs Mal noch telefonieren sie wöchentlich für eine Stunde. Der Arzt
gibt ihm noch einen Rat: Wenn seine Frau wieder eine Behauptung aufstelle,
die in Simons Augen ein Bauteil eines Verschwörungskonstrukts sei, solle er
sich Zettel und Stift nehmen und seine Frau darum bitten, ihm in Ruhe zu
erklären, wie sie zu ihrer Ansicht komme. Simon solle ihr nur zuhören und
alles mitschreiben. „Am Ende sollte ich sie fragen: War das alles? Und
einen Strich drunter ziehen. Er meinte: ‚Sie werden merken, das wird Ihnen
und Ihrer Frau richtig guttun‘“, erinnert sich Simon.
Und plötzlich schimmert ein bisschen Hoffnung durch, als er mit lauterer
Stimme anfügt: „Und das war wirklich so! Sie hat geredet. Und ich habe fast
zweieinhalb Seiten vollgeschrieben. Ich habe weder zugestimmt noch
widersprochen, sondern ihr einfach zugehört. Sie fand das sehr positiv.“
Später habe er die Stichpunkte mit dem Arzt besprochen und selbst noch mal
nachrecherchiert. Im nächsten Gespräch hätten er und seine Frau so wieder
auf die Sachebene gefunden, wieder gemeinsamen Boden unter den Füßen
gespürt.
Eine Weile reden sie nicht mehr über Corona, über das Impfen. „Das tat gut.
Natürlich ist da dann dieser Elefant im Raum und keiner spricht ihn an,
weil sie ja trotzdem noch regelmäßig auf ihrem Handy Videos schaut, aber
wir fühlten uns einander wieder näher“, sagt Simon.
Im Herbst 2020 kommt das Impfthema wieder auf. Ihr Kind, ein Jahr und drei
Monate alt, soll ab Januar in die Kita. Aber es ist nicht gegen Masern
geimpft, und eine Masernimpfung ist seit dem 1. März für den Besuch von
Kindergärten und Schulen Pflicht. Simon und seine Frau streiten, sie droht
damit auszuziehen, er fühlt sich erpresst. Sie machen einen Termin bei der
Eheberatung und einigen sich darauf, dass das Kind bis zu seinem dritten
Geburtstag zu Hause bleibt und sie zwischen dem zweiten und dritten
Lebensjahr eine Lösung für das Impfproblem finden. Wieder aufgeschoben, um
den Frieden zu wahren.
Simon sagt: „Wahrscheinlich wird es noch lange dauern, bis wir normal über
das Thema reden können. Aber das wäre mein großer Traum – dass es ein
Danach gibt.“ Er hoffe darauf, dass das Thema und all die
Verschwörungserzählungen drumherum irgendwann durch ein anderes Thema
ersetzt würden, durch einen neuen Lebenszusammenhang, durch Dinge, die dann
wieder wichtiger wären.
Es ist die Zeit, in der auch die Zulassung des Corona-Impfstoffs kurz
bevorsteht. In der Verschwörungsszene geht bereits die Angst vor einer
allgemeinen Impfpflicht um. Simons Frau macht sich Gedanken darüber, wie
sie dann noch Geld verdienen kann: Mit einem Putzjob oder privater
Kinderbetreuung bei ungeimpften Familien? Ende November fällt Simons Frau
eine Entscheidung für sich, die Simon überrascht – und hoffen lässt. Sie
sagt, sie möchte sich ein zweites Handy zulegen, um Telegram und Youtube
darauf auslagern zu können. Damit die Welten nicht mehr so miteinander
verschwimmen, damit sie wieder mehr Kontrolle darüber bekommt, wann sie was
in den sozialen Medien konsumiert.
„Das war so einer der Momente, wo ich vorsichtig optimistisch geworden
bin“, sagt Simon. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Gerät, mit dem man
mithilfe von Licht eine angebliche Strahlung aus dem Wasser filtern kann.
Es kostet 50 Euro im Onlineversand, Simon glaubt nicht an seine Wirkung,
zähneknirschend bestellt er es trotzdem für sie.
So richten sie es sich ein in der neuen Normalität ihrer Beziehung, geprägt
von Höhen und Tiefen, größeren und kleineren Konflikten. Trotzdem bleibt
sie da, die Hoffnung auf das „Danach“, und so nimmt Simon noch einmal
Anlauf und sucht sich im Frühjahr 2021 Hilfe, diesmal bei einem „Coach für
Beziehungsfragen“, diesmal nicht mehr heimlich. In den ersten Monaten hat
er alle zwei Wochen einen Termin, dann alle drei bis vier Wochen. Er lerne
dort, „gelassener“ zu sein. „Wenn ich immer alles so schlimm finde, dann
ist auch alles schlimm“, wird zu einem Satz, den er sich immer wieder in
Erinnerung ruft.
So erzählt er es bei einem Telefonat im Herbst 2021. Und es scheint zu
helfen. Als die Corona-Impfung für ihre Altersgruppe naht und Simon sagt,
er wolle sich impfen lassen, findet sie das nicht gut. Aber er schafft es,
das Thema kleinzuhalten, „es nicht größer zu machen, als es ist“. Als sie
in den Urlaub nach Süddeutschland fahren, überzeugt er sie, sich
ausnahmsweise in einem Testzentrum testen zu lassen, wegen der 3G-Regel,
damit sie in das Hotel einchecken können. Auch zum Tragen einer FFP2-Maske
– zuvor für sie „undenkbar“ – kann er sie bewegen, denn die ist
mittlerweile Pflicht. Der Familienurlaub ist gerettet.
Dann ist der Impfstoff da und mit ihm der Stoff für neue Konflikte. Simons
Frau bringt das Kind zum Kinderturnen. Auf einmal fragt die Leiterin ab,
wer geimpft, genesen oder getestet ist, mit einer Liste steht sie vor den
Eltern und hakt ab. Simons Frau fühlt sich von den anderen Eltern
beobachtet und von der Leiterin bloßgestellt. Aufgewühlt kommt sie nach
Hause und erzählt ihrem Mann davon.
Simon hält kurz inne, atmet durch, dann setzt er sich mit ihr hin und sie
formulieren gemeinsam einen Text, den sie der Turngruppenleiterin schicken
wollen, mit der Bitte, in Zukunft einen anderen, nichtöffentlichen Weg für
die Anwendung der 3G-Regel zu finden. „Ich habe gemerkt, dass so etwas
unserer Beziehung besser tut, als immer wieder Druck zu machen, sie
auflaufen zu lassen oder zurückzuweisen – auch wenn ich mir manches anders
wünschen würde oder eigentlich nicht in Ordnung finde.“
Auch das Masernthema kommt wieder auf. Das Kind hatte seinen zweiten
Geburtstag, laut ihrer Verabredung haben sie nun ein Jahr Zeit, sich auf
etwas zu einigen. Simon wird ungeduldig, er findet, sein Kind solle mehr
Kontakt zu gleichaltrigen Kindern haben, mit anderen spielen lernen,
Freund:innen finden.
In einer Beziehung gehört es dazu, auch abseitige Interessen, Eigenarten,
Marotten des anderen zu akzeptieren. Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn
davon die Gesundheit des eigenen Kindes berührt wird?
Simons Frau recherchiert und findet heraus, dass man in der Schweiz die
Masernimpfung als Einzelimpfstoff spritzt, nicht wie in Deutschland in
Kombination mit Impfstoffen gegen Mumps und Röteln. Die MMR-Kombi-Impfung
ist in der impfkritischen Szene besonders verschrien. Denn die Studie eines
britischen Arztes, an der zwölf Kinder teilgenommen haben, belege, dass die
Impfung Autismus auslösen könne. Spätere Studien mit Tausenden von Kindern
konnten hingegen keinen Zusammenhang feststellen. Simons Frau möchte
trotzdem lieber eine Einzeldosis des Impfstoffs importieren lassen. Für
Simon ist das ein guter Kompromiss.
Als Simon sich gegen Covid-19 impfen lässt, möchte sie ihn zwei Wochen lang
nicht küssen und einen Monat keinen Sex ohne Kondom haben, obwohl er
sterilisiert ist. Zu groß ist die Angst davor, dass über den Austausch von
Körperflüssigkeiten etwas von dem Impfstoff in ihren Körper gelangen
könnte. Simon macht es traurig, dass der neue Glaube seiner Frau bis in die
intimsten Sphären der Beziehung dringt. Aber das mit dem Küssen hält sie
selber nicht durch, sie brechen das Tabu, sie lachen darüber.
Als Simon im Oktober 2021 am Telefon davon erzählt, klingt er beinahe
fröhlich, aufgeräumter als noch im Februar, als er oft zwischen den Themen
hin und her gesprungen ist, sich in Sätzen verhedderte, zerstreut wirkte.
Da ist wieder mehr Leichtigkeit, sagt er.
Den Winter über, als vielerorts die 2G-Regel gilt, bittet Simons Frau ihn,
das Kind nun zum Turnen und zur Musikschule zu begleiten. Simon übernimmt.
Das zweite Coronaweihnachten fährt Simon allein mit dem Kind zu seinen
Eltern, um sie nicht zu gefährden. Auch das ein Vorschlag von ihr. Simon
gewöhnt sich daran, dass Pläne platzen können. Nicht mehr wegen hoher
Inzidenzen, sondern weil seine Frau nicht geimpft ist.
Für das Frühjahr buchen sie einen Urlaub am Meer, in der Gewissheit, dass
sie nicht fahren können, wenn bis dahin noch immer 2G gilt. Simon und seine
Frau üben sich in einem „unaufgeregten Umgang“ – „wir gehen die
Herausforderungen an, wenn sie wirklich da sind“, sagt Simon.
So halten sie es auch mit der allgemeinen Impflicht, über die in der ersten
Aprilwoche im Bundestag abgestimmt werden soll. Im Mai wird das Kind drei
und soll mit dem importierten Einzelimpfstoff gegen Masern geimpft werden
und dann in die Kita gehen. Geplant ist, dass Simons Frau wieder halbtags
arbeitet, als Erzieherin, ungeimpft. So sie denn die Mehrheit des
Bundestags auf ihrer Seite hat.
Das Paar hält aneinander fest und wird doch immer wieder getrennt: vom
Glauben an zwei Wirklichkeiten. Auch wenn seine Frau längst nicht mehr so
viel auf Telegram und Youtube unterwegs sei wie noch vor einem Jahr, kämen
immer wieder „Sachen hoch“, sagt Simon. Als der Krieg in der Ukraine
ausbrach, habe sie die Angst vor einem Atomkrieg, der in den einschlägigen
Gruppen und Kanälen besonders geschürt wird, dazu getrieben, Jodtabletten
zu kaufen und Wasservorräte anzulegen. Da habe er gemerkt, dass sie noch
immer „von der einseitigen Richtung geprägt“ sei.
Aber der Beziehungscoach habe ihm etwas Wichtiges mit auf den Weg gegeben:
„Sie werden das Thema nicht mehr los, also müssen Sie es akzeptieren oder
loslassen“ – die Hoffnung auf das „Danach“ loslassen, auf ein Leben ohne
Verschwörungsglauben. Simon sagt: „Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss.
Aber wir schaffen das schon.“
* Simons Name ist zum Schutz des Paares geändert worden. Er ist der
Redaktion bekannt.
27 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.kas.de/documents/252038/11055681/Conspiracy+in+Crisis.pdf/710b2…
[2] https://www.weltanschauungsfragen.de/beratung/beratungsstellen/gebiet/deuts…
[3] https://www.riffreporter.de/de/wissen/warum-corona-impfstoffe-nicht-das-erb…
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