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# taz.de -- Impfgegner gegen die Demokratie: Freiheit als Ersatzmythos
> Impfgegner pochen auf individuelle Freiheit und wähnen die Demokratie am
> Ende. Doch nebst der Irrationalität sind sie auch ein Symptom für etwas.
Bild: Freiheit gegen Diktatur – das ist das Framing der Impfgegner, hier bei …
Die Pandemie samt ihren „Querdenkern“ wirft auch die Frage auf: Was ist
Demokratie heute? Demokratie ist eine Regierungsform: mit ihren Verfahren,
Institutionen, Regeln. Das ist ihre Realität. Sie braucht aber noch etwas
anderes: einen Glauben. Den Glauben an Souveränität, an Legitimität, an
Gerechtigkeit. Dieser Glaube ist der Mythos der Demokratie. Das ist kein
falscher Mythos, den es aufzuklären gilt, sondern ein Mythos, der sie
stützt. Demokratie ist Realität und Mythos zugleich.
Demokratie ist heute einer der zentralen Mythen. Sie ist unantastbar.
Unantastbar aber ist das, was einer Gesellschaft heilig ist. Demokratie ist
der Horizont unserer Moral – sie bestimmt unsere Werteskala zwischen
demokratisch und undemokratisch. Sie ist unsere Formel für Recht, für
Ordnung. Demokratie ist unsere Beschwörungsformel für alles Gute.
Man könnte auch sagen: Die Rede von der Demokratie ist unser Fetisch.
Gleichzeitig aber gibt es den ständigen, den drängenden Chor jener, die uns
zurufen: Die Souveränität des Volkes ist entleert. Dieser Inbegriff unserer
Gesellschaft wird immer blasser. Vage. Unbestimmt. Eine leere Formel, eine
leeres Zeichen.
Also was nun – ausgehöhlte Form oder Heiligtum? Oder gar: Heilig, weil sie
leer ist? Dann aber wäre Demokratie nur eine tote Form.
## Nur noch individuelle Freiheit
Tatsächlich wird um ihre Bedeutung gerungen. Diese ist also veränderbar.
Und genau das zeigt sich derzeit: Die Bedeutung des demokratischen Mythos
hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit. Das ist
keine Entleerung. Es ist vielmehr ein Ersatz-Mythos. Demokratie meint heute
nicht mehr den Glauben an Gleichheit oder an Volkssouveränität, sondern
meint nur noch den Glauben an individuelle Freiheit.
Individuelle Freiheit ohne das Versprechen einer Herrschaft des Volkes,
ohne die Vorstellung einer Selbstgesetzgebung. In den Konzepten einer
kollektiven Macht findet man sich nicht wieder. In der individuellen
Freiheit schon. Demokratie wird zu einem Kurzschluss zwischen dem Ich und
einem imaginären Demos. Wir glauben an die Demokratie als Gütesiegel
unserer individuellen Freiheit. Sie ist es, die wir beschwören.
Die Pandemie hat das Politische verändert. Sie hat eine sichtbare Rückkehr
des Staates mit seiner Entscheidungsgewalt gebracht. Aber Entscheidung ist
immer der Kern des Politischen. Sie ist nicht die Fratze der Demokratie,
sondern deren Grundlage. Üblicherweise ist sie eine gezähmte
Entscheidungsgewalt. In der Pandemie aber trat diese blank in Erscheinung.
Ein Credo der Neoliberalen besagt, dass die politischen Verhältnisse nicht
von allen getragen werden müssen. Aber dieses [1][liberale Konzept versagt
bei einem Totalereignis] wie einer Pandemie. Denn genau da treten jene auf
den Plan, die die politischen Verhältnisse nicht mittragen: die
„Querdenker“, die Impfgegner. Hier soll es nicht um deren Irrationalitäten
gehen, sondern darum, dass sie noch etwas anderes sind, jedenfalls dort, wo
sie über den Rechtsextremismus hinausgehen: nämlich ein Symptom.
## Demokratie gegen Diktatur
Sie treten im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine „Diktatur“
nennen – eben weil der Staat derart sichtbar geworden ist. Weil sich dessen
Entscheidungsgewalt in Vorschriften so deutlich manifestiert. So werden
Masken und Impfungen zum verhassten Inbegriff dieser Gewalt, die in ihren
Augen nicht demokratisch sein kann. Warum? Weil diese Entscheidungsgewalt
eben den demokratischen Mythos antastet: die individuelle Freiheit.
Der organisatorische, der medizinische Umgang mit einem Naturereignis ist
das eine, der politische Umgang damit ist etwas anderes. Die „Querdenker“
zeigen unbeabsichtigt: Undemokratisch sind die Maßnahmen nicht im
politischen, sondern im mythologischen Sinn. Weil sie den Mythos der
individuellen Freiheit verletzen.
Die „Querdenker“ lehnen die Realität der demokratischen Praxis im Namen des
demokratischen Mythos ab. Und genau da werden sie zum gesellschaftlichen
Symptom. Ein Symptom bringt eine Wahrheit in verzerrter Form zum Ausdruck:
Dass nämlich demokratische Realität und demokratischer Mythos kollidieren.
Dass sie nicht mehr übereinstimmen.
In verzerrter Form zeigt sich hier: Die neue Realität staatlicher
Entscheidungsgewalt und der Mythos von der individuellen Freiheit driften
auseinander.
23 Nov 2021
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## AUTOREN
Isolde Charim
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