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# taz.de -- Aufstand in Iran: Die Pioniere des Widerstands
> Bei den Protesten in Iran sind die Kurden besonders aktiv. Sie haben
> Parteien, TV-Sender und das, was der Bewegung ansonsten fehlt: ein
> Programm.
Bild: Der Druck auf kurdische Oppositionelle ist besonders hoch – Protest in …
Auf den ersten Blick mutet die Szene seltsam an: In der Stadt Mahabad im
Nordwesten des Iran tragen junge Männer umgedrehte Kochtöpfe auf dem Kopf,
zum Schutz vor Kugeln. Auf der zentralen Bummelmeile der Stadt haben sie
sich hinter selbstgeziegelten Schutzwällen verbarrikadiert. Die Videos, die
die Szene zeigen, drangen Mitte November ins Netz, als der aktuelle
Aufstand in Iran schon mehrere Wochen lang andauerte.
Vor lauter Menschenmassen erkennt Sidar Mohammadi, die in Wien studiert,
die Straßen ihrer Heimatstadt kaum wieder. Sie schließt Instagram, wo die
Videos kursieren, und versucht, ihre Tanten und Cousinen in Mahabad zu
kontaktieren. Das gelingt erst nach mehreren Versuchen; die Regierung hat
das Internet in der Region drastisch heruntergefahren. Ja, bestätigt die
Familie, die Stadt sei komplett in den Händen der Aufständischen.
Doch der Moment, in dem erstmals seit Beginn der Massenproteste im
September die Revolution zum Greifen nahe scheint, währt nur wenige
Stunden. Noch am selben Abend erreicht Mohammadi die Nachricht, dass
[1][die iranischen Revolutionsgarden] mit schwerem Kriegsgerät angreifen.
Nicht nur Mahabad ist betroffen. Auch andere Städte im iranischen Kurdistan
werden belagert und nach und nach eingenommen. In Oschnavieh und Bukan
sollen die Aufständischen zeitweilig die ganze Stadt unter Kontrolle gehabt
haben, einschließlich der Regierungsgebäude.
Am Morgen danach weiß Mohammadi nicht, ob ihre Verwandten noch am Leben
sind. Das Letzte, was sie aus Mahabad erreicht hat, ist ein Bericht, dass
wahllos Häuser gestürmt wurden. Was mit den Bewohnern geschehen ist, bleibt
zu diesem Zeitpunkt ungewiss. In ihrem Studentenheim in Wien läuft
Mohammadi durch die Gänge, versucht vergeblich, ihre Familie zu
kontaktieren. In der Ferne, ohnmächtig, habe sie an diesem Tag kurz vor
einem Nervenzusammenbruch gestanden, berichtet sie heute.
## Engmaschige Repression
Der Widerstand im iranischen Kurdistan ist vorerst gebrochen, doch im
ganzen Land kommt es weiter zu Protesten. Allein während der Belagerung
durch die Revolutionsgarden in den kurdischen Gebieten im November wurden
mehrere Dutzend Menschen getötet. Ein völlig wahlloses Massaker an
Zivilisten, das viele befürchtet hatten, ist aber ausgeblieben. Auch Sidar
Mohammadis Familie blieb unversehrt. Die Nachbarn wurden in jener Nacht von
Agenten auf die Straße geholt, zugleich wurde in die Luft geschossen. Auch
sie kamen mit dem Schrecken davon.
„Das war wohl eine Strategie, um Terror und Panik zu verbreiten. Wir
sollten sehen, wozu sie in der Lage sind, wenn sie nur wollen“, vermutet
Mohammadi. Auf den Straßen in Iranisch-Kurdistan ist die Lage jetzt
scheinbar wieder ruhig, doch mit Normalität hat das nichts zu tun. Wegen
der Checkpoints entstehen an den Eingängen zu größeren Städten teils
mehrere Kilometer lange Schlangen. Autos, Taschen und Handys werden
durchsucht. Das Regime lässt weiterhin täglich Aktivisten festnehmen und an
unbekannte Orte verschleppen, vor allem in der Stadt [2][Sanandadsch]. „Der
Druck ist enorm“, berichtet ein dortiger Bewohner. Oft genüge schon ein
kritischer Post, um als Aktivist zu gelten.
Die Repression in Kurdistan ist engmaschiger und brutaler als in Städten
wie Teheran, Maschhad oder Isfahan. Die Kurden, die in Iran etwa 10 Prozent
der Bevölkerung ausmachen, sind nach Darstellung des Regimes Separatisten –
vor allem dann, wenn sie auf die Straße gehen. Das Schreckgespenst des
Separatismus ist innenpolitisch nützlich. Die Angst vor Chaos und
Bürgerkrieg soll die älteren Generationen, denen die Schrecken des Kriegs
zwischen dem Iran und dem Irak in den 80er Jahren noch in den Knochen
sitzen, davon abhalten, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen,
[3][schreibt] der Analyst Ali Alfoneh. Dabei könnte die Strategie,
Aufständische als Separatisten darzustellen und brutal zu unterdrücken,
genau das bewirken, was sie zu bekämpfen vorgibt.
Nach dem Einmarsch der Revolutionsgarden in ihre Heimatstadt hatte Sidar
Mohammadi eine Identitätskrise. So sei es vielen iranischen Kurden
gegangen, erzählt sie. Weil es in anderen Teilen des Iran kaum
Straßenproteste aus Solidarität gab, fühlte man sich der Übermacht der
Revolutionsgarden ausgeliefert. „Erstmals begriff ich mich nur noch als
Kurdin, nicht mehr als Iranerin.“
Das änderte sich ein wenig, als Menschen aus anderen Teilen des Landes
begannen, Geld und Arzneimittel zu spenden, damit die Kurden ihre
Verwundeten zu Hause pflegen können. In den Krankenhäusern hätte den
verletzten Demonstranten die Verschleppung gedroht. In den sozialen Medien
preisen nun viele Iraner die Kurden als „Vorbilder des Widerstands“.
Dieser Zusammenhalt zwischen ethnischen Gruppen sei neu in Iran, sagt
Mohammadi. Dass ihr echter Name in der Zeitung steht, möchte sie nicht. Das
hat auch damit zu tun, dass einige ihrer Familienmitglieder in der
kommunistischen Partei Komala in Führungspositionen aktiv sind. Komala ist
eine jener verbotenen kurdischen Parteien, die das Regime als Separatisten
und als terroristische Gruppierung einstuft.
In Wirklichkeit liege Separatismus den allermeisten Kurden fern,
widerspricht Mohammadi der Darstellung des Regimes. Was die iranischen
Kurden wollen, sei ein Ende der Diskriminierung, eine weitreichende
Autonomie innerhalb der Grenzen eines föderalistischen Irans, sagt sie.
Die Diskriminierung reicht aktuell von einem De-facto-Verbot der kurdischen
Sprache bis hin zu deutlich geringeren Staatsausgaben in den
Kurdengebieten. Die von der Sittenpolizei im September getötete Mahsa
Amini, die selbst Kurdin war und deren Tod die aktuellen Proteste ausgelöst
hat, hieß inoffiziell „Jina“ – ein verbotener kurdischer Name.
Dass Amini selbst Kurdin war, ist mit ein Grund für die Proteste der
Kurden, aber nicht der einzige: „Wir erkennen in dieser Protestbewegung
erstmals eine revolutionäre Stoßrichtung. Das hat uns Hoffnung gegeben“,
sagt Mohammadi, „erst wenn es den Menschen gelingt, dieses Regime zu
stürzen, haben wir eine Chance auf die Autonomie, die wir anstreben.“
## Tradition des progressiven Widerstands
Die Absage an den Separatismus hat neben dem nationalen Selbstverständnis
als „kurdische Iraner“ auch ganz praktische Gründe. Die kurdischen Gebiete
sind vergleichsweise arm an Rohstoffen, ein entwickeltes und
prosperierendes Kurdistan ist ohne den restlichen Iran nicht möglich. Was
es bedeutet, sich ohne Ressourcen selbst verwalten zu müssen, erfuhren die
iranischen Kurden 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter
dem Schutz der UdSSR war es den Kurden damals gelungen, eine eigenständige
Republik zu errichten, die Republik von Mahabad. Doch die Isolierung hatte
Engpässe in vielen Bereichen zur Folge, von militärischem Equipment bis zu
Lebensmitteln. 1946, nur ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung, wurde
Mahabad von iranischen Truppen zurückerobert.
Geblieben ist den Kurden eine Tradition des progressiven Widerstands. Im
Gegensatz zum restlichen Iran haben säkulare Positionen in der kurdischen
Gesellschaft schon lange einen festen Stand. Als das islamische Regime 1979
an die Macht kam, leisteten die Kurden bewaffnete Gegenwehr. Die neuen
Machthaber brauchten zwei bis drei Jahre, um die kurdischen Gebiete unter
Kontrolle zu bekommen. Die Netzwerke des Widerstands bestehen bis heute
fort. „Kurden in Iran sind traditionell besser organisiert. Die kriegen
ihre Leute einfach schneller auf die Straße“, sagt die
Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur über die überdurchschnittliche
Aktivität der Kurden in dem aktuellen Aufstand.
Oppositionelle Parteien wie Komala oder die Demokratische Partei
Kurdistan-Iran unterhalten ihre eigenen TV-Sender, Webseiten und
Untergrundorganisationen vor Ort. Den Unterschied merkt man: Während es in
iranischen Kernland hauptsächlich die junge Generation ist, die jetzt
aufbegehrt, beteiligten sich in den kurdischen Städten alle Altersschichten
an den Protesten.
Die Kurden haben das, was der säkularen Demokratiebewegung im restlichen
Iran noch fehlt: ein klares Programm, das die Menschen motiviert, nicht nur
gegen, sondern für etwas zu kämpfen, und einen Organisationsgrad, mit dem
es gelingt, die kollektive Wut in gezielte Aktionen und konzertierte
Straßenproteste zu übersetzen – oder auch diese einzustellen, wenn es
taktisch sinnvoll ist.
Von ihren Kontakten in der Komala weiß Sidar Mohammadi, dass die Proteste
in den kurdischen Gebieten des Landes nicht nur wegen des militärischen
Durchgreifens der Revolutionsgarden vorerst abgeebbt sind. Die Kurden
hätten einsehen müssen, dass der restliche Iran für einen regelrechten
Massenaufstand im Moment noch nicht bereit ist.
„Bis es so weit ist, müssen wir warten, weil wir allein gegen die
militärische Übermacht der Revolutionsgarden nicht ankommen“, sagt
Mohammadi. Die friedlichen Straßen in Mahabad und anderen kurdischen
Städten seien deshalb kein Zeichen des Friedens, sondern eher Ausdruck
eines vorübergehenden Waffenstillstands.
21 Dec 2022
## LINKS
[1] /Irans-Repressionsapparat/!5898561
[2] /Protokoll-einer-Gefangenen-in-Iran/!5891889
[3] https://agsiw.org/the-irgc-and-the-specter-of-separatism/
## AUTOREN
Kourosh Ardestani
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