# taz.de -- Nach Anschlag in Paris: Getötet im Land der Zuflucht | |
> Nach dem Angriff auf ein kurdisches Kulturzentrum in Paris gibt der Täter | |
> ein rassistisches Motiv an. Die kurdische Gemeinde hat einen anderen | |
> Verdacht. | |
Bild: Eng zusammenrücken: Demonstrant:innen gedenken am Montag in Paris der Op… | |
Paris taz | William M. verließ am Freitagmorgen vergangener Woche schon vor | |
sieben Uhr die Pariser Wohnung seiner Eltern, um „Ausländer“ zu erschieße… | |
Mit einer Pistole, vier Magazinen und 25 Schuss Munition in der Tasche fuhr | |
er zunächst in die Vorstadt Saint-Denis, in der viele Eingewanderte leben. | |
Doch in der Banlieue im Norden seien zu der frühen Stunde kaum Menschen | |
auf der Straße unterwegs gewesen, gab William M. hinterher laut | |
Staatsanwaltschaft zu Protokoll. | |
Außerdem habe er Schwierigkeiten gesehen, seinen Colt 45 unter der Jacke zu | |
laden. Der pensionierte Lokführer ging deshalb wenige Stunden später zum | |
kurdischen Kulturzentrum Ahmet Kaya in der Pariser Rue d’Enghien. Dort | |
erschoss er zwei Männer und eine Frau und verletzte in einem kurdischen | |
Friseurladen ein paar Häuser weiter drei Männer, bevor ein Kunde ihn | |
überwältigte. | |
In ersten Verhören gab William M. einen „Hass auf Ausländer, der völlig | |
krankhaft geworden ist“, zu Protokoll. Ihn selbst beschrieben Angehörige | |
als „depressiven, schweigsamen, einzelgängerischen“ Mann. Am Freitag habe | |
er sich mit seiner letzten Kugel das Leben nehmen wollten, teilte | |
Staatsanwältin Laure Beccuau mit. „Aber bevor ich mich umbringe, hatte ich | |
das Bedürfnis, Migranten, Ausländer zu ermorden“, zitierte Beccuau den | |
69-jährigen Franzosen, der vorübergehend in die Psychiatrie überstellt | |
wurde. | |
Auslöser für seinen Hass sei ein Überfall auf seine Wohnung 2016 gewesen, | |
bei der er den offenbar ausländischen Dieb in die Flucht schlug. Das | |
kurdische Kulturzentrum kannte er, weil es nicht weit von der elterlichen | |
Wohnung entfernt ist. Auch wenn die Staatsanwaltschaft beim Täter kein | |
besonderes Interesse für die Situation der Kurd:innen feststellte, warf | |
der Rentner diesen doch vor, im Kampf gegen die Terrororganisation | |
[1][„Islamischer Staat“ Gefangene gemacht zu haben], statt die | |
Dschihadisten zu töten. Eine Auswertung seines Computers und seines | |
Smartphones ergab keine Verbindung zu einer „extremistischen Ideologie“. | |
Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft wurde deshalb nicht eingeschaltet. | |
## Täter bereits für rassistischen Angriff verurteilt | |
Bereits vor einem Jahr hatte William M. einen rassistisch motivierten | |
Angriff verübt: Er griff mit einem Säbel ein Lager von Geflüchteten im 12. | |
Stadtbezirk von Paris an und zerstörte die Zelte der dort lebenden | |
Menschen. Nach einem Jahr in Haft wurde er am 12. Dezember unter Auflagen | |
entlassen. | |
Der Demokratische Kurdenrat in Frankreich (CDKF), der seinen Sitz ebenfalls | |
in der Rue d’Enghien hat, bezweifelt das rein rassistische Motiv der Tat | |
und sieht sich als Ziel eines aus der Türkei gesteuerten Attentats. Es | |
handele sich um einen „infamen terroristischen Angriff“, der nach mehreren | |
Drohungen durch die Türkei erfolgt sei, hieß es in einer Pressemitteilung. | |
Der CDKF warf Frankreich „Nachsicht“ mit dem „faschistischen türkischen | |
Regime“ vor. Diese Nachsicht öffne die Türen für Anschläge gegen Kurden in | |
Frankreich. Am Sonntag wurde laut der kurdischen Nachrichtenagentur Firat | |
ein junger Kurde in einem Friseurladen in Roubaix im Norden Frankreichs von | |
einem Türken mit dem Messer verletzt. | |
Kurd:innen, die die Zeitung Libération im Zentrum Ahmet Kaya befragte, | |
äußerten die Ansicht, dass William M. im Gefängnis von protürkischen | |
Insassen manipuliert und so zu dem Angriff verleitet worden sei. | |
Innenminister Gérald Darmanin kündigte nach den tödlichen Schüssen einen | |
verschärften Schutz für kurdische und türkische Einrichtungen an. | |
Vor fast genau zehn Jahren waren in der Rue Lafayette unweit des kurdischen | |
Kulturzentrums drei Kurdinnen getötet worden. Hinter der Tat am 9. Januar | |
2013 wurde der türkische Geheimdienst vermutet, doch der Hauptverdächtige, | |
ein türkischer Nationalist, starb 2017 kurz vor Prozessbeginn. Die | |
Angehörigen setzten 2019 neue Vorermittlungen durch, die allerdings durch | |
die Weigerung der französischen Regierung behindert werden, dafür | |
Geheimdienstdokumente freizugeben. | |
Am Freitagabend und am Samstag versammelten sich in Paris Tausende zu | |
Gedenkdemonstrationen für die Opfer des Anschlags in der Rue d’Enghien. | |
Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Demonstrierende warfen | |
Gegenstände auf die Beamt:innen, die mit dem Einsatz von Tränengas | |
reagierten. Autos und Mülltonnen brannten, Bushaltestellen wurden zerstört. | |
Der Geschäftsmann Remo Kurt warb in der Zeitung Le Monde um Verständnis für | |
die Demonstrierenden. „Sie haben gesehen, wie ihre Angehörigen in der | |
Türkei festgenommen und sogar getötet wurden.“ Es sei deshalb für sie | |
unerträglich, dass das nun in dem Land erneut passiere, in dem sie Zuflucht | |
gesucht hätten. „Sie können sich nicht vorstellen, dass es eine andere | |
Gewalt als den türkischen Staat gibt, die sie im Visier hat.“ | |
26 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christine Longin | |
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