# taz.de -- Rassistische Attacke in Frankreich: Zwei Lesarten eines Angriffs | |
> Die kurdische Gemeinde in Frankreich sieht die Türkei hinter den | |
> tödlichen Schüssen in Paris. Sie fordert die Freigabe von | |
> Geheimdienstdokumenten. | |
Bild: Nach dem Anschlag: Demonstration am 26. Dezember in Paris | |
Paris taz | Billige Grillrestaurants und hippe Bars wechseln sich im | |
Pariser Viertel um die Rue d’Enghien ab. Nur einige Restaurants und Läden | |
zeugen heute noch davon, dass in den Straßen hinter der Porte Saint-Denis | |
früher zahlreiche Kurd:innen wohnten. Viele Kinder der Einwander:innen, | |
die ab 1965 ins Land kamen, sind inzwischen woanders hingezogen. Rund | |
300.000 Kurd:innen leben laut der Schätzung des Soziologen und | |
Kurden-Experten Adel Bakawan derzeit in Frankreich, die meisten davon | |
türkischer Herkunft. | |
Ziel eines rassistischen Angriffes war die kurdische Gemeinde, die vor | |
allem im Großraum Paris und im Elsass zu finden ist, bislang noch nie. Doch | |
[1][am vergangenen Freitag erschoss ein 69-jähriger Franzose], der nach | |
eigenen Angaben einen „krankhaften Hass“ auf Ausländer:innen hegt, zwei | |
Männer und eine Frau vor dem kurdischen Kulturzentrum Ahmet Kaya in der Rue | |
d’Enghien. | |
Gegen den pensionierten Lokführer läuft seit Montagabend ein | |
Ermittlungsverfahren wegen Mordes aus rassistischem Motiv sowie wegen | |
versuchten Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes. Der Rentner, der seither | |
in Untersuchungshaft sitzt, war in dem Viertel aufgewachsen und kannte | |
daher das kurdische Kulturzentrum. | |
Laut seinen Eltern hegte er seit einem Überfall auf sein Haus im Jahr 2016, | |
den drei Männer aus der Maghreb-Region verübten, Hass gegen | |
Ausländer:innen. Bereits vor einem Jahr hatte der mutmaßliche Täter ein | |
Zeltlager von Geflüchteten in Paris angegriffen und zwei Männer verletzt. | |
Er saß dafür ein Jahr lang im Gefängnis und kam erst wenige Tage vor seiner | |
Tat unter Auflagen wieder frei. Den in kurdischen Kreisen geäußerten | |
Verdacht, dass ihr Sohn im Gefängnis von Mitarbeitern des türkischen | |
Geheimdienstes manipuliert worden sei, weist seine Mutter in der Zeitung Le | |
Parisien zurück. „Das nervt mich“, sagte die 90-Jährige, die ihren Sohn | |
zuletzt in ihrer Zweizimmerwohnung beherbergte. | |
## Ungeklärtes Attentat vor zehn Jahren | |
Die kurdische Gemeinde sieht dagegen die Türkei hinter der tödlichen | |
Attacke. Der Dachverband Demokratischer Kurdischer Rat in Frankreich (CDKF) | |
sprach von einem „infamen terroristischen Angriff“ und warf der | |
französischen Regierung Nachsicht mit dem „faschistischen türkischen | |
Regime“ vor. Kurdische Aktivist:innen forderten, die | |
Antiterrorstaatsanwaltschaft einzuschalten. Doch Staatsanwältin Laure | |
Beccuau verweigerte diesen Schritt, da eine Untersuchung von Computer und | |
Telefon des mutmaßlichen Täters keine extremistische Ideologie ergeben | |
habe. | |
„Es ist viel zu früh, um eine Hypothese zu verfolgen und die andere | |
auszuschließen“, warnt Experte Bakawan, der selbst kurdischer Herkunft ist, | |
im Gespräch mit der taz. Der Wissenschaftler am französischen Institut für | |
Internationale Beziehungen (Ifri) verweist auf ein weiteres Attentat, das | |
zehn Jahre zurück liegt. | |
Damals waren in der Rue Lafayette unweit des kurdischen Kulturzentrums drei | |
Kurdinnen getötet worden. Hinter der Tat am 9. Januar 2013 wurde der | |
türkische Geheimdienst vermutet, doch der Hauptverdächtige, ein türkischer | |
Nationalist, starb 2017 kurz vor Prozessbeginn. Die Angehörigen der Opfer | |
setzten 2019 neue Vorermittlungen durch, die allerdings durch die Weigerung | |
der Regierung behindert werden, dafür Geheimdienstdokumente freizugeben. | |
Bakawan bezeichnet Forderungen der kurdischen Gemeinde, die Dokumente | |
offenzulegen, als „legitim“. Ein generelles Misstrauen der [2][Kurd:innen | |
gegen den französischen Staat] kann der Soziologe allerdings nicht | |
erkennen. Immerhin habe Präsident Emmanuel Macron Vertreter der syrischen | |
Kurden, die gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ kämpfen, 2019 | |
im Élysée-Palast empfangen. | |
Nach dem Angriff in der Rue d’Enghien war es bei zwei Trauerkundgebungen | |
für die Opfer zu Ausschreitungen gekommen. Zahlreiche Demonstrierende | |
schwangen die rot-gelb-grünen Fahnen der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die | |
in der EU als Terrororganisation eingestuft ist. Auf einem Plakat wurden | |
zudem der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan als „Mörder“ | |
bezeichnet. Die Türkei warf Frankreich vor, antitürkische Propaganda zu | |
tolerieren und bestellte den französischen Botschafter ein. | |
28 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Anschlag-in-Paris/!5901338 | |
[2] /Anschlag-auf-kurdisches-Kulturzentrum/!5901337 | |
## AUTOREN | |
Christine Longin | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Kurden | |
PKK | |
Türkei | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Streik | |
Schwerpunkt Türkei | |
Kurden | |
Kurden | |
Schwerpunkt Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Protest gegen Morde in Paris: Kurden aus ganz Europa gedenken | |
Tausende Menschen haben sich in Paris versammelt. Sie erinnern an den | |
Dreifachmord vor 10 Jahren sowie an den rassistischen Anschlag vor | |
Weihnachten mit drei Toten. | |
Ärztestreik in Frankreich: Wut in weißen Kitteln | |
Bei einer Demonstration in Paris fordern freipraktizierende Ärzt*innen | |
mehr Geld. Dabei geht es ihnen um viel mehr als nur den Verdienst. | |
Wahlkampf in der Türkei: Solidarität unter Stadtoberhäuptern | |
Als größter Rivale Erdoğans steht Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu unter | |
Druck. Europaweit solidarisieren sich Amtskollegen mit ihm. | |
Anschlag auf kurdisches Kulturzentrum: Hoch angesehen | |
Kämpferin gegen den IS, politischer Flüchtling aus der Türkei: Die | |
Todesopfer des Anschlags in Paris waren geschätzte Teile der kurdischen | |
Gemeinde. | |
Nach Anschlag in Paris: Getötet im Land der Zuflucht | |
Nach dem Angriff auf ein kurdisches Kulturzentrum in Paris gibt der Täter | |
ein rassistisches Motiv an. Die kurdische Gemeinde hat einen anderen | |
Verdacht. | |
Migrationspolitik in Frankreich: Ein Koch für die Sans Papiers | |
Spitzenkoch Thierry Marx fordert die französische Regierung auf, allen | |
Schwarzarbeitern der Gastronomie einen Aufenthaltstitel zu gewähren. |