# taz.de -- Buch über demokratische Gesellschaft: Schutz gegen Freiheit | |
> Sind wir verletzlicher geworden? Scheitern deshalb Debatten? Frauke | |
> Rostalski gleicht die Debattenkultur mit demokratischen Prozessen ab. | |
Bild: Verändert sich das Zu- und Miteinander? | |
Seit ein paar Jahren ist eine bemerkenswerte Veränderung in der | |
Debattenkultur zu beobachten. In immer mehr Beiträgen geht es nicht länger | |
um ein klar umrissenes Thema, sei es zum Beispiel das Asylsystem, die | |
Klimakrise oder die Gefahr von rechts, sondern um die Art und Weise, wie | |
diese und andere Themen verhandelt werden. | |
Die Gesellschaft als Ganze, mindestens aber die Mechanik ihrer Diskurse | |
stehen zur Disposition, gilt doch als ausgemacht, dass etwas im Argen liegt | |
mit der politischen Öffentlichkeit. | |
Einzig über den Grund für diese Schieflage ist man sich uneins. Ist das | |
Problem ein kommunikatives, worauf Jürgen Habermas hindeutete, als er in | |
Hinblick auf Digitalisierung und soziale Medien seine Thesen über die | |
Struktur der Öffentlichkeit aktualisierte? | |
Tobt untergründig ein neuer Klassenkampf, wie ihn [1][der Soziologe Andreas | |
Reckwitz] skizzierte, mit eher konservativ eingestellten Landbewohnern auf | |
der einen und kosmopolitischen Akademikern auf der anderen Seite? Oder geht | |
das Konfliktpotenzial vom Individuum aus, wie die Philosophin Svenja | |
Flaßpöhler mit ihrem Buch „Sensibel“ nahelegte? | |
## Gesteigerte Verletzlichkeit | |
[2][Frauke Rostalski, Professorin für Rechtswissenschaft und Mitglied des | |
Deutschen Ethikrats], zitiert sie alle drei in ihrem Buch „Die vulnerable | |
Gesellschaft“, setzt aber einen neuen Fokus. Für sie ist eine gesteigerte | |
Verletzlichkeit der Grund, aus dem die Verhandlung politischer Inhalte | |
scheitert. Den Begriff fasst sie sehr weit. | |
Auch ein CDU-Vorsitzender fällt im Zweifel in die Gruppe der Vulnerablen, | |
wenn er sich von einem Argument, einer Haltung oder auch nur einer Person | |
getriggert fühlt. Entscheidend ist also der Grad des emotionalen | |
Engagements in einer Debatte. Je höher er ausfällt, umso wahrscheinlicher | |
sind Nachteile für den Diskurs, da dieser darauf angewiesen ist, dass die | |
Argumente aller Beteiligter nüchtern gewürdigt werden. | |
Genau das Gegenteil geschieht in einer Auseinandersetzung mit den | |
„Diskursvulnerablen“. Sie fühlen sich persönlich von ihren Kontrahenten | |
angegriffen, lassen diese daher nicht zu Wort kommen, ignorieren ihre | |
inhaltlichen Argumente und delegitimieren ihre Positionen. | |
Solche Konflikte werden unter dem [3][Stichwort Cancel Culture l]ängst | |
landauf, landab diskutiert, und Rostalski trägt nicht wirklich viel Neues | |
bei, wenn sie mit Habermas darauf hinweist, dass demokratische Prozesse auf | |
eine funktionierende Debattenkultur in der Gesellschaft angewiesen sind, | |
und dass diese durch das Canceln im Speziellen, im Generellen aber dadurch | |
gestört wird, dass politische Argumente immer öfter als persönliche | |
Attacken empfunden werden. | |
## Schutz gegen Freiheit | |
Deutlich aufschlussreicher ist der umfangreichere Teil des Buchs, in dem | |
sich Rostalski auf die juristischen Folgen verbreiteter Vulnerabilität | |
konzentriert. Wichtig ist für ihre Argumentation, dass „vulnerabel“ kein | |
Attribut ist, das lediglich Minderheiten und Marginalisierten zukommt. | |
Wie der Titel ihres Buchs schon sagt, attestiert sie der gesamten | |
Gesellschaft Vulnerabilität, was bedeutet, dass ihre Mitglieder die eigene | |
Verletzlichkeit betonen und gerne bereit sind, Schutz gegen Freiheit | |
einzutauschen. Ihr zufolge reagiert der Staat zunehmend auf dieses | |
Bedürfnis. | |
Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte, aber so einfach ist es nicht. Denn | |
wann immer Verwaltungen, Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden neue | |
Schutzfunktionen übernehmen, verengen sich auch die Spielräume der Bürger, | |
selbstständig und eigenverantwortlich zu agieren. „Was der einzelne Mensch | |
an Freiheit aus seiner eigenen Sphäre wegschiebt, landet in aller Regel | |
unmittelbar bei staatlichen Akteuren, die hierauf durch den Erlass neuer | |
Gesetze und den Ausbau der eigenen Institutionen reagieren.“ | |
Ein interessantes Beispiel, das Rostalski im Buch diskutiert, ist das im | |
Koalitionsvertrag festgelegte Vorhaben der Ampelregierung, Schwangere auf | |
dem Weg zur Beratungsstelle oder zur Praxis zu schützen, in der sie einen | |
Abbruch vornehmen lassen wollen. Abtreibungsgegner sollen sich laut einem | |
Gutachten der Heinrich-Böll-Stiftung künftig einer Ordnungswidrigkeit | |
schuldig machen, wenn sie die Frauen unterwegs ansprechen. Für Rostalski | |
würde damit auch die Freiheit der Schwangeren eingeschränkt. | |
## Risiken vermeiden | |
Das leuchtet nicht intuitiv nicht ein, trifft aber formal zu. Denn schützt | |
der Staat eine Frau vor dieser potenziellen Störung, so nimmt er ihr auch | |
die Möglichkeit, auf die Begegnung zu reagieren, sei es etwa dadurch, dass | |
sie den kritischen Impuls aufnimmt und auf ihren Entscheidungsprozess | |
wirken lässt, oder aber ihren Beschluss gegenüber der fremden Person | |
verteidigt und womöglich weiter festigt. | |
Rostalski betont darüber hinaus, dass es aus juristischer Perspektive nicht | |
selbstverständlich ist, derartige Situationen so parteiisch zu bewerten, | |
wie es das Gutachten der Böll-Stiftung vorsieht. „Der Fokus auf die | |
Schwangere scheint dabei vergessen zu lassen, dass ihrer Rechtsposition | |
berechtigte Interessen der anderen Beteiligten entgegenstehen – deren | |
Meinungs- und häufig Religionsfreiheit, aber gerade auch das Lebensrecht | |
des ungeborenen Kindes, dessen Schutz die Ansprache der Mutter kurz vor | |
Durchführung der Abtreibung dienlich sein kann. Hat die Schwangere ein | |
Recht, hiervon verschont zu bleiben?“ | |
Rostalski beantwortet diese Frage nicht eindeutig, sondern legt die | |
rechtlichen Konflikte hinter dem Einzelfall offen. Auch bei den weiteren | |
Beispielen mit emotional so aufgeladenen Themen wie Sterbehilfe, sexuelle | |
Selbstbestimmung, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen hält sie sich über | |
weite Strecken zurück mit persönlichen Einschätzungen. | |
Denn es geht ihr nicht darum, inhaltliche Positionen zu einzelnen | |
Rechtsfragen zu vertreten. Sie will stattdessen eine dringend notwendige | |
Debatte über die politischen Risiken anstoßen, die eine Gesellschaft | |
eingeht, deren vornehmliches Ziel es ist, Risiken generell zu vermeiden. | |
## Entpolitisierte Räume | |
Mit Nachdruck weist sie darauf hin, dass eine Ausweitung des Rechts direkt | |
verbunden ist mit einem Verlust an Selbstverantwortung und persönlicher | |
Gestaltungsmacht sowie von Möglichkeiten privater Konfliktlösung. Wo immer | |
der Staat ordnend eingreift, nimmt er den Einzelnen aus der Verantwortung | |
und entpolitisiert damit weitere Räume. | |
Rostalski mutet den Vulnerablen mehr zu, als diese selbst sich | |
abzuverlangen bereit sind. Ihr Einspruch gewinnt an Dringlichkeit, weil der | |
Einzelne und die Gesellschaft im Dauerzustand der Vulnerabilität | |
essenzielle Fähigkeiten wie das Aushandeln, Diskutieren und Streiten | |
verlernen. Womöglich trägt diese Missachtung demokratischer Tugenden | |
bereits jetzt zu den vielfach beklagten Problemen in der politischen | |
Öffentlichkeit bei. | |
Diese Diskursvulnerabilität könnte im schlechtesten Falle zu einer tieferen | |
Verletzlichkeit nicht nur des Bürgers und der Bevölkerung, sondern auch der | |
Demokratie führen, die dann womöglich nur noch Schutzbedürftige und keine | |
Verteidiger mehr kennt. Frauke Rostalskis warnendes Buch erscheint insofern | |
keinen Tag zu früh. | |
21 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Soziologe-ueber-Corona-Massnahmen/!5673083 | |
[2] https://rostalski.jura.uni-koeln.de/prof-dr-dr-frauke-rostalski | |
[3] /Sammelband-ueber-Cancel-Culture/!5921330 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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