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# taz.de -- Sammelband über Cancel Culture: Die Argumente der anderen
> Der Hanser Verlag versammelt Beiträge zum Thema Canceln. Die aktuelle
> Anthologie bemüht sich redlich, den Kulturkampf zu verlassen.
Bild: Bewahrenswerte literarische Figur oder rassistische Stereotype – um Jim…
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Canceln regelmäßig sein
Gegenteil bewirkt. Der öffentlichkeitswirksame Versuch, ein Buch, einen
Film oder den Auftritt einer Person zu verhindern, führt zuverlässig zu
einer Steigerung von Prominenz, zu einem Mehr an Debattenbeiträgen,
Veranstaltungen und Büchern.
Der Hanser Verlag enthebt den Reizbegriff mit seiner Anthologie „Canceln –
Ein notwendiger Streit“ nun dem Nahkampf. Der Band möchte erkennbar dazu
beitragen, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, oder traut wenigstens den
Anhängern eines Lagers die Aufgabe zu, über mehrere Seiten Argumente der
Gegenseite zu würdigen. Den Anfang macht Zeit-Redakteur Ijoma Mangold,
indem er die Fronten klärt.
Mangold ist [1][bekannt als gut gelaunter Intellektueller,] den seine Lust
am Widerspruch im tendenziell linksliberalen Umfeld des Feuilletons zum
Konservatismus neigen lässt. Ihn störten vor allem die ungleichen
Voraussetzungen in dem Konflikt. Lange behaupteten identitätspolitisch
engagierte Linke, es gäbe gar keine Cancel Culture, und die so
verunglimpften Einlassungen wären nichts anderes als
zivilgesellschaftliches Engagement.
Damit ist nun Schluss, da auch die Akteure in diesem Kulturkampf benannt
sind. Wenn unliebsame Personen als Rechte, als TERFs oder als alte weiße
Männer niedergeschrien werden, müssen die cancelnden Personen nun auch
damit leben, als „Woke“ dazustehen. Mit der Konstatierung dieser
„Waffengleichheit“ verabschiedet sich Mangold auch schon aus der Debatte
und räumt sogar ein: „Vielleicht haben am Ende die Vertreter der
Identitätspolitik mit ihren Positionen und Ansichten recht, wer kann das
schon wissen, das werden wir in zwanzig Jahren im Rückblick klarer sehen.“
Die politische Öffentlichkeit wäre demnach also wieder funktionsfähig, da
nun ein Gleichgewicht zwischen antagonistischen Kräften hergestellt wäre.
Diese Analyse setzt jedoch voraus, dass die Verschärfung des Umgangs
miteinander vor allem in den sozialen Netzwerken keinen größeren Schaden
verursacht, mithin, dass sich am Ende alle Beteiligten doch noch Habermas'
„zwanglosem Zwang des besseren Arguments“ beugen.
## Wie im Kampf gegen Barbaren
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann würde hier wohl widersprechen, er sieht
die Kultur im Ganzen in Gefahr, und zwar durch Ignoranz. Seine Verteidigung
aufgrund rassistisch verstandener Textstellen inkriminierter Denkerinnen
und Denker [2][wie Immanuel Kant,] Ernst Moritz Arndt oder Hannah Arendt
gipfelt im Gegenvorwurf, es ginge den Kritikern lediglich darum, sich an
der eigenen Gewalt über den Diskurs zu berauschen.
„Cancel Culture erweist sich nur allzu oft als Ressentiment im hehren
Gewande der Moral, selbstgefällig und denkfaul, aber machtbewusst.“
Überspitzt gesagt, schießt Liessmann hier gegen eine Horde Barbaren, die
nicht fähig sind, bestimmte Sätze in Bezug auf ein Gesamtwerk einzuordnen.
Doch steckt wirklich Denkfaulheit dahinter? Näher liegt, dass Liessmann
einem Missverständnis aufsitzt, während die Kritiker ihre Empörung durchaus
bewusst und strategisch einsetzen. Wenn Studenten sich weigern, Kant zu
lesen, weil sie auf Twitter Screenshots rassistischer Passagen aus dessen
Werk entdeckt haben, dann verstehen sie den Königsberger eben nicht als
Philosophen und Wegbereiter der Moderne, sondern als eine sehr konkrete
politische Figur.
Und natürlich ist diese Figur nicht auf lautere Weise mit dem Kant des
Konrad Paul Liessmann in Einklang zu bringen. Diese Inkongruenz
überzubewerten, geht am Thema vorbei. Sie ist eben einer Politisierung
geschuldet, die vor ehedem gut geschützten Institutionen wie der
akademischen Philosophie nicht Halt macht.
## Das Silberbesteck des Denkens
Vom intellektuellen Standpunkt aus betrachtet nicht weniger enttäuschend
als absichtsvoll verkürzte Lektüren ist im Übrigen die aggressive Vehemenz
hochgebildeter Cancel-Kritiker wie Liessmann, sofern sie eben nur die
naheliegendsten und schlechtesten, das heißt persönliche Motive
unterstellen. Selbst wenn diese in vielen Fällen zutreffen sollten, gälte
es doch noch etwas mehr zu entdecken als egozentrische Querulanz.
Treten junge Identitätspolitiker mit unredlichen Mitteln auf den Plan, dann
womöglich auch deshalb, weil sie genau wissen, dass ihre Mütter und Väter
mit dem blitzblank polierten Silberbesteck des Denkens (Universalismus,
Konstruktivismus, Postmoderne Theorie) nicht gegen Rassismus, Kolonialismus
oder Sexismus ankamen.
Ob der Furor jedoch tatsächlich zielführend ist, steht auf einem ganz
anderen Blatt. Johannes Schneider, ebenfalls Zeit-Redakteur, bringt seine
Feldforschung in Bierzelten in die Debatte ein. Dort bemerkte er, dass die
Skandalisierung des [3][misogynen Partyhits „Layla“] das Verhalten der
versammelten Festgemeinden stark verändert hatte. Zuvor sei das Lied
durchaus ironisch gesungen worden, „mit einem feinen Bewusstsein dafür,
dass man hier die unterste Schublade aufzieht, auch um sich dabei als
lächerlich verrenkte Figur selbst beobachten zu können“.
Danach sei „Layla“ zur Freiheitshymne verkommen. „Wie laut es dann in den
Zelten wurde, jedes der unzähligen Male, die das vermeintlich verbotene
Lied erklang, das hatte schon etwas Unheimliches, weil Aufgehetztes.“ Man
erkennt hier, wie leicht der Ruf nach Anstand ins gegrölte Gegenteil
umschlägt.
## Folgen aggressiver Rhetorik
Die Ansprache ist dabei oft entscheidender als die Argumente. Es ist nicht
nur Gerede, dass sich viele Menschen, die sich ein Leben lang als liberal
oder sogar links verstanden, rasch bevormundet und missverstanden fühlen,
wenn sie die Maßgaben einer zeitgeschichtlich jungen Identitätspolitik
verfehlen. Anstatt in einen Dialog zu treten, riskieren Aktivisten, diese
Milieus mit ihrer aggressiven Rhetorik zu verschrecken.
Einige Beiträge des Bands versuchen beide Lager wieder füreinander zu
interessieren. So legt Asal Dardan mit unbestreitbarem Interesse an Michael
Ende dar, warum dessen Geschichten von Jim Knopf Kindern heute keine
zeitgemäßen Botschaften mehr vermitteln. Die in derlei Fragen wegen ihrer
humorvollen Besonnenheit ohnehin unverzichtbare Mithu Sanyal verteidigt
ihre Lieblingsautorin Enid Blyton dagegen trotz aller politischen
Anachronismen in deren Werk.
Und die Wissenschaftsjournalistin Anna-Lena Scholz gibt sogar Hinweise, wie
der Umgang mit Cancel Culture weitergehen könnte. Sie rekapituliert den
Skandal um Dieter Nuhr und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Diese
hatte den Komiker als Protagonisten einer Marketing-Kampagne engagiert,
sein Statement aber nach einem Shitstorm gleich wieder gelöscht.
## Schema des Kräftegleichgewichts
Scholz kritisiert die vorschnelle Reaktion der DFG und ihre
unprofessionelle Kommunikation. Sie erkennt in dem Fall jedoch auch große
gesellschaftliche Wertschätzung für die Wissenschaft und eine Bereitschaft,
sich über ihre Bedingungen und Ziele auszutauschen. Vor allem aber betont
sie, dass das Canceln lediglich eine Option für bedrängte Verlage,
Veranstalter oder Institutionen ist. „Wo Cancel Culture diagnostiziert
wird, artikuliert sich eine Angst vor dieser Möglichkeit.“
Das Schema eines Kräftegleichgewichts zweier Lager kann damit ergänzt
werden, denn zum Canceln gehören immer drei. Institutionen sind nicht
einfach die Spielfelder, auf denen Linke und Konservative um Deutungshoheit
konkurrieren. Sie können selbst aktiv und ihren eigenen Maßstäben folgend
reagieren.
Cancel Culture könnte für sie sogar eine Chance sein, die eigenen Werte und
Maximen klar zu definieren, um sie im Falle des Falles auch in der
Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Mit etwas Optimismus wäre es somit
vorstellbar, dass Canceln in der nahen Zukunft ein übliches Instrument der
politischen Auseinandersetzung ist, das gezielt Aufmerksamkeit bündelt,
jedoch ohne dass dabei eine Partei die Nerven zu verlieren bräuchte.
27 Mar 2023
## LINKS
[1] /Autobiografie-eines-Journalisten/!5435291
[2] /Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764
[3] /Armee-Musikerinnen-spielen-Layla/!5872371
## AUTOREN
Michael Wolf
## TAGS
Identitätspolitik
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