# taz.de -- Neuer Roman von Juli Zeh und Simon Urban: Debatten bis aufs Blut | |
> Cancel Culture, Wokeness, Aktivismus: Der Roman „Zwischen Welten“ von | |
> Juli Zeh und Simon Urban will zeitgemäß sein. Das klappt nur nicht. | |
Bild: Getrennt gucken, zusammen schreiben: Juli Zeh (l.), Simon Urban | |
Fünfzehn Stellen zu Martin Walser gibt es in diesem Roman, den Juli Zeh mit | |
einem Koautor, Simon Urban, geschrieben hat. Um mal nicht mit dem | |
Naheliegenden zu beginnen: Was hat es denn eigentlich damit auf sich? | |
Nun. Beide Hauptfiguren, die sich hier, obwohl jeweils beruflich im | |
Dauerstress, über 400 Seiten lang in aller Ausführlichkeit Mails und | |
Whatsapp-Nachrichten schicken, sich dabei meistens streiten und manchmal | |
auch trösten, verehren Walser. Theresa, die den Hof ihres Vaters geerbt | |
hat, hat Walser früher zur Entspannung gelesen, und ihren Mann hat sie | |
schon mal mit der Anselm-Kristlein-Trilogie geschlagen (eine der Stellen, | |
an denen man auch lachen muss). | |
Stefan wiederum, der bei einer Hamburger Wochenzeitung im Feuilleton | |
arbeitet und sich selbst ständig „Kulturchef“ nennt (was, nebenbei, ein | |
echter Kulturchef niemals machen würde), fühlt sich, als es schließlich | |
rund um seine Zeitung hoch hergeht, an die Proteste um Walsers | |
Paulskirchen-Rede („Moralkeule Auschwitz“) erinnert. | |
Damit nicht genug. Zusammen haben Theresa und Stefan als Studierende eine | |
Pilgerfahrt nach Nussdorf unternommen, und als die Dramaturgie des Buches | |
es vorsieht, dass sie sich wieder annähern, planen sie („Walser lebt ja | |
noch“) einen neuen Ausflug an den Bodensee. | |
Nun könnte man erwarten, dass der Roman an diesen Stellen [1][eine | |
historische Tiefenschärfe] gewinnt und die diskursiven Themen der Gegenwart | |
ein Stück weit erweitert. Tut er aber nicht. Martin Walser bleibt nur ein | |
Name. Weder wird thematisiert, was diese Figuren denn nun so an ihm | |
schätzen. Noch wird die Debatte um die Friedenspreisrede – die in der | |
Realität ganze Sammelbände füllt – irgendwie aufgeschlüsselt. | |
In der Figurenperspektive fungiert der Name Walser nur als Reminiszenz an | |
eine angeblich gute, übersichtliche Zeit, bis irgendwelche Studierenden | |
gegen ihn protestiert haben. | |
Da stutzt man. Ausgerechnet Walser. Der nun wirklich zeit seines Lebens | |
brodelnd in öffentlichen Streit verwickelt war. Der Bezug auf ihn hätte | |
zeigen können, dass es auch schon vor den sozialen Medien und ihren | |
Shitstorms Debatten bis aufs Blut gegeben hat, doch er wird | |
heruntergebrochen auf, ja auf was eigentlich? Auf einen Reflex, ein | |
Stöckchen, über das man, je nach Voreinstellung, springen kann oder auch | |
nicht. | |
Man kann die Walser-Erwähnungen entweder abnicken: Ah, Walser, den kenn ich | |
doch auch! Oder man kann abwinken: Und dann auch noch Walser – Juli Zeh mal | |
wieder! Doch in keinen von beiden Fällen wird das, was man sich schon | |
vorher gedacht hatte, in irgendeiner Weise erweitert oder auch nur | |
verschoben. | |
## Über Stöckchen springen | |
Das ist symptomatisch. In ihren Mails und Nachrichten halten sich diese | |
Theresa und dieser Stefan gegenseitig – und damit auch der Leserin und dem | |
Leser – immer wieder Stöckchen hin, eine ganze Stöckchenparade. Stefan | |
gendert und zeigt anfangs Verständnis für identitätspolitische Diskurse | |
rund um class, gender und race – was Theresa zu Aufregung und Widerspruch | |
herausfordert. Theresa ihrerseits erzählt zum Beispiel zwischendurch von | |
einem ihrer Angestellten auf dem Hof namens Christian, der für sie „der | |
feinste Mensch, den ich kenne“ ist, um nebenbei anzufügen: „AfD-Wähler, | |
übrigens.“ | |
Da muss Stefan wiederum schlucken: „Wow. Na, dann wundert mich gar nichts | |
mehr in Brandenburg.“ | |
Das ist eine der Stellen, an denen man die beiden Motoren, die diesen Roman | |
antreiben, arbeiten sieht. Es gibt zum einen den diskursiven Motor, er | |
läuft hochtourig, um so viele gegenwärtig talkshowfähige Themen ins Buch zu | |
schaufeln wie möglich. [2][Offene Briefe zum Ukrainekrieg,] Radikalisierung | |
der Klimabewegung, ausbleibender Regen, AfD in Ostdeutschland, Sturm aufs | |
Parlament, Veränderung der Presselandschaft durch die Digitalisierung, | |
antirassistische Sprachpolitik – kommt alles vor, aufgrund der | |
antagonistischen Ausrichtung der Hauptfiguren inklusive Pro und Contra. | |
## In Bubbles abdriften | |
Zum anderen gibt es den didaktischen Motor. Auch er muss schuften, denn der | |
Clou des Buches liegt darin, die beiden Kommunikationspartner bei allem | |
Streit, anstatt sie in ihre jeweiligen Bubbles abdriften eben doch | |
beieinander bleiben zu lassen. Was zu einer Vielzahl zitierbarer Sentenzen | |
führt: „Statt konstruktiven Kompromissen blüht erbarmungsloser | |
Vernichtungswille“, heißt es. Oder: „Ist Kommunikation zu einem kollektiven | |
Verbrechen geworden?“ Oder: „Nur weil jemand jung ist, hat er nicht | |
automatisch Recht.“ Oder: „Die sogenannten Qualitätsmedien haben ihren | |
Kompass verloren. Das wird sich rächen.“ | |
Stimmt möglicherweise alles irgendwie oder auch nicht. Doch vor allem: Wenn | |
sich beim Lesen eines Romans ständig der Merksatzdetektor rührt, ist das | |
literarisch kein gutes Zeichen. Es ist Ausdruck dessen, dass man die | |
Figuren als sprachlich geformte Kunstfiguren gar nicht ernst nimmt, sondern | |
als Sprachrohre begreift. | |
Und wie sollte man Figuren auch ernst nehmen können, die, wie dieser | |
Stefan, von sich selbst sagen: „Danach saß ich hier mit meinem neuen | |
MacBook in meiner renovierten Altbauwohnung in der offenen Bulthaup-Küche | |
an der Frühstücksbar, trank [3][einen Fair-Trade-Kaffee] aus meiner | |
sündhaft teuren Siebträger-Maschine, und plötzlich dröhnte mir die Stille | |
dermaßen in den Ohren …“ Was einem da beim Lesen wirklich in den Ohren | |
dröhnt, das ist die sorgsam komponierte Klischeedichte. | |
## Ausgegrenzte Jugendliche | |
Selbstverständlich wird dieses Buch ein Bestseller werden, das ist so | |
sicher wie die Betroffenheit, die sich einstellt, wenn Jugendliche unter | |
Ausgrenzung in der Schule leiden – was Zeh und Urban weidlich ausnutzen, um | |
mögliche psychische Auswirkungen eines Shitstorms auf die betroffene | |
Familie zu illustrieren. Was aber hindert diesen Roman daran, ein wirklich | |
interessantes Buch zu sein? | |
Es ist nicht das Thema, zu dem sich der Plot irgendwann verdichtet. Das | |
Verhältnis von journalistischer Unabhängigkeit und gesellschaftlichem | |
Aktivismus wird derzeit unter den Bedingungen von Internet und | |
Generationswechsel tatsächlich neu ausgehandelt; klar, das könnte spannend | |
sein. Es ist auch nicht die Konstellation. Unterschiedliche Werdegänge, | |
Entfremdungen und Annäherungen, das ist genuin literarisches Material. Es | |
muss noch nicht einmal die etwas umständliche Form des modernisierten | |
Briefromans gewesen sein. | |
Es liegt vielmehr daran, dass Juli Zeh und Simon Urban auf der einen Seite | |
übermotiviert sind und es sich zugleich auf der anderen Seite zu leicht | |
machen. Übermotiviert sind sie im Plot-Aufwand. So müssen sich die Probleme | |
der Hauptfiguren wechselseitig spiegeln; beide müssen sie eine Entwicklung | |
durchlaufen und sich mit radikalisierten Versionen ihrer selbst | |
auseinandersetzen, Stefan mit jungen Umweltaktivisten, Theresa mit einer | |
radikalitätsbereiten Ökokämpferin. | |
Das alles können Zeh und Urban nur deswegen unterbringen, weil sie | |
leichtfertig mit ihrem Personal umgehen. Die Nebenfiguren, vor allem die | |
Umwelt- und Antirassismusbewegten, geraten zu reinen Abziehbildern. Die | |
komplizierten Aushandelsprozesse innerhalb einer hochkarätigen | |
Zeitungsredaktion werden auf wenige Knackpunkte heruntergekocht. Und die | |
Fantasien rund um Shitstorms, die gegenwärtig gesellschaftlich unterwegs | |
sind, trifft das Autorenteam zwar gut – aber den Ehrgeiz, den Mechanismen | |
dahinter auf den Grund zu gehen, hat es nicht. | |
## Dramaturgie eines Thrillers | |
Juli Zeh und Simon Urban haben sich für die Maßgaben eines Thrillers | |
entschieden: zuspitzen, eskalieren lassen, Showdown, Schlusspointe. Und | |
eben nicht für ambitioniertere literarische Vorhaben wie: Figuren und | |
Situationen durchfühlen, Komplexität zum Schimmern bringen, Leserinnen und | |
Leser etwas sehen und denken lassen, was sie nicht schon vorher gedacht | |
haben, den Bereich der menschlichen Erfahrungen erweitern, indem man | |
differenziert. | |
Was bleibt? Dies: Wer über Shitstorms, Cancel Culture, Wokeness, und wie | |
die Schlagworte alle lauten, tatsächlich etwas erfahren möchte, was er | |
nicht schon vorher wusste, oder auch wer nur wahrhaftig etwas über die | |
realen Menschen da draußen lesen möchte, ist hier – entgegen dem Bild von | |
Juli Zeh, das in der Öffentlichkeit zirkuliert – nicht gut bedient. | |
Und was die Thriller-Dramaturgie betrifft: Mit solchen Abziehbildern von | |
Gegenspielern würden Zeh und Urban in einer guten amerikanischen Serie etwa | |
nicht durchkommen; da hängt die Spannung oft auch an der Fallhöhe der | |
tatsächlich verhandelten Konflikte. In „Zwischen Welten“ aber geraten | |
selbst die eigentlich interessanten Reibungspunkte zwischen | |
journalistischer Unabhängigkeit und Aktivismus unter die Räder der | |
Klischees. | |
In einem Interview in der NZZ hat Juli Zeh ihre eigene Lesart so | |
formuliert: „Mit dem neuen Buch treten wir für Differenzierung ein, für | |
perspektivische Vielfalt, für Pluralismus, für die Ambivalenz und | |
Vielschichtigkeit der Literatur.“ Darauf kann man nach der Lektüre nur | |
antworten: Nein, das tut ihr eben nicht, das behauptet ihr nur. | |
28 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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