# taz.de -- Neuer Roman von Juli Zeh: Nackensteaks satt in Bracken | |
> Juli Zeh findet trotz Corona das schroffe wahre Leben auf dem Lande. Und | |
> betreibt im Roman „Über Menschen“ emotionale Lesererpressung. | |
Bild: Wie komme ich hier nach Bracken? Bushaltestelle im Brandenburgischen | |
Er heißt Gottfried, genannt Gote. Zur Begrüßung über den mannshohen | |
Gartenzaun hinweg stellt er sich mit dem forschen Satz vor: „Angenehm. Ich | |
bin hier der Dorf-Nazi.“ Wie nah kann man dieser literarischen Figur | |
kommen? Was muss man als Autorin literarisch auffahren, an welchen | |
dramaturgischen Schrauben muss man drehen, damit sie einem nahekommen kann? | |
Das sind einige der Fragen, die sich Juli Zeh beim Schreiben ihres neuen | |
Romans „Über Menschen“ offensichtlich gestellt hat. | |
Gote ist der Nachbar, auf den Dora, die stets über sich und ihr Leben | |
grübelnde Protagonistin des Romans, trifft, als sie sich im fiktiven Ort | |
Bracken im Brandenburgischen ein Haus kauft, um vor ihrer Beziehung mit | |
Robert, aber auch um aus der Stadt und vor Corona zu fliehen. | |
Bracken: ein paar Häuser, ein Feuerwehrhaus, eine Bushaltestelle, der | |
nächste Supermarkt ist 18 Kilometer entfernt. Gote: rasierter Schädel, | |
schroffes Benehmen. Juli Zeh spielt damit, dass man beim Lesen sofort | |
glaubt, dass solche Begegnungen tatsächlich stattfinden, da draußen in der | |
Pampa, wenn eine Städterin wie diese Dora, in der Gartenarbeit so | |
unerfahren wie im Dorfleben, aufs Land zieht. | |
Im stadtfernen Leben jenseits von Berlin kennt Juli Zeh sich gut aus. Das | |
weiß man spätestens seit ihrem [1][großen Roman „Unterleuten“,] der genau | |
wie jetzt dieses Bracken in einem fiktiven, aber in der Realität gut | |
verankerten Provinzort spielt. Auch in ihrem neuen Roman lässt Juli Zeh | |
dieses Wissen immer wieder aufblitzen. | |
## Menschen beim Normal-Sein zusehen | |
Die getragene Art zu sprechen, die fundamentale Bedeutung, die hier Autos | |
haben, die wie von den medialen Diskursen abgekoppelte Körperlichkeit der | |
Menschen – das alles gehört zu den Versatzstücken im literarischen Spiel, | |
das Juli Zeh in ihrem neuen Buch betreibt. | |
Es gibt Szenen, die einen denken lassen, dass „Über Menschen“ ein guter | |
Roman über das Ausmaß kultureller Fremdheit innerhalb Deutschlands hätte | |
werden können. Der Clash of Civilizations existiert tatsächlich, heißt es | |
einmal. „Nur nicht zwischen Morgen- und Abendland. Sondern zwischen Berlin | |
und Bracken.“ | |
Juli Zeh schafft es, dass man als Leser an dieser Stelle unwillkürlich | |
nickt. Aber im Kern geht es ihr um etwas anderes. Sie will keineswegs die | |
Fremdheit der Provinz beschreiben, und sie will auch nicht auf die | |
wechselseitigen Projektionen von Städtern und Landbewohnern aufmerksam | |
machen, sondern sie will das Land- und Dorfleben als die eigentliche | |
Normalität nahebringen. Und so lässt sie ihre Protagonistin beim Einkaufen | |
denn auch erst mal „den Menschen beim Normal-Sein“ zuschauen, um sie sofort | |
bemerken zu lassen: „Das tut gut.“ | |
Man ahnt zunächst noch gar nicht, wie sehr sich Gote als emotionales | |
Zentrum dieses Romans erweisen wird. Erst einmal diskreditiert Juli Zeh | |
nämlich das Leben in der Stadt. Dazu kommt ihr die [2][Coronapandemie | |
gerade recht.] Doras Ex-Beziehung Robert steigert sich vom journalistischen | |
Klimaaktivisten hin zum Coronamaßnahmen-Übererfüller mit Missionsdrang; | |
andere Meinungen oder Einschätzungen der Lage als seine eigene lässt er | |
nicht mehr zu. Damit ist er nicht allein. Ganz Berlin dreht hier angesichts | |
von Corona durch. | |
## Mitmachen wurde übermächtig | |
Streckenweise liest sich das Buch wie ein Thesenroman über die Gefahr | |
gleichgeschalteter Diskursgläubigkeit: „Das große Mitmachen wurde | |
übermächtig.“ Doch der erzählerische Impuls zielt auf die Differenz von | |
normal/nicht normal. Corona offenbart in diesem Roman nur, dass das Leben | |
in der Stadt eben nicht normal ist, was in dem Buch, Dora ist | |
Werbetexterin, auch die neue Arbeitswelt mit ihren Achtsamkeitsregeln und | |
Kommunikationsgeboten umfasst. | |
Und Bracken? Juli Zeh hält einem einige inkorrekte Stöckchen hin, über die | |
man sich aufregend springen kann, sogenannte ausländerfeindliche Witze vom | |
Nachbarn, Grillabende mit Nackensteaks ohne Beilage satt. Daneben bringt | |
sie einem aber auch die Dorfbewohner näher. | |
Da gibt es das selbstverständlich schwul lebende Paar, von denen der eine | |
sogar antifaschistisches Politkabarett macht. Da ist die alleinerziehende | |
Mutter Sadie, die nachts arbeitet und tagsüber auf die Kinder aufpasst, | |
deren Leben „nur noch aus Übermüdung und Sorgen besteht“, was in Dora den | |
Eindruck hervorruft, „als blickte sie auf die geheime Unterseite der | |
Nation“. | |
## Ganz Berlin dreht durch | |
In Berlin also: alle verrückt geworden. In Bracken: reale Menschen, mit | |
ihren Freuden und Sorgen. Zudem stellt sich heraus, dass das Haus, das Dora | |
gekauft hat, früher der Kindergarten des Ortes gewesen ist, mit dem Sadie | |
und auch Gote sentimentale Erinnerungen verknüpfen. Gewachsene (wenn auch | |
von der Politik vernachlässigte) Strukturen also im Gegensatz zum urbanen | |
Leben von Projekt zu Projekt. | |
Auf dem Fundament dieser Gegensätze fährt Juli Zeh die Plot Points auf, die | |
Dora letztlich zur Überzeugung kommen lassen, dass das wahre Leben auf dem | |
Land stattfindet. Ein Mädchen kommt ins Spiel, Franzi, die Tochter des | |
Nachbarn Gote. Sie verbringt, zunächst am Rande des Verwahrlosung, den | |
Sommer bei ihrem Vater, die Mutter hat Gote verlassen und ist weggezogen. | |
Wie es so ist: Zwischen Dora und diesem Mädchen entwickelt sich eine | |
Beziehung – was gut passt, weil Dora so ihre eigenen komplizierten | |
Kinderwünsche sowie ihr Verhältnis zu ihrer eigenen auch abwesenden, da | |
früh verstorbenen Mutter nachspüren kann. | |
Und Gote? Bei ihm spielt ein Hirntumor eine Rolle – was dramaturgisch auch | |
gut passt, weil erstens alle Menschen vor einem Glioblastom gleich sind und | |
zweitens Doras Vater Hirnchirurg ist. Sowohl bei der Schilderung des | |
Stadtlebens (dekantierter Rotwein in Charlottenburg, wokes Arbeitsleben in | |
Doras Werbeagentur) als auch der „Existenzgemeinschaft“ des Landlebens (im | |
Zweifel haben alle ein weites Herz, Rauchen ist überall erlaubt) können | |
einem Klischees auffallen. | |
## Am Reißbrett entworfen | |
Fast noch mehr stößt einem aber das gnadenlos Geplottete des wie am | |
Reißbrett entworfenen Romans auf. Selbst Doras Hündin namens Jochen | |
(kleiner Genderverwirrungswitz der Autorin) benimmt sich immer so, wie es | |
die Dramaturgie gerade braucht: Sie bleibt erst naturskeptisch und freundet | |
sich dann mit Franzi an. | |
Allmählich schält sich bei alledem heraus, was Dora und auch der Roman | |
selbst an diesem Gote schließlich so faszinierend finden, trotz und | |
allmählich jenseits der Nazifrage. Letztlich wird er wie ein von der | |
Zivilisation unangekränkelter „Wilder“ beschrieben. Er wirkt körperlich, | |
bis in den Geruch. Er verkriecht sich in einen Bauwagen, wenn er leidet, | |
und will von dem Leiden aber gleich nichts mehr wissen, sondern das Leben | |
genießen, wenn es ihm gut geht. Die Außenwirkung seiner Person ist ihm | |
egal. Er schnitzt Wölfe aus Holz. Er hat „treuherzige“ Augen. Er lebt | |
reflexionslos, vitalistisch nah am Leben, eine Existenz, der ihre eigene | |
Identität nicht fragwürdig ist. Damit ist er genau das Gegenstück zur | |
ständig grübelnden Dora. | |
Doch wie nah kommt man dieser Gote-Figur wirklich? Oder, ist Gote überhaupt | |
eine Figur und nicht in Wirklichkeit nur eine reichlich dick aufgetragene | |
Illustrierung von Doras Erkenntnis, dass man nie denken soll, selbst etwas | |
Besseres als seine Mitmenschen zu sein? Juli Zeh tut in diesem Roman | |
jedenfalls alles, um den „Ich bin hier der Dorf-Nazi“-Satz von der | |
Begrüßung zu relativieren. Gotes schwere Kindheit wird noch eingebaut. Und | |
eine, wie sich herausstellt, zu Unrecht erfolgte Verurteilung wegen | |
versuchten Totschlags an einem linken Paar auch. | |
## Würde und Eigensinn | |
Je länger man in dem Buch liest, desto erstaunter ist man darüber, was Juli | |
Zeh alles bereit ist aufzufahren, um dem Nachbarn Gote Würde und Eigensinn | |
zu geben, ihn bei aller Schroffheit zur Verkörperung der | |
Existenzverbundenheit auf dem Lande zu machen und die Frage, ob er nun ein | |
Nazi ist oder nicht, mindestens uninteressant, wenn nicht sogar falsch | |
erscheinen zu lassen. Die Wendungen, die der Roman dazu nimmt, grenzen an | |
emotionale Lesererpressung. „Über Menschen“ ist ein Rührstück. | |
Und das wirkt auf das Ganze der Erzählung vom Gegensatz von Stadt und Land | |
zurück. Es geht in diesem Roman alles viel zu gut auf. | |
24 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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